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Eine andere Genealogie Cinéastes africains, das frühe afrikanische Kino auf DVD

Von Nikolaus Perneczky

Cinéastes Africains, Vol. 1

© Arte Video

 

Wer das afrikanische Filmschaffen, egal ob aktuell oder historisch, von Deutschland aus erschließen möchte, tut gut daran, französisch zu lernen. Denn an den vereinzelten deutschen oder anglophonen DVD-Veröffentlichungen wird man beim besten Willen nicht satt. Obschon einiges Festivalkino, das Neueste von Abderrahmane Sissako, Mahamat-Saleh Haroun, Fanta Régina Nacro oder Haile Gerima seinen Weg zu verdienstvollen Labels wie trigon-film oder Artificial Eye findet, kann von einer auch nur im Ansatz systematischen Erschließung bislang leider keine Rede sein. Ebendies unternimmt nun eine bei ARTEVideo erschienene, ausschließlich französisch untertitelte DVD-Box mit dem Titel «Cinéastes africains».

Die um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kanonisierung und Exploration bemühte Auswahl konzentriert das frühe afrikanische Kino auf vier DVDs respektive sieben Filme. Wie so oft wird auch hier Ousmane Sembènes Borom Sarret (Senegal, 1962), den einschlägige Filmgeschichten des subsaharischen Afrika einhellig als Grundstein rubrizieren, zugrunde gelegt und mit zwei weiteren, nicht minder paradigmatischen Arbeiten desselben Regisseurs, La Noire de … (1966) und Mandabi (1968), befestigt. Anstatt aus diesem genealogischen Ursprung nun aber eine Traditionslinie zu extrapolieren, die alles ihrem Gründervater schuldet, macht sich Cinéastes africains um eine Handvoll weniger bekannter Autoren verdient, denen es zum Teil erst infolge ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren gelungen ist, aus dem überlebensgroßen Schatten Sembènes – und der mit diesem Namen verbundenen Konfiguration von Politik und Ästhetik – herauszutreten. Die Zusammenstellung von Oumarou Gandas Cabascabo (Niger, 1969) und Le Wazzou Polygame (1972), Moustapha Alassanes Le Retourd’un Aventurier (Niger, 1966) und Jean-Pierre Dikongué-Pipas Muna Moto (Kamerun, 1974) eröffnet eine neue Perspektive auf die Erbschaftsverhältnisse des frühen afrikanischen Kinos, die Sembène, ohne seine Schlüsselrolle zu negieren, von dem überzogenen Anspruch befreit, eine universelle und für nachfolgende Generationen von Filmemachern verbindliche Blaupause geschaffen zu haben.

Indes generiert auch diese mit Umsicht getroffen Auswahl ihre konstitutiven Auslassungen. Die Ursprünglichkeit von Borom Sarret etwa beruht auf der Marginalisierung von Paulin Soumanou Vieyras Afrique-sur-Seine (F, 1955), der die afrikanische Diaspora im Paris der 50er Jahre zum Gegenstand hat. Vom selben, nämlich: territorialen Geist ist die geografische Eingrenzung auf Filmländer, die aus ehemaligen Besitzungen des kolonialen Frankreich hervorgegangen sind, wenngleich sich hierfür auch statistische Gründe anführen lassen: Senegal, Niger und Kamerun produzierten im besagten Zeitraum schlicht mehr Filme als Ghana, Nigeria oder Uganda. Die Abwesenheit eines Djibril Diop Mambéty mag dem Umstand geschuldet sein, dass sein Werk verhältnismäßig gut auf DVD erschlossen ist. Dass so maßgebliche Positionen wie Med Hondos experimentell entfesselter Schmerzensschrei in SoleilÔ (F/Mauretanien, 1969) oder Safi Fayes behutsame Revision des Ethnografischen im meisterlichen Kaddu Beykat (Senegal, 1975) nicht vertreten sind, ist im Hinblick auf die Verfügbarkeit afrikanischer Filmgeschichte ein echtes Manko, beider Veröffentlichung ein dringliches Desiderat.

Das Modell Sembène

Über Sembène ist viel geschrieben worden, von allen afrikanischen Filmemachern ist er vermutlich der letzte, um dessen Vermächtnis man sich sorgen muss. Sein unangefochtener Status als Gründervater rührt nicht allein daher, dass es sich bei Borom Sarret um eine Pionierleistung handelte, sondern hat auch und vor allem mit dem originären und in der Folge äußerst einflussreichen Erzählmodell zu tun, das er darin erstmals erprobte: Sozialer, womöglich didaktischer Realismus, ausgespielt auf einem offenen Feld, das ebenso mit der abschweifenden, mehrschichtigen Oralität des griot in Verbindung gebracht werden kann wie, in eurozentrischer Wahrnehmung, mit der dramaturgischen Folie des Stationendramas. Der realistischen Anlage gemäß erscheinen Sembènes Figuren zwar zunächst oft «wie aus dem Leben gegriffen», geben sich in Momenten forcierter Zeichenhaftigkeit jedoch als allegorische Kippfiguren des postkolonialen Senegal zu erkennen. Sembènes Bedeutung, die nicht zuletzt auf seinem Plädoyer für die mégotage – von mégot, franz. für «Zigarettenstummel»: eine Produktionsweise, die aus materieller Not die Tugend kultureller Eigenständigkeit macht – fußt, kann nicht zu gering veranschlagt werden. Das Augenmerk wird im Folgenden dennoch auf den vergleichsweise unbekannten Namen Ganda, Alassane und Dikongué-Pipa liegen.

