Belayem Tasaday Über das Projekt Die Vierte Wand
Als die Gruppe von 26 Leuten im Sommer 1971 zum ersten Mal Besuchern aus dem Westen ihre Höhlen im Regenwald von Mindanao, Philippinen zeigte, dachten diese, dass es nur ein immenser Zufall sein konnte, dass jemand im 20. Jahrhundert wie in der Steinzeit lebte, wo doch gerade einmal dreißig Meilen weiter eine Siedlung lag. Doch der dichte, bergige Urwald, so die Berichte, ließ die Gruppe der Tasaday so lange unentdeckt bleiben. Die Tasaday erklärten, der Wald sei ihre Welt, sie hatten Angst vor der Ebene, «wo das Auge zu weit sieht». Als NBC, National Geographic und der NDR im darauffolgenden Jahr Filmaufnahmen begannen, war einer von ihnen besonders oft vor der Kamera: Belayem, ein damals etwa Mitte zwanzig Jahre alter Mann, der unverheiratet war. Aufgrund seines Mienenspiels und seiner Fähigkeit, Erlebnisse mit besonders gut gemachten Gesten auszuschmücken, wurde er von dem Journalisten der NBC auch «Marcel Marceau der Steinzeit» genannt. So machte er bald die Fotografen und Kameraleute nach, die sich hier wie im Paradies fühlten und dazu beitrugen, einen menschlichen Zoo herzustellen. Belayem imitierte den Hubschrauberpiloten und den Pfeife rauchenden Redakteur oder – wie auf unserem Bild – den Fotografen. Auf den alten Videoaufnahmen wirkt er wie stets zu einem Spaß bereit. Bald war Belayem so geübt, vor den Kameras zu agieren, dass er vielleicht schon wusste, welche Gesten gut ankommen und mit welchen Aktionen er die Betrachter beeindrucken könnte. Und die Betrachter wussten, welche Aufnahmen sie in das Amerika des Vietnamkrieges und der Hippiebewegung senden mussten. Der Anthropologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt wollte sich nicht zum Narren halten lassen und filmte mit einem 90°-Spiegel vor der Linse, während er so tat, als würde er die Kamera testen. Auch der zwölf Jahre alte Lobo, der mit akrobatischen Schwüngen an den Lianen vor der Höhle beeindruckte, war ein gutes Motiv, bis die Nachfrage nach unberührtem Naturleben gesättigt war, und die Tasaday in Ruhe gelassen wurden.
Erst viele Jahre später richteten sich noch einmal Kameras aus dem Westen auf diese mimetischen Talente. Als 1986, nach zwölf Jahren der Isolation, die durch eine bewachte Reservation und den Ausnahmezustand während der Marcos-Diktatur entstand, ein Schweizer Journalist die Tasaday besuchte, behauptete er, sie hätten in den 70er Jahren ihren Steinzeit-Lifestyle nur gespielt. Sie seien Werkzeuge einer anderen Macht gewesen, die den Wald und die Aufmerksamkeit verwerten wollten. Dies sagten auch Lobo und andere Tasaday vor der Kamera im Interview. Tatsächlich eine interessante Vorstellung: 26 Bauern aus der Umgebung ziehen ihre Kleidung aus und beginnen in einer Höhle zu leben, sich vom Wald zu ernähren und sich lange Haare wachsen zu lassen – und dabei so zu tun, als ob sie es schon immer so getan hätten. Damit beeindruckten sie die westlichen Medien, um die Abholzung des Regenwaldes zu stoppen, sodass eine Reservation errichtet wird. Ein Streit entbrannte unter Anthropologen, und die philippinische Regierung musste offiziell erklären, dass die Tasaday authentisch waren. Die Meinung, alles sei ein Schwindel gewesen, hat sich allerdings gehalten: Heutzutage denkt die Mehrheit der Wikipedianer im Internet, dass die Tasaday im großen Stil inszeniert wurden. Das hat wahrscheinlich auch mit Belayem zu tun. Durch sein geniales Spielen und seine Possen in einem perfekten Filmset der natürlichen Höhle war es nur logisch, dass jemand sagen würde, dieses Bild sei «bigger than life», und deswegen falsch. Die Vorstellung, dass solch ein Leben gespielt werden kann und damit die Medien betrogen wurden, ist ja im übrigen viel spannender und wirkungsvoller als die romantische Vorstellung, im 20. Jahrhundert gebe es noch sogenannte Wilde. Charles Darwin übrigens, der auf seiner «Beagle» 1833 um Feuerland unterwegs war, kommentierte das Talent der dortigen Eingeborenen, Mimikry zu betreiben: «Alle Wilden scheinen in einem ganz ungeheuren Grade die Fähigkeit des Nachahmens zu besitzen.» Diese Gabe sei viel ausgeprägter als bei sogenannten «Civilisierten». Darwin macht dafür die besseren Sinne verantwortlich, man könnte eher die Notwendigkeit der mündlichen Überlieferung und die damit verbundenen erzählenden Gesten anführen.
Bei ersten Kontakten zwschen Ethnografen und isolierten Gruppen scheint es notwendig zu sein, zunächst bekannte Gesten vorzuspielen, um gegenseitig eine neue Zeichensprache zu erlernen. Darwin hätte vielleicht Pantomimen zu Malern und Schreibern auf seine Fahrten mitnehmen sollen, um besser kommunizieren zu können. Sollte also die hohe Kunst der Schauspielerei/Pantomime im Fall von Belayem nicht als Betrug, sondern als Beweis ihrer Echtheit als isolierte Wilde des 20. Jahrhunderts zu sehen sein? Dass man heutzutage nicht ganz glauben kann, dass eine Gruppe von Bauern überzeugend Steinzeitmenschen spielt, denke ich, wenn ich die Originalaufnahmen anschaue. Würde ein Schauspieler, der bereits spielt, dass er Steinwerkzeuge baut, auch noch Pantomime betreiben und somit eine noch theatralere Schauspielart in das naturalistische Spiel des Überlebens im Urwald weben? Vielleicht. So oder so war Belayem ein guter Schauspieler. Wenn alles falsch war, dann sogar noch mehr!
Oder beginne ich hier zuviel auf die Anderen zu projizieren, deren Spiel man immer verstehen will? Wieviel Suspendierung eines Glaubens an die bekannte Welt ist nötig, um an ein ergreifendes Schauspiel zu glauben?
Dieser und anderen Fragen gehe ich in meinem Projekt «Die Vierte Wand» nach, benannt nach der gleichnamigen unsichtbaren Mauer, die Zuschauer- und Bühnenraum im Theater trennt und so den Schauspielern helfen soll, sich ein naturalistisches Spiel zu erarbeiten. Das Projekt besteht aus sieben Kurzfilmen und Interviews, die in einer Ausstellung unter anderem diese Geschichte von ersten Kontakten erzählen.
Die Vierte Wand ab 22. Januar 2010 in der Galerie Koch Oberhuber Wolff KOW/Berlin