spielfilm

Klassenverhältnisse Über die Filme von Lucrecia Martel

Von Michael Sicinski

La niña santa (2004)

© Lita Stantic Producciones

 

Eine bedeutende argentinische Regisseurin, ein wichtiger argentinischer Regisseur haben in den letzten zehn Jahren die Bühne des Weltkinos betreten: Lisandro Alonso und Lucrecia Martel. Die Filme Alonsos befassen sich im wesentlichen mit dem von der Arbeit gezeichneten Körper, dem physikalischen Gewicht der Bewegung und den Darstellern, deren Gesten und deren relative Isolierung eine Art negativer Leistungsfähigkeit artikulieren, die paradoxerweise der Spätkapitalismus selbst erst hervorbringt. Die Charaktere, die das Kino Lucrecia Martels bevölkern, sind dagegen schon ganz und gar in die bürgerliche Bildwelt integriert. Sie verstehen genau, was es bedeutet, das tägliche Leben als Darsteller seiner selbst zu bestreiten. Martels Fokus liegt dabei auf spezifischen Krisenpunkten, an denen die Fassade bürgerlicher Voreingenommenheit zusammenzubrechen beginnt. Im größeren Rahmen extrapolieren Martels drei Filme insgesamt eine ins Soziale hineinreichende Bedeutung dieser privaten Auflösungserscheinungen, weil die dargestellten kleinen Stöße und gewöhnlichen Katastrophen unweigerlich klassenspezifisch sind. Alonso kann man als eine Art Existenzialisten des Kinos begreifen, der darauf beharrt, primäre Bedeutungen in der zähen Aufwendung menschlicher Energien im Angesicht der Indifferenz der Natur zu finden. Im Gegensatz dazu kann man Martel wohl am treffendsten als den Tschechow des argentinischen Gegenwartskinos bezeichnen. Nach drei einzigartigen, thematisch aber zusammengehörigen Filmen, ist klar, dass ihr großer Gegenstand die Erschöpfung und die von ihr selbst nicht begriffene Irrelevanz der argentinischen Groß-Bourgeioisie ist. Wie bei Tschechow kann man sich eine Art ungeschriebenen, im Text aber impliziten «vierten Akt» zu diesen Arbeiten vorstellen – die Revolution, die diese zappelnden Clowns gänzlich unvorbereitet treffen wird.

Wenn man Martels Kino etwas vorwerfen kann, dann, dass ihre Filme zu perfekt, dass sie unbehaglich säuberliche, luftdichte Meisterwerke sind, in denen für unerwartete Elemente oder etwas, das aus dem Ruder läuft, kein Platz ist. Ihr erster Film, La ciénaga von 2001, ist sicherlich der unordentlichste ihrer Filme, wenngleich im Rückblick schon die Konturen eines Tschechowschen Masterplans erkennbar werden. Der Film stellt zwei Frauen und ihre ausgedehnten Familien ins Zentrum, die alle in einer abgelegenen Kleinstadt namens Salta leben, nahe den Bergen und, wie es den Anschein hat, unter einer nie endenden Schwüle leidend, die nur gelegentlich durch Regengüsse unterbrochen wird, die für den Moment Erleichterung schaffen. Betrunkene, apathische Erwachsene mittleren Alters bewegen sich um einen dreckigen Pool, klammern sich an ihre Cocktails und schleppen ihre Liegestühle über den Zement hinter sich her, was einen hohen kratzenden

Sound erzeugt, den Martel im Mix ganz nach vorne spielt. Dieses groteske Terrassen-Szenario wird dadurch zu einem akustischen Anschlag, der sich hinter dem letzten Drittel von Michael Snows Wavelength nicht verstecken muss. Etwas später darf man in Großaufnahme mit ansehen, wie einer der beiden Matriarchinnen (der schlampigeren) Glasscherben aus dem ledrigen Körper gepflückt werden, eine brutale Sequenz, die Martel nicht durch Humor, auch nicht durch Sympathie mit der Frau mildert. Im Ton erinnert La ciénaga gar nicht so wenig an den mittleren Ulrich Seidl (Hundstage vor allem), aber ihre Organisationsmethoden sind diffuser, was zum totalen Zusammenbruch des Familienzusammenhangs passt.

Erst etwa zur Hälfte von La ciénaga hat man so halbwegs begriffen, wer hier wie mit wem zusammenhängt, wer was mit wem hat und an welche Stelle diese und jener gehört. In zufälligen Schlafzimmerbegegnungen kommt es zu Inzest oder Sex zwischen Alten und Jungen, aber im Prinzip hängen alle die meiste Zeit einfach herum, wo sie gerade Platz finden. Und wenn Martel La ciénaga mit einer Verurteilung elterlicher Vernachlässigung endet (und zwar mit einem Knall), wie sie im linksliberalen Kino unsentimentaler kaum vorstellbar ist, dann wird man ihr ein wenig uneleganten Zorn auch vergeben. Der einsame Tod am Ende des Films scheint eine seltsam treffende Allegorie, wie auch der zentrale Subplot des Films, die verhinderte lesbische Affäre zwischen der Teenager-Tochter Momi (Sofia Bertolotto) und dem indigenen Hausmädchen Isabel (Andréa Lopez), das immerzu des Handtuchdiebstahls beschuldigt wird. Martel scheint darin ihr Land als hoffnungslos korrupt zu beschreiben, die herrschende Klasse als mehr als bereit, die Zukunft ohne weiteres Nachdenken zu opfern.

