Hectro Umbra Uli Oesterle
In den Straßen von München geistert der Wahnsinn. Er geht dort um, ebenso wie in den Parks, den Clubs und in der Untergrundbahn, mit der man bisweilen sogar ins Zentrum des Wahnsinns reisen kann, das zugleich ein Zentrum des Bösen ist. Denn das Böse ist in München angekommen. Es lauert und wartet und steht kurz davor, in die Köpfe derjenigen einzudringen, die sich durch die Clubs, Parks, Straßen und über die U-Bahnsteige bewegen.
Die Münchner selbst, so kann man vermuten, werden über diese Nachricht erfreut sein. Immerhin gehört es zu den Standardvorbehalten gegen ihre Stadt, dass ihr ein etwas zu ausgeprägter Sinn für die gefällige Oberfläche eigen ist und, damit verbunden, ein gewisser Mangel an Abgründigkeit. Dieser Vorbehalt bekümmert die Münchner, jedenfalls die, die auf einer Dimension des «Nicht-nur-Blauweiß-und-Oktoberfest-und-Fasching-und-Maximilianstraße» insistieren, und denen mit der Geschichte von Hector Umbra und seinen toten und lebendigen Freunden einiges Material an die Hand gegeben wird, um Außenstehende mit dem Münchner Grauen zu konfrontieren.
Das Grauen trägt das Gesicht von Wachturmverkäufern, Waisenhausdirektorinnen, Fernsehzicken und armen Besessenen sowie, in seinen subtileren Formen, der Toten, die noch nicht ganz aus der Welt sind, Nachrichten auf Anrufbeantwortern hinterlassen und sich im «Café Jenseits» zum Gespräch mit ihren diesseitigen Freunden verabreden. Es trägt auch, weniger subtil, das Gesicht der Extrazerebralen, externalisierten und von ihren verbrauchten Wirten abgekoppelten Wahnvorstellungen, deren Anführer zu etwa gleichen Teilen nach dem Vorbild von Darth Vader und Joseph Goebbels gestaltet scheint, während die Gefolgschaft an Cronenberg- und Alien-Filme erinnert, durchsetzt mit einigen Reminiszenzen (lokal-spezifischen Reminiszenzen, wenn man so will) an die bösartigeren Karikaturen von Olaf Gulbransson.
Wie kaum anders zu erwarten, stehen die Extrazerebralen zu Beginn des Comics im Begriff, die Herrschaft über die Stadt München zu übernehmen – und von München aus die über die Welt, ähnlich wie jene andere Organisation, mit der sie auch die schwarzweißroten Armbinden und ein sehr entschlossener Führerkult verbinden. Die Herrschaft der Zerebralen zu verhindern, wird die Aufgabe des Helden Umbra sein, der dafür zwei Mal zu den Toten reist und zwei Mal wieder zurück, dazwischen einen Club, einen Rave und eine Reihe von Kneipen aufsucht, der U-Bahn fährt, an sonderbaren Stationen aussteigt und ansonsten eine Stadtlandschaft durchwandert, in die immer wieder Panels mit Münchner Wahrzeichen eingestreut werden, als gelte es, den Wiedererkennungseffekt in regelmäßigen Abständen zu erneuern.
Ein Trip, so werden solche Wanderungen gerne bezeichnet. («Trip» als Sammelbegriff für das Motiv der Reise, die existenzielle Erfahrung, die Gefahren, die Anstrengung, und die außergewöhnlichen Bewusstseinszustände, durch welche die Reise weniger begleitet als ermöglicht wird.) Eine Trauerarbeit ist Hector Umbras Trip außerdem, langer Abschied und rite de passage aus der postadoleszenten Welt der Clubs und Bartresen in den proto-familialen Status der festen Beziehung und stellvertretenden Vaterrolle, weshalb es sich, alles in allem, auch um eine eher konservative Geschichte handelt, inklusive der etwas verschwitzten Bohème-Romantik und der ganzen männerbündischen Seligkeit von Whiskey, Weibern, Abstürzen, Boxkämpfen, Freundschaft bis in den Tod und dem letzten Bier im Kühlschrank.
