Gedächtnistheater Therapie im Virtuellen: Zu Harun Farockis Installation Immersion
Eine durch einen aktuellen Schock ausgelöste Symptomatik beschrieb schon Sigmund Freud am Beispiel von Soldaten des Ersten Weltkriegs als «Kriegsneurose». Im Kino gab es immer wieder Versuche, ein solches Phänomen darzustellen, das die Psychologie heute «posttraumatische Belastungsstörung» nennt. Einer der bezeichnendsten und wohl auch ersten stammt von John Huston. Wie Frank Capra hatte auch Huston angesichts des Zweiten Weltkriegs der US-Regierung seine Dienste als Filmregisseur zur Verfügung gestellt. Er realisierte 1946 für das amerikanische Kriegsministerium Let There Be Light, einen Dokumentarfilm, den die Auftraggeber in der Folge bis nach Ende des Vietnamkriegs unter Verschluss halten sollten.
Huston hatte in einer Militärklinik auf
Long Island Psychiater bei der Behandlung von amerikanischen GIs beobachtet, die schwer traumatisiert aus der Schlacht um die japanische Insel Okinawa zurückgekehrt waren. Er filmte mit mehreren Kameras den Heilungsprozess, während dessen die sprachgehemmten oder bewegungsgestörten Patienten über Gruppentherapie und Hypnose zum Ursprung ihres Symptoms gelangten, ja dieses sogar überwanden. Mit dem Film schuf Huston nicht nur eine dokumentarische Parallele zur populären Darstellung von Psychotherapien im amerikanischen Spielfilm der 40er Jahre, sondern gab darüber hinaus der Idee Ausdruck, dass der Film selbst zum Mittel solcher Therapien werden könnte. In seiner Autobiografie notiert der Regisseur später, dass selbst der Einschätzung der Ärzte zufolge die Kamera die Patienten zu stimulieren schien und weiter, «dass die Patienten, die gefilmt wurden, schneller Fortschritte machten als die der anderen Gruppen».
Waren im amerikanischen Film Noir Psychoanalyse und Hypnose ein populäres Motiv, so sind es im heutigen Spielfilm Methoden der Hirnforschung und der Psychiatrie, die sich auf den Einsatz von Techniken der Virtual Reality stützen. Harun Farocki ist es jüngst gelungen, Hustons dokumentarisches Projekt unter anderen Vorzeichen und mit anderen Mitteln zu realisieren, es in gewisser Weise kritisch zu radikalisieren und zu aktualisieren. Den Rahmen stellt ein Fortbildungsseminar für Militärpsychologen dar, das sich dem therapeutischen Einsatz von VR-Technologien widmet. Das Material bilden Schockerlebnisse amerikanischer Soldaten während des Irak-Einsatzes. Auch Farocki setzt auf die teilnehmende Beobachtung. Er filmt jedoch getreu seiner Brechtschen Methode nicht wirkliche Soldaten, sondern ein Seminar für Therapeuten, die Fälle von Kriegstraumatisierungen durchspielen. Durch dieses immer wieder von Rollenwechseln, pädagogischen Kommentaren und distanzierenden Selbsteinschätzungen unterbrochene Spiel werden – wie schon in Farockis großer Studie Leben – BRD von 1990 – die der medial gestützten Therapie zugrundeliegenden Regeln und Logiken offensichtlich.
Farockis Installation Immersion (2009) ist derzeit im Kölner Museum Ludwig als letzte Station eines großzügig und präzise angelegten Parcours durch eine Auswahl seiner Arbeiten für den Kunstraum zu sehen. Die digitale Doppelprojektion wurde vom Pariser Jeu de Paume und dem Leuvener stuk koproduziert. Sie läuft in einem etwa 20minütigen Loop und ist in Köln in einem offenen White Cube auf einem großen, zentral gehängten Flatscreen zu sehen. Davor steht eine Sitzbank, denn diese Arbeit ist in der Tat nicht an den eiligen Museumsbesucher gerichtet. Die beiden Videospuren sind nach der Logik eines Films geschnitten, nicht nur, was die Abfolge der Sequenzen betrifft. Der Abspann gibt dem Zuschauer einen wesentlichen Aufschluss über das Material: «Aufgenommen am 26. und 27. Januar 2009/Workshop für Psychologen der U.S. Air Force, Fort Lewis, Madigan Army Medical Center/Tacoma, Washington, USA».