Kino des Glissando

Ihr zweiter Film La niña santa (2004) war eine Weiterentwicklung sowohl in der stärkeren Durchdringung von Inhalt und Form als auch in der gnadenlosen Beleuchtung der Verlogenheit und Schwäche der oberen argentinischen Mittelschicht sowie eines allgegenwärtigen Katholizismus, der implizit die existierenden Institutionen stärkt und stützt und mit genuinen Glaubensfragen nichts anzufangen weiß. La niña santa ist die Geschichte von Amalia (María Alche), eines pubertierenden katholischen Mädchens in einem Internat, die sich am eigenen Leib mit der Aufgabe konfrontiert sieht, das Konzept der religiösen «Berufung» zu begreifen. Amalias Mutter Helena (Mercedes Morán) ist geschieden und leitet ein Ferienhotel. Der Film spielt während eines langen Wochenendes, an dem das Hotel eine Ärztekonferenz beherbergt. Einer der Besucher, Dr. Jano (Carlos Belloso) erblickt Amalia auf de Straße, die vom Konferenzort wegführt, wie sie die Straßenvorführung eines Theremins beobachtet. Jano steht in der Menge hinter Amalia und reibt sich zweimal an ihrem Körper.

Die Tatsache, dass Helena es auf Jano abgesehen hat verkompliziert alles, aber solche Plot-Machinationen sind fast schon ohne Belang. Martel konstruiert La niña santa als einen Zustand der Suspension, als geschlossene Anordnung von Elementen (familial, mit einem Eindringling), die sich in Reaktion aufeinander zurückziehen oder annähern, die sich aber, abgesehen von der schicksalhaften Frottage, nie wirklich berühren. La niña santa hat eine hypnotisierende amoebenhafte Qualität und mir fällt kein narrativer Film ein, der ihm gliche. Martel hat eine fließende, ausweichende Art, die Dinge bis zuletzt in der Schwebe zu lassen. Verschiedene Linien zwischen den Personen treten in Verbindung und kreuzen sich, aber nie auf eine direkte (oder von der Erzählung dirigierte) Weise. Es kommt dazu, dass Martels Kadrage nie einen Blick auf das Bild als ganzes erlaubt. In langen Plansequenzen orchestriert die Regisseurin Bewegungen in die Irre oder plötzliche Enthüllungen, die die Bedeutung der Einstellung jeweils radikal verändern. Eine Darstellerin verschiebt ihre Position im Bild oder verschwindet und kehrt wieder, oder eine der Darstellerinnen öffnet eine Schranktür oder bewegt einen hervorgehobenen Gegenstand, den wir zuvor gar nicht bemerkt haben. Auf diese Weise kommuniziert Martel eine von Moment zu Moment sich entwickelnde Instabilität, und zwar mit rein materiellen Mitteln. Das ähnelt sehr dem, was sie mit den Parallelbewegungen in La ciénaga erzielte, aber die Schärfung ihrer Technik von einem Film zum nächsten ist verblüffend. Letzten Endes ist der Film komponiert und wird gespielt wie ein Stück fürs Theremin – viele Töne, die umeinander kreisen und schweben, aber nie jeder für sich distinkt werden. Mit La niña santa entwickelt Martel ein Kino des Glissando.

Aus dieser Perspektive ist Martels jüngster Film, La mujersin cabeza (2008) einerseit eine logische Weiterentwicklung, andererseits kommt er doch überraschend. La mujerist sicherlich abstrakter als die beiden vorhergehenden Filme. Zugleich scheint er mir aber deutlich weniger unklar in seiner Absicht. Wenn man nämlich erst mal Halt gefunden hat in La mujer– was, zugegeben, nicht ganz einfach ist – , dann entdeckt man darin schnell die wahrscheinlich deutlichste Formulierung von Martels Tschechowscher Perspektive auf die in Auflösung begriffene dekadente Oberschicht. Obgleich (und ich verrate nicht zu viel) der Status und die Privilegien der Protagonistin am Ende affirmiert werden, bietet La mujereine Art Buñuelsche Lektion über die Dürftigkeit einer Subjektivität, die sich in fast ausschließlich negativer Weise formt («Ich bin nicht sie»).

Zustand kompletter Verwirrung

Im Zentrum des Films steht Veró (María Onetto), eine wasserstoffblonde Frau, die wir nur kurz in einer zerstreuten Dialog-Sequenz kennenlernen, als sie in ihr Auto einsteigt, auf dem Weg nach Hause nach einem Familientreffen im ländlichen Salta. Sie fährt auf einer Straße, die einen Damm entlangführt, tastet nach ihrem Handy, spürt einen schweren Schlag und erhascht nur einen raschen Blick des toten Objekts im Rückspiegel. Die nächsten dreißig Minuten verbringt Veró in einem Zustand kompletter Verwirrung. Sie hat nicht nur ihre Identität verloren; sie scheint völlig von der alltäglichen Welt gelöst. Bei einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus, zum Beispiel, oder einer Hotel-Begegnung mit ihrem Geliebten, bewegt sie sich mit der erschöpften Distanz und dem ins Gesicht geschnittenen Lächeln wie ein Alien durch die Wirklichkeit. Im wesentlichen lässt sie sich nur von der Mitwelt erklären, wie sie angemessen zu reagieren hat. (Beispiel: Veró besucht eine Zahnarztpraxis, wie man es ihr gesagt hat, und sitzt im