Die steinernen Anfänge des afrikanischen Kinos illustrieren beispielhaft, wie über Jahrzehnte institutionalisierte Abhängigkeitsverhältnisse die formale Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien überdauerten. So machten sich die Nachwirkungen der paternalistischen und rassistischen Kulturpolitik Frankreichs bis weit in die postkoloniale Ära bemerkbar. Da Afrikanern und Afrikanerinnen der Zugang zu hoch qualifizierten Tätigkeiten wie Kameraführung, Tonaufnahme oder Schnitt versperrt gewesen war, herrschte nun ein eklatanter Mangel an Fachkräften. Einige gab es aber doch, und das ist ausgerechnet dem Doyen des ethnografischen Films Jean Rouch zu verdanken, der bereits in den 1950er Jahren, als er seine Darsteller im Gebrauch einer tragbaren 16mm-Kamera anwies, mit der hierarchischen Zuordnung von Sehen und Angesehenwerden gebrochen hatte.

Spielerischer Ernst, ernstes Spiel

Unter Rouchs Schülern befand sich der spätere Filmemacher Alassane, dessen Erstlingswerk sich so ziemlich allen Ordnungsschemata widersetzt, die der kanonischen Historiografie des frühen afrikanischen Kinos zu Gebote stehen. Wenn die Filme von Sergio Leone Spagettiwestern sind, dann verdient Le Retourd’un Aventurier, in Anlehnung an das gleichnamige nigerische Nationalgericht, als eine Art Foura-Westernparaphrase bezeichnet zu werden. Sie handelt, wie so viele westafrikanische Filme dieser Zeit, von einem, der auszieht, das Glück zu suchen – als Boy in den Metropolen Afrikas, als Straßenfeger in Paris oder als Soldat im Indochinakrieg. Meist kehren diese jungen Männer, selten auch Frauen, mit leeren Händen in ihre Heimatdörfer zurück. Nicht so in Le Retourd’un Aventurier. Der Rückkehrer hat von seiner Reise in die Vereinigten Staaten einen Koffer voller Stetson-Hüte, kniehoher Lederstiefel und anderer Western-Versatzstücke mitgebracht und verteilt sie unter seinen Freunden, die sich mit ausgelassener Spielfreude Namen wie Jimmy und John sowie den dazu gehörigen Habitus aneignen. Während die Grenzen zwischen Rollenspiel und Ernst verschwimmen, werden die Widersprüche zwischen nigerischer Tradition und okzidentalen Einflüssen immer handgreiflicher – und ihr Ausdruck immer gewalttätiger.

Die wirtschaftliche Öffnung nach Erlangung der Unabhängigkeit bereitete dem Einzug US-amerikanischer und indischer Genrefilme, die über Jahrzehnte die sporadischen Kinolandschaften Westafrikas dominieren sollten, den Boden. Da nimmt es nicht wunder, dass Alassane den Konflikt zwischen nigerischer Tradition und westlicher Moderne auf der Folie des Western entwickelt. Obwohl die jugendlichen Cowboys in Le Retourd’un Aventurier nur Unheil anrichten, ist der Film alles andere als ein antimoderner Reflex. Allerorten macht sich eine tiefe Ambivalenz gegenüber der Modernisierung bemerkbar, und während die Handlung gegen Ende einen moralisierenden Tonfall anstimmt, widerspricht ihr die Tonspur ganz entschieden, indem sie nigerische und US-amerikanische Musiktraditionen (Country!) aufs Versöhnlichste hybridisiert. Vis-à-vis, und das heißt in diesem Fall vornehmlich: im Abstand zu Sembène wird Alassane als Repräsentant einer verschütteten, noch zu entdeckenden Genealogie des afrikanischen Kinos beschreibbar, worin das Streben nach kultureller Autonomie der, zumal vorsichtigen und oft reibungsvollen, Aneignung westlichen Kulturguts weicht.