Eintauchen in eine andere Materie
Dem aufmerksamen Betrachter ist freilich nicht entgangen, dass es sich hier um Rollenspiele handelt. Er ahnt, dass hinter diesem Installationsfilm weitaus mehr als zwei Tage Dreharbeit und ein paar Wochen Montage stecken, schon aufgrund der Präzision und der Qualität der Aufnahmen. Doch wird die Dimension der Recherche erst durch die im Abspann angeführten, im Film jedoch nicht sichtbar Mitwirkenden ablesbar: zahlreiche hochqualifizierte Vertreter medizinischer und technologischer Forschungslaboratorien, die im Bereich der Traumaforschung und der kreativen Technologien an der Zusammenführung von hochentwickelten digitalen Hilfsmitteln und traditionellen, am erzählerischen Sprechakt orientierten Therapieformen arbeiten.
Dass die heutigen Soldaten traumatisiert und mit einer ambivalenten Haltung aus dem Irak-Krieg zurückkehren, vermittelt uns eine private Bildkultur, der Brian de Palma mit Redacted einen ganzen Spielfilm gewidmet hat. Bei Farocki jedoch geht es weniger um den schmutzigen Kriegsalltag, als um die Analyse der Dispositive, über die der militärische und mit ihm der medizinische Apparat verfügt, um die Folgen solcher Traumata zu behandeln.
«Immersion» meint gemeinhin das physische oder virtuelle Eintauchen in eine andere Materie oder Realität. Innerhalb ästhetischer Theorien der Fiktion gerät dieser Begriff heute zum Unterscheidungskriterium verschiedener Künste und medialer Dispositive. Kunsthistoriker verstehen darunter vor allem räumlich den Betrachter einschließende Blickanordnungen wie das Rundpanorama, das vom Imax-Kino beerbt wurde. Die Filmtheorie wiederum interessiert sich spätestens seit André Bazins Essay «Der Mythos vom toalen Kino» (1946) für die Effekte verschiedener Bildtechniken, den Zuschauer verstärkt einzubinden. Der Film, so Bazin, bringe kraft seiner Repräsentationstechnik einen Realismus hervor, der sogar die zeitliche Irreversibilität aufzuheben imstande sei.
Während die französische Filmtheorie der 70er Jahre den sogenannten «Realitätseffekt» des Films noch einzig auf das klassische Kinodispositiv bezog, versucht die heutige Film- und Medienwissenschaft mit dem Begriff der «Immersion» die je verschiedenen, Körper und Geist mehr oder weniger mobilisierenden medialen Bildtechniken zu fassen. Farockis Doppelprojektion verweist mit ihrem Titel auf Formen digitaler Simulationsverfahren, die das audiovisuelle «als ob» als effektvollen Auslöser von Erinnerungsvorstellungen therapeutisch einsetzen: Im Zentrum steht das Eintauchen in traumatisierende Kriegsszenen. Während Farockis Installationen Auge/Maschine 1-3 (2001-2003) Funktion und Entwicklungsstand von sich mehr und mehr vom Körper verselbständigenden Überwachungstechnologien zeigen, geht es hier um die Bindung eines solchen Simulationsdispositivs an den Körper.
