Für Andere Sprechen Über Spike Jonzes Drehbuchpartner Dave Eggers und sein neues Buch Zeitoun
Als im Jahr 2000 A Heartbreaking Work of Staggering Genius (Simon & Schuster) zu einem von der Kritik gefeierten Bestseller wurde, kannte kaum jemand den Autor dieser fiktionalisierten Autobiografie, deren Held nach dem Tod seiner beiden Eltern als 21jähriger mit einem Mal seine Lebensplanung umwerfen und die Verantwortung für seinen kleinen Bruder übernehmen muss. Wie einfach hätte der 1970 geborene Dave Eggers zu einem Opfer dieses spektakulären Erfolgs werden können, zu einem Autor, der nicht mehr davon los kommt, in seiner creative non-fiction der zerrissenen Gefühlswelt einer US-amerikanischen Generation um die Jahrtausendwende auf literarisch äußerst selbstreferentielle und stets ironisch gebrochene Weise Ausdruck zu verleihen. Um diesem Risiko zu entgehen, folgt Eggers der alten Broker-Maxime diversify!
In San Francisco gründet er den Verlag McSweeney’s, der neben Büchern verschiedene Periodika herausgibt. Unter dem Namen 826 Valencia finanziert er dort, später auch in anderen Städten, Zentren, in denen Schüler aus benachteiligten Gegenden ihre Schreibfertigkeiten verbessern und gemeinsam an Zeitungen arbeiten können. 2006 veröffentlicht er nach einigen literarischen Texten mit What Is the What. The Autobiography of Valentino Achak Deng (McSweeney’s, 2006) einen auf Gesprächen mit Deng basierenden «Roman» über dessen Schicksal als Flüchtling aus dem sudanesischen Bürgerkrieg (es heißt, Tom Tykwer plane eine Filmfassung, eventuell als Mini-Serie). Auch um dieses neue Genre der human rights novel zu fördern, startet er mit der Berkeley School of Journalism das Programm Voice of Witness, eine Art oral history-Projekt, das den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in dokumentarischen sowie literarischen Formen eine Stimme geben soll. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Vendela Vida, schreibt er das Drehbuch zu Sam Mendes’ Away We Go (2009). Und auf der Basis von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker erarbeitet er mit Spike Jonze das Drehbuch für dessen Film Where the Wild Things Are (2009). Zeitgleich erscheint eine wunderbare novelization der Erzählung unter dem Titel The Wild Things (McSweeney’s, 2009).
Vermutlich muss einen der Verdacht beschleichen, dass mit einem Autor, der vom Christian Science Monitor bis zu Salon.com auf so gut wie ungeteilte Begeisterung stößt, etwas nicht stimmen kann. Ist Eggers, «the boy wonder of good intentions» (New York Times), vielleicht doch Opfer des Hype und seiner eigenen Diversifizierungsstrategie geworden? Eine solche Diagnose würde verkennen, dass Eggers fast alles richtig macht, ob er nun einen Roman, ein Sachbuch oder ein Kinderbuch für Erwachsene schreibt, und dass er es jenseits seines literarischen Talents auf entwaffnend offene Weise ernst meint mit dem ethischen und politischen Einsatz, den er darin sieht.
Im Kanu gegen Katrina
Jüngstes Beispiel für diese Verknüpfung von literarischem Können, journalistischem Ethos und politischer Sensibilität ist Zeitoun (McSweeney’s, 2009), Eggers’ Rekonstruktion der Geschichte Abdulrahman Zeitouns, eines aus Syrien stammenden US-Amerikaners. Zeitoun leitet gemeinsam mit seiner aus Louisiana stammenden und zum Islam konvertierten Frau Kathy in New Orleans einen Malerbetrieb – Zeitoun A. Painting Contractor LLC. Seine Töchter treiben ihn damit in den Wahnsinn, dass sie Pride and Prejudice schon so oft angesehen haben, dass sie den Film nachspielen können. Eggers gelingt hier gleich zu Beginn etwas (aus deutscher Perspektive) Erstaunliches: Wie es vielleicht nur in den Vereinigten Staaten möglich ist, wird die Tatsache, dass die Zeitouns eine Familie gläubiger Moslems sind, dass Abdulrahman fünfmal am Tag betet und Kathy ein Kopftuch trägt, und sie doch das Leben einer all-American family führen, ganz nebenbei und wie selbstverständlich eingeführt, ohne Diskurse um Integrationsdefizite und Parallelgesellschaften auch nur in kritischer Absicht aufzurufen.
Ende August 2005 will die Familie, wie Tausende andere auch, ihre Alltagsroutinen zunächst nicht unterbrechen, nur weil wieder einmal eine Hurrikanwarnung herausgegeben wird. Als Kathy und die Kinder angesichts der immer dramatischeren Prognosen doch flüchten, zunächst zu Verwandten nach Baton Rouge, dann zu Freunden nach Phoenix, bleibt Zeitoun zurück. Er will nicht nur ein Auge auf das Haus und die verschiedenen Baustellen werfen, sondern hält es für eine Art Familientradition, dem Wetter nicht so schnell nachzugeben.
In der Nacht des 28. August erreicht Katrina New Orleans. Der Schaden ist enorm, aber nicht katastrophal. Das wenige Wasser auf den Straßen ist am Abend des 29. bereits abgeflossen, und Zeitoun versucht, seine Familie zur Rückkehr zu überreden. Am nächsten Morgen aber wacht er zum Geräusch fließenden Wassers auf. Zwei Tage nach dem Sturm haben die Deiche dem Druck nicht länger standgehalten – «he knew the flood had come». Zeitoun rettet einige Habseligkeiten in den oberen Stock, muss sein Eigenheim ansonsten aber den Wassermassen überlassen, die das untere Geschoss schnell eingenommen haben, obwohl das Haus in einem eher sicheren Teil von New Orleans steht.
Die menschenleere und vollkommen ruhige Stadt in einem Kanu zu durchqueren, das er vor einer Weile gekauft, bisher aber kaum genutzt hatte, gibt ihm das Gefühl, ein Entdecker zu sein. Er findet sich inmitten einer postapokalyptischen Szenerie wieder, mit Tausenden von überschwemmten Autos und Millionen von ertrunkenen Tieren unter der Wasseroberfläche, in einem «disaster mythical in scale and severity». Bald trifft er auf Freunde und Bekannte. Sie helfen einer in ihrem Haus eingeschlossenen, knapp unter der Zimmerdecke auf dem Wasser treibenden 80jährigen und müssen schnell realisieren, dass die wenigen in der Stadt befindlichen Polizei- und Militärkräfte nicht besonders gewillt sind, sich als Freund und Helfer zu betätigen.
In seinem Kanu dreht Zeitoun seine Runden, hilft jenen, die die Stadt nicht verlassen wollten oder konnten, und versorgt zurückgelassene Hunde mit Fleisch aus seinem Gefrierfach. In seiner Stadt, die in den Medien (auch aufgrund von Fehlinformationen durch lokale Autoritäten) mit kaum verhohlenem Rassismus als Ort der totalen Rechtlosigkeit in der Hand marodierender Banden – quasi als Dritte-Welt-Slum mitten in der Zivilisation – präsentiert wird, sieht sich Zeitoun selbst immer mehr in der Rolle eines von Gott Erwählten, dem die Aufgabe zugefallen ist, zu helfen, wo er kann.
Surviving Justice
Eine Woche nach dem Hurrikan wird die Lage immer unerträglicher, statt sich zu verbessern; Zeitoun ist kurz davor, zu seiner Familie zu fahren. Bevor er diese Entscheidung treffen kann, sehen er und drei seiner Bekannten sich in einem seiner Mietshäuser aus heiterem Himmel mit einer bunten Truppe schwer bewaffneter Nationalgardisten, Polizisten und – ja, tatsächlich – Söldnern konfrontiert. Nach der ziemlich unsanften Verhaftung – wie sich später herausstellt, werden sie für Plünderer gehalten – werden sie zunächst in einem improvisierten, aus Käfigen bestehenden Freiluft-Gefängnis in einem Busbahnhof in der Nähe des Superdome inhaftiert. In Camp Greyhound werden sie ohne Anklage festgehalten, nachts von dem ohrenbetäubenden Lärm des Stromgenerators am Schlafen auf dem nackten Fußboden gehindert, hilflose Zeugen der Misshandlung der Gefangenen durch das Wachpersonal.
Nach einigen Tagen wird Zeitoun kommentarlos in das Elayn Hunt Correctional Center, ein Hochsicherheitsgefängnis in Louisiana, verlegt, wo er weitere 20 Tage ohne Verfahren und dringend nötige medizinische Versorgung verbringt. Die gesamte Zeit über haben die Gefangenen nicht nur keinen Rechtsbeistand, sondern auch keinerlei Möglichkeit, Kontakt mit ihren Familien aufzunehmen. Zeitouns Frau Kathy sieht sich nach Wochen ohne Nachricht von ihrem Mann gezwungen, sich Gedanken um die Auszahlung seiner Lebensversicherung und einen Neuanfang zu machen. Als sie, vermittelt über einen im Gefängnis arbeitenden Missionar, endlich erfahren, wo er ist, sind seine Verwandten in Syrien verständlicherweise fast noch besorgter. Erst nach und nach prozessiert das System, in dem es keinerlei transparente Verantwortlichkeiten zu geben scheint, dass ein Fehler vorliegt, dass Zeitoun vermutlich kein Plünderer ist und dass auch die Verdächtigungen der Wärter – «You’re Taliban!» – nicht zutreffen.
In seiner Zeit in Gefangenschaft wird Zeitoun von der Ungewissheit, den Schikanen und der Schlaflosigkeit zermürbt; er macht sich Vorwürfe, seine Familie im Stich gelassen und seine eigene Rolle maßlos überschätzt zu haben. Nun ist er nicht mehr als «a man in a cage, hidden away, no longer part of the world». Zurück in die Welt gelangt er erst nach einem ebenso banalen wie erlösenden Anruf aus dem zuständigen Department of Homeland Security («We have no more interest in him.») und einer weiteren administrativen Odyssee. Auch seine drei Begleiter werden letztlich freigelassen – nach fünf- bis achtmonatiger Haft. Sie bleiben trotz ihrer anerkannten Unschuld ohne Entschädigung.
Die Geschichte ist unfassbar und man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es sich hier nicht um eine fiktive Erzählung handelt. Eggers, der sich auch schon vorher für die «Überlebenden» des US-amerikanischen Rechtssystems interessiert und deren Schicksale im Sammelband Surviving Justice: America’s Wrongfully Convicted and Exonerated (McSweeney’s, 2005) dokumentiert hatte, führt in seiner Erzählung von Zeitouns Geschichte die beiden schlimmsten policy disasters der Bush-Ära zusammen – den war on terror und das Systemversagen in New Orleans. Beide verschränken sich in der fatalen Entscheidung, mit einer quasi-militärischen Operation, deren erstes Ziel die Herstellung von law and order ist, auf eine durch Politikversagen herbeigeführte humanitäre Katastrophe zu reagieren. Wenn dann noch im Irak oder Afghanistan im Häuserkampf eingesetzte Soldaten nach New Orleans geschickt und von den Medien und ihren Befehlshabern auf das Schlimmste vorbereitet werden, ist die Katastrophe nach der Katastrophe eigentlich vorprogrammiert. Die institutionellen Voraussetzungen hierfür hatte George Bush 2003 geschaffen, indem er die Federal Emergency Management Agency (FEMA) – von Eggers als die vermutlich dysfunktionalste Organisation der amerikanischen Geschichte porträtiert – zu einem Teil des Department of Homeland Security machte und ihren Direktor aus dem Vorstand der International Arabian Horse Association rekrutierte.
Angesichts dieser Tatsachenlage kann sich Eggers, wie schon Spike Lee in seinem wichtigen oral-history-Film When the Levees Broke (2006), auf die Wiedergabe des Erlebten beschränken und muss gar nicht zu – ebenso berechtigten wie hilflosen – Beschimpfungen der zwischen Indifferenz, Bösartigkeit und Unfähigkeit schwankenden Repräsentanten des Systems greifen. Wir bekommen aus der Perspektive Zeitouns den Zusammenbruch des Rechtssystems vorgeführt, der Tausende in einen unwahrscheinlich kafkaesken Apparat sperrt, «doing Katrina time». Sie dürfen am eigenen Leib erfahren, dass auch durch die Verfassung «garantierte» Rechte nicht viel zählen, wenn der politische Wille fehlt und die Öffentlichkeit mit entsprechenden «Ausnahmesituationen» zu leben gelernt hat.
Politik der Leihstimme
Eggers ist auf das Schicksal der Familie Zeitoun durch das von ihm mit initiierte Projekt Voices from the Storm gestoßen; für sein Buch, das Jonathan Demme als Animationsfilm zu adaptieren plant, hat er über drei Jahre Gespräche geführt und recherchiert. Auch wenn es ihm gelingt, sich als Autor so gut wie zum Verschwinden zu bringen und eine Art Bauchredner für Kathy und Abdulrahman Zeitoun zu werden – «It’s an effort to disappear into the narrative», sagt Eggers in einem Interview –, bleibt das Sprechen/Schreiben-für-andere freilich ein literarisch wie politisch heikler Akt. Verleiht Eggers ihnen erst eine Stimme – seine Stimme? – oder gibt er ihrer Stimme bloß ein Forum und verschafft ihr dank seiner Sprecherposition nicht nur ein Publikum, sondern auch eine gewisse Autorität? Der Einwand, damit würden die Akteure entmächtigt, geht angesichts der faktischen Funktionsweise des Diskurses jedoch ins Leere, denn das Sprechen/Schreiben-für-andere lässt sich ebenso wenig vermeiden wie es per se politisch reaktionär ist. Solche Überlegungen wirken zudem seltsam akademisch, wenn man die Zeitouns in Interviews den kooperativen, ihnen das letzte Wort einräumenden Schreibprozess schildern hört: «Allah sent Dave from the sky to write this story.»
Am Ende des Buches fährt Zeitoun im Van durch seine Stadt; kommt er an den zahlreichen großen und kleinen Zeichen des Wiederaufbaus vorbei, lächelt er: «Build, he thinks. Build, build, build.» Der Fortschritt, so denkt er, ist manchmal furchtbar langsam, aber trotz aller Rückschläge kann er unsere Befürchtungen widerlegen und unsere Hoffnungen übertreffen. Inschallah.