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Imperium der Menge Paul Pfeiffer macht mit seiner Installation The Saints die Entwicklung des Fußballs begehbar

Von Jochen Bordwehr

Das Maracana Stadion in Rio de Janeiro galt lange als eine klassische Fußballarena. Ein eher flach ansteigendes Oval aus Beton, mit Stehplätzen für bis zu 200 000 Menschen. Längst ist es umgebaut und bestuhlt worden, im modernen Fußball werden die Fans individuell identifiziert, und allen muss bei internationalen Spielen ein bestimmter Sitzplatz zugewiesen werden. Auf alten Bildern aus dem Maracana kann man noch einen Eindruck davon gewinnen, dass das antike Amphitheater mit seinen Steintreppen, auf denen man sich frei gruppieren konnte, ursprünglich das Vorbild für viele Fußballstadien war – ein Raum für die Polis, der anders konnotiert ist als das römische Kolosseum, bei dem wir an Gladiatorenkämpfe denken und an den gesenkten Daumen der Cäsaren. Manche Fußballfans werden sich an das Maracana erinnert fühlen, wenn sie die Skulptur Vitruvian Figure von Paul Pfeiffer sehen: ein Viertel eines idealen Stadions, ohne Banden und Absperrungen, eine perfekte Form für undifferenzierte Menschenmassen, leer und abstrakt und durch eine Spiegelkonstruktion so begrenzt, dass die fehlenden drei Viertel des Runds zumindest für das Auge ergänzt werden.

Die Vitruvian Figure, die mit ihrem Titel an den normativen Architekturtheoretiker der Antike erinnert, steht im Hamburger Bahnhof in Berlin im Herbst 2009 mit Bedacht am Eingang zu der neuen Installation des amerikanischen Künstlers, die seine bisher aufwendigste Auseinandersetzung mit der Spektakelkultur darstellt: The Saints ist zugleich Dekonstruktion und (rezeptives) Reenactment eines berühmten Fußballspiels, des Finales der Weltmeisterschaft 1966 im englischen Wembley-Stadion. England gewann damals nach Verlängerung mit 4:2 gegen Deutschland, der vorentscheidende Treffer durch Geoff Hurst beschäftigt bis heute die Fans und Experten. Es ist ein Faktum der Sportgeschichte, von dem es eine doppelte visuelle Evidenz gibt: während nämlich die Fernsehbilder nicht genau erkennen lassen, ob das Tor regulär war oder nicht, geht aus einem 35mm-Film, der von dem Spiel zusätzlich gedreht wurde, deutlich hervor, dass der Ball auf der Linie aufsprang und von dort ins Feld zurück. Paul Pfeiffer interessiert sich allerdings nicht für diesen sportlichen (und nationalen) Aspekt des Finales von 1966, Sieg oder Niederlage sind ihm egal, und schon gar nicht geht es ihm um eine telemetrische Analyse der Erfolgsparameter des Spiels, wie sie Harun Farocki in seiner auf der Documenta 2007 gezeigten Arbeit Deep Play auf verschiedenen Ebenen zugänglich gemacht hatte.