Reflexion statt Immersion
Die Installation Immersion macht anschaulich, wie ein Patient heute mithilfe einer Virtual-Reality-Brille samt Kopfhörer temporär an den Ort seines Traumas versetzt wird. Das Sprechen und Nachfragen ist dabei immer noch wesentlicher Teil einer Therapie, deren Prinzip mit Freud als Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten beschieben werden kann. Das VR-System entwickelt dreidimensionale Räume, mit denen die traditionelle Rahmung des Dargestellten abgeschafft und die Illusion des Eingebundenseins erzeugt wird. Der Betrachter der Installation ist selbst in keiner stark immersiven Situation. Er wird im Gegenteil immer wieder zur Reflexion über das parallel Gesehene herausgefordert. Er sieht nicht dreidimensional wie die Lernenden im Film, doch sieht er parallel zum Schauplatz der Therapie immer wieder über die Computerbilder den «anderen», simulierten Schauplatz des Kriegstraumas, nämlich Stadtteile oder Vororte von Bagdad. Während des Rollenspiels sitzt die «Therapeutin» an einer Art Mischpult, um mithilfe einer speziellen Software durch virtuelle Räume zu navigieren, die Computerkriegsspielen nicht unähnlich sind: Sie schafft räumliche und zeitliche, visuelle und akustische Übergänge. Während dieser Interaktion in Realzeit werden die Perspektiven gleichzeitig auch von den Körperbewegungen des «Therapierten» gesteuert. Dieser wiederum assoziiert zu den erzeugten Bildern und Tönen und erzählt im Präsens die schockierenden Geschehnisse. Farocki bildet über die spezifische Montageform von wechselnden und parallel gezeigten Einstellungen den Prozess der Steuerung ab. Wenn sich eine Szene insbesondere gegen Ende in einem langen Dialog zwischen «Psychologin» und «Soldat» an einem Punkt verdichtet, der dessen Trauma entspricht, setzt der digitale Bildfluss immer wieder aus. Die Worte entwerfen nun – ebenfalls stockend – das kaum Darstellbare.
Nach Ende des Rollenspiels erklärt die betreffende Teilnehmerin, dass diese Unterbrechung sowohl einer therapeutischen Logik wie einer mangelnden Beherrschung des Programms geschuldet ist. Insbesondere in dieser letzten Szene zeigt sich die immersive Situation als ambivalente Bewegung zwischen dem Hier und Jetzt des Zur-Sprache-Bringens und dem Dort und Damals des Kriegsschauplatzes. Was Christian Metz in den 70er Jahren als den Fiktionseffekt des klassischen Spielfilms in psychoanalytischen Begriffen der Verleugnung beschrieben hatte, nämlich als eine Zuschauerposition zwischen Glauben (an die Fiktion) und Wissen (um die Illusion), wird hier zum therapeutischen Kalkül.
John Huston erläuterte in seiner Autobiografie die vermuteten Gründe für die Zensur seines Filmes Let There Be Light: «Ich denke, es geht letztlich um die Tatsache, dass sie den ‹Krieger›-Mythos beibehalten wollten, der besagt, dass unsere amerikanischen Soldaten in den Krieg gezogen sind und alle durch die Erfahrung noch stärker zurückgekehrt sind, stramm stehend und stolz, ihrem Land wohl gedient zu haben.» Wenn es Huston also auch darum ging, auf die psychischen, nicht offensichtlichen Kriegsverletzungen und deren Nachhaltigkeit aufmerksam zu machen – der Film zeigt zwar einige spektakuläre und unmittelbare Heilungserfolge, präsentiert aber am Ende auch eine Ahnung davon, dass viele der Schäden bleibend sind –, dann verschiebt sich bei Farocki das pädagogische Interesse: Ihm geht es nicht nur darum, die Bearbeitung der Traumatisierung mithilfe neuer, medial gestützter Therapiemethoden zu zeigen, sondern vor allem darum zu sehen, welche Rolle der Film und seine digitalen Nachfolger in der Entwicklung dieser Methoden spielen. Zum effektvollen Gedächtnistheater kann diese virtuelle Welt wohl vor allem deshalb werden, weil lange davor die reale Welt schon ähnlich simuliert wurde, und zwar im Rahmen militärischer Übungen für den Kriegseinsatz.
Die Harun Farocki-Werkschau im Museum Ludwig/Köln läuft noch bis 7. März 2010