Edward Ganda Robinson

Auch Gandas Karriere nahm ihren Ausgang mit Rouch. In Moi un Noir (F, 1958) ist er der energetische Hafenarbeiter «Edward G. Robinson» aus Treichville bei Abidjan, den Rouch auf der Bild- und Tonspur als authentische Erzählinstanz vorschiebt. Der Regisseur bleibt freilich in Kontrolle: Es gibt einen Plot, der sich zugunsten einer straffen Dramaturgie immer wieder unverhohlen von seinen dokumentarischen Prämissen löst, auch die planmäßige Mise-en-scène tut nicht so, als sei sie dem Wirken ihres Protagonisten entsprungen. Dennoch schießen Gandas Rede und Leinwandpräsenz immer wieder über den ihr zugedachten Zweck hinaus, zeugen von einer unbändigen Expressivität, die nicht so sehr dem Film als seinem Hauptdarsteller gehört.

Gandas erste Regiearbeiten, Cabascabo und Le Wazzou Polygame, porträtieren die unterschiedlichen Lebensumstände in Stadt und Land, genauer: in Niamey und an den Ufern des Niger, und ergänzen sich zu einer harschen Kritik am sozialen Elend da wie dort. Während der Städter von Cabascabo nur mit einer Spitzhacke bewehrt das Weite der Felder sucht, ist es just diese bäuerliche und von islamischen Werten umstellte Lebenswelt, aus deren Enge Le Wazzou Polygame einen Ausweg sucht. Stadt- respektive Landflucht erscheinen am Ende als spiegelbildliche Hoffnungsschimmer, die sich gegenseitig nivellieren.

Insbesondere hinsichtlich seiner Inszenierung von Kollektivität versetzt Le Wazzou Polygame immer noch in Erstaunen. Sichtbare Handlungen werden nicht anders gewichtet als deren Nacherzählung, Handelnde nicht gegenüber denjenigen privilegiert, die ihr Tun beobachten und kommentieren. Folglich steht das Zeigen eines plot point gleichberechtigt neben der Möglichkeit, ihn als Gerücht die Runde machen zu lassen und so das Geschick Einzelner auf das sie umschließende soziale Gefüge zu distribuieren. Die Verbundenheit der Dorfbewohner wird dabei als derart selbstverständlich gesetzt, dass sich die Frage, warum einer um die Fährnisse des anderen weiß, erst gar nicht stellt. Unterredungen werden zwar oft via Schuss und Gegenschuss – unter vier Augen – etabliert, das sprechergebundene Hin und Her kann indes jederzeit unterbrochen und um Zuhörende in angrenzenden Räumen erweitert werden, ohne dass diese, Zuhörer wie Räume, einer vormaligen Etablierung bedürften. Anstatt seine Kritik gleichsam von außen an die Dorfgemeinschaft heranzutragen, geht das Autorensubjekt Ganda in einer vielstimmigen Rede auf, die das heterogene, von gegensätzlichen Interessen durchzogene Kollektiv über sich selbst hält.

Der Traum ist aus

Jean-Pierre Dikongué-Pipa, der letzte im Bunde der Cinéastes africains, verpasst dem Modell Sembène Mitte der 70er Jahre eine entschiedene Wendung ins Poetische. Muna Moto erzählt die Geschichte der unglücklichen Ndomé, die an den vermögenden Onkel ihres mittellosen Verlobten Ngondo verkauft wird, obwohl sie dessen Kind in sich trägt, in einer verschachtelten Konstruktion abrupt und unvermittelt einsetzender Rückblenden, die sich erst allmählich zu einem chronologischen Zusammenhang fügen. Nicht immer geben sie ihr Geheimnis preis: Wohnen wir einer Erinnerung bei, oder dem oneirischen Bild einer möglichen Welt? Der einzige Anhalt, um den die changierenden Erzählebenen sich organisieren, sind emphatische Close-Ups von Ngondos Gesicht. Erst am Schluss, wenn ihn die ungerechte Wirklichkeit eingeholt haben wird und er für die Entführung seines Kindes ins Gefängnis soll, schreibt sich Ngondos traumverlorener Blick in eine profane Schuss-Gegenschuss-Sequenz ein. Doch noch hier, vor dem Gesetz, schiebt sich ein rätselhaftes Intervall zwischen Wahrnehmung und Objekt, bäumt sich der Wunsch ein letztes mal gegen die Wirklichkeit auf, bevor Ngondos Blick in der Ansicht eines blendend weißen Gebäudes mit der Aufschrift «Palais de Justice» verfängt: Der Traum ist aus. Die DVD-Box Cinéastes africains ist inzwischen auf einen zweiten Schuber angewachsen, der sich dem afrikanischen Filmschaffen der 80er und 90er Jahre widmet. Weitere mögen folgen, demnächst hoffentlich auch in deutscher oder englischer Übersetzung.

 

Cinéastes Africains, Vol. 1 (4 DVDs, erschienen bei Arte Video)  

Bild oben: Borom Sarret (Ousmane Sembène, 1962); Cabascabo (Oumarou Ganda, 1969); Muna Moto (Jean-Pierre Dikongué-Pipa, 1974) | Spalte mittig, oben: Le retour d’un aventurier (Moustapha Alassane, 1966) | Mitte ganz unten und rechte Spalte: Le wazzou polygame (Oumarou Ganda, 1972)