Pfeiffer zielt mit seiner Installation auf das Faktum, dass dieses Spiel eines des frühesten globalen Live-Ereignisse im Fernsehen war und damit wesentlich dazu beitrug, jene Publikumskultur hervorzubringen, der wir heute unweigerlich alle in irgendeiner Form zugehören. In den zwei Räumen, über die sich The Saints in seiner Berliner Installation erstreckt, werden verschiedene Facetten des «Live»-Erlebnisses aufeinander bezogen: Geräuschkulisse, Augenschein, Übertragung, Publikum. Die Arbeit erscheint als ein Katalog der installativen Möglichkeiten, und wenn man die vorgeordneten, nominell eigenständigen Arbeiten – das Video Empire, das über eine Dauer von drei Monaten ungeschnitten den Bau eines Wespennests in Großaufnahme zeigt, und die Skulptur Vitruvian Figure – hinzuzählt, dann wird The Saints vollends zu einer großen Anordnung über die Möglichkeiten der Montage von Medien im Raum. Empire ist im Hamburger Bahnhof noch im Treppenhaus zu sehen, hinter der Zugangstür öffnet sich eine Flucht aus drei hintereinander liegenden Räumen, die es zu durchschreiten gilt, um zu dem Bild zu gelangen, das allen davor wahrnehmbaren Daten den Grund und den Zusammenhang gibt – die schwarzweißen Fernsehbilder des Fußballspiels von 1966, geschnitten in einen auf 33 Minuten verdichteten Spielfluss. Davor muss man aber eben noch an der Stadionskulptur vorbei und einen langen Raum durchschreiten, der von Fanlärm bestimmt wird und der auf den ersten Blick leer zu sein scheint. Bald wird die Aufmerksamkeit jedoch auf einen Punkt an der Rückwand gelenkt, der sich beim Nähertreten als einer der winzigen Monitore erweist, die Pfeiffer schon seit einiger Zeit zu einer Trademark seiner Arbeit gemacht hat. Man muss ganz nahe herantreten, und ich musste auch ein wenig in die Knie gehen, um ausnehmen zu können, dass hier eine Aufnahme von dem Match von 1966 zu sehen, auf der allerdings nur ein einsamer Spieler zu sehen ist. Alle anderen und auch die Unparteiischen und der Ball wurden digital wegretouchiert.

Intime Monumentalität

Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, dass einen Raum weiter die «Auflösung» der Szene (und eine «Anreicherung» davon) warten, ist dies zuerst einmal ein starkes, wenn auch ein wenig didaktisches Zeichen: Ein Bild, das nicht mehr auf Spiel und Kampf verweist, aus dem die Kreativität und das Agonale entfernt wurden, wodurch das hörbare Engagement des Publikums sich verselbständigt, ganz so, als bräuchte es den Stimulus eines tatsächlichen Ereignisses gar nicht mehr. Die Attraktion ist aus dem Bild entfernt, so wie Pfeiffer auch schon einmal Marilyn Monroe aus einer Serie berühmter Strandfotografien entfernt hat oder Muhammad Ali aus einem von entfesseltem Publikum umlagerten Boxring. In diesem ersten Raum von The Saints montiert Pfeiffer Bild und Ton auf eine ganz und gar komplementäre Weise: der Ton zielt auf Monumentalität, Masse und Drama, das Bild auf Intimität, Vereinzelung und Monotonie. Der Raum dahinter integriert die heterogene Erfahrung aus dem ersten Raum wieder, allerdings kommen hier neue Dimensionen ins Spiel, denn die Übertragungsbilder von dem Fußballspiel sind ein Teil eines Diptychons, auf dessen linker Hälfte eine große Anzahl von Menschen in einem asiatischen Land (es sind die Philippinen, wie aus dem Begleittext zu erfahren ist) zu sehen sind, die in einem Kino ein spannendes Ereignis verfolgen. Diese Szene spielt offensichtlich in der Gegenwart, die Bilder sind allerdings so montiert, dass sie direkt als «reaction shots» auf das Geschehen des Fußballspiels von 1966 erscheinen müssen.