Formal kann man diesen Comic dennoch lieben, mehr als seinen Protagonisten, der immerhin eine vage Ähnlichkeit mit der größten aller Pastiche-Heldinnen, Mlle Adèle Blanc-Sec aus den Comics von Jacques Tardi, besitzt. Mit Adèle verbinden Hector Umbra seine roten Haare, die abgerissene Eleganz, die Nähe zur Bohème, die unerbittliche Neugierde, der investigative Ehrgeiz. Wie Adèle ist er Hauptfigur einer Story, die als Genre-Melange und -Pastiche erscheint: ein wenig Detektivroman, ein wenig Horrorgeschichte, viel Verschwörungstheorie und etwas Science Fiction. Ebenfalls wie Adèle ist es ihm bestimmt, den protagonistischen Status mit der Stadt zu teilen, die als Schauplatz seiner Investigationen figuriert: bei Tardi das Paris der Jahre 1911 bis 1922, unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg, bei Oesterle eben München, um das Jahr 2002, im Zustand der Katerstimmung, die die 90er hinterlassen haben. Und wie Adèle wird Umbra von seinen Investigationen durch ein Szenario geführt, das mit den Versatzstücken populärer Kultur und Mythologie vollgemüllt ist. Für Adèles Paris heißt das: Geheimbünde, schreckliche Apparaturen, Mad Scientists, sprechende Mumien, Meisterdiebe, Zeppeline, Orientalismen und Große Oper. Für das München des Umbra-Comics: Geheimbünde, schreckliche Apparaturen und Retro-Futurismus, aber auch Raves, Tattoos, Mode von gestern, Nazi-Filme (und Alien und StarWarsund Cronenberg), Plattensammlungen, Jägermeister, die U-Bahn als labyrinthischer Schauplatz (Subway, Moebius, Kontroll) etc. In diesem Setting findet sich Hector Umbra einigermaßen zurecht, die Leser auch. Entsprechend entsteht Komplizenschaft in diesem Comic nur bedingt durch die Bewegung der Investigation und mindestens ebenso sehr durch das kulturelle, mehr oder weniger exklusive Wissen, das sie grundiert.
Da die Story düster erscheinen soll, sind es auch die Farben, von derselben transluzenten Qualität wie die der klassischen Ligne Claire, aber wie eingedunkelt, grau abgemischt bis hin zu einzelnen Episoden, die ganz in Schwarzweißgrau oder in Schwarzweißgraugrün gehalten sind. Eine reduzierte Palette, vor allem aber eine eingetrübte, womit Oesterles Zugriff auf die Tradition der Ligne Claire auch sonst ganz gut beschrieben ist. Immer noch sind die Farben klar verteilt, die Schattierungen minimal, die Linien deutlich gezogen, doch haben sie bereits begonnen, sich zu verzerren, unregelmäßig zu werden oder schadhaft, wie um die Auflösung, in der sich der Protagonist und seine Stadt befinden, anschaulich zu machen. Etwas plakativ ließe sich erklären, dass die Modifikationen am properen Image der Stadt München, die den wilden Plot von Hector Umbra bestimmen, ihre Entsprechung in den Modifikationen am properen Erscheinungsbild der Ligne Claire finden. Allerdings gestalten sich letztere viel interessanter, behutsamer auch, was ihrem Effekt keineswegs abträglich ist.
Das Nachleben der Ligne Claire ist ein Phänomen für sich, die Diversität dieses Nachlebens erst recht: von den frühen Arbeiten Tardis über die durchgedrehten Welten eines Joost Swarte (der den Begriff der «Ligne Claire» für die Comics von Hergé erst geprägt hat), Ted Benoît, Floc’h etc. bis zu Stéphane Heuets Langzeitprojekt einer Comic-Adaption von Prousts Recherche und, am anderen Ende des Spektrums, Rutu Modans Exit Woundsvon 2007. Mit den meisten dieser Publikationen teilt Hector Umbra den Rekurs auf das Hergé-Motiv der Investigation (Geheimnis, Verschwörung, Abenteuer etc.), mit einigen das Klischee des höchst unvollkommenen Helden, mit einigen weiteren die Verkehrung einer vermeintlich heilen in eine vermeintlich finster gewordene Welt. Am Ende wird München noch einmal gerettet sein, aber von der Herrschaft der Zerebralen nicht ganz befreit; die Menschheit lebt weiter, dies aber teils im Wahnsinn und teils im Fernsehzimmer des «Café Jenseits», wo auf dem Bildschirm, hoch lebe die Freundschaft, ein letzter Jägermeister getrunken wird.
Uli Oesterle: Hector Umbra (Carlsen Verlag 2009)