Pfeiffer konstituiert also ein Publikum, das sich über die historische Distanz hinweg live auf eine Live-Übertragung von 1966 bezieht. Die Paradoxien, die in dieser Tatsache liegen, machen die Spannung des Diptychons aus, denn die Bilder auf den beiden nebeneinander positionierten Leinwänden verhalten sich zueinander wie Reiz und Reaktion, allerdings ist dieses Verhältnis auf eine doppelte Weise trügerisch. Denn das Publikum von Pfeiffer ist sich seiner Rolle schon bewusst, es spielt ein Publikum und reagiert zwar auf dieselben Bilder, die auf der Leinwand rechts zu sehen sind, allerdings in einer prekären Weise: Die zuschauende Menge wird selbst zum Subjekt einer Show, sie inszeniert sich auf Anweisung des Künstlers als Zielgruppe eines weltweiten Unterhaltungshöhepunkts und kompensiert die eigene Verspätung einem ja nun nicht mehr spannenden Dokument gegenüber durch besondere Ausgelassenheit. Dass die Menschen auf den Philippinen sowohl die englische wie die deutsche Hymne (scheinbar) gleich innig mitsingen, ist ein besonders auffälliges Indiz dafür, dass Pfeiffer an die Stelle national geprägter Zuschauermärkte eine globale Rezeptionssituation setzt, die sich auf das Spiel selbst richtet und der gegenüber konkrete Anhängerschaft schon sekundär geworden ist.

Die koloniale Komponente, auf die Pfeiffer dabei deutlich anspielt, erklärt schließlich den Titel der Arbeit: The Saints. In Wembley spielte 1966 vor dem Match eine Blaskapelle den Gospelklassiker «Oh when the Saints Go Marching In», den das Publikum auf den Philippinen ebenfalls mitsingt und sich damit auf jeden Fall im weitesten Sinn in die Tradition des eschatologischen Empowerments der afroamerikanischen Sklavengesellschaft stellt. Um dies alles zu gewärtigen, muss ich aber zuerst einmal die Augen von den Übertragungsbildern des Fußballspiels abwenden und mich den auf den ersten Blick weniger interessanten Eindrücken von der philippinischen Masse zuwenden. Pfeiffer akzentuiert mit dem Diptychon noch einmal anders die Differenz zwischen Protagonisten und Publikum, im Raum davor hatte das Publikum mit seinem Lärm das Spiel mehr oder weniger ersetzt, hier bekommt das Publikum viele Gesichter und fällt damit wieder auf das Live-Ereignis zurück, weil es zu differenziert ist für eine Wahrnehmung, die nach Kriterien der Differenz auswählt. Aus neueren Live-Übertragungen von Fußballspielen wissen wir, dass die Regie inzwischen die «reaction shots» nahezu perfektioniert hat: sie dienen der Emotionalisierung des Spiels und der Visualisierung nationaler Klischees. Die Anordnung von The Saints macht das Ausstellungspublikum zu Regisseuren ihrer eigenen Übertragung, indem es durch Lenkung des Blicks jene Schnitte vornimmt, die in der Dynamik einer konventionellen Live-Übertragung so fließend erscheinen können, dass sie mehr oder weniger natürlich wirken.

Pfeiffer macht mit seiner Installation also im Grunde die Entwicklung des Fußballsports hin zu einem globalen Übertragungsgeschäft in den letzten vierzig Jahren begehbar – die Konstellation mit ihren Implikationen macht dabei wett, dass sich im Zentrum von The Saints ein schwaches Motiv befindet. Denn der einsame Fußballer, der auf einem winzigen Monitor über den Rasen trabt, stellt eine allzu kalkulierte Inversion der Attraktionen des Spiels (offener Raum und kollektive Bewegung) dar. Bei Pfeiffer löst sich diese Dynamik fast vollständig in Medialisierung und Rezeption auf, allein die Fangesänge und Anfeuerungschöre scheinen noch in einem direkten Kontakt mit der Dramatik des Spiels zu stehen. Man kann den Weg von The Saints deswegen auch wieder in die Gegenrichtung beschreiten, von Wembley 1966 über die suggerierte Live-Atmosphäre des Stadions zurück zur Vitruvian Figure, hinter der sich für den einschlägigen Fan eine tatsächlich Kultstätte verbirgt – das Maracana-Stadion, dessen mythische Strahlkraft nach The Saints zwar aufgeklärt, aber ungebrochen ist.

The Saints ist noch bis 28. März 2010 im Hamburger Bahnhof/Berlin zu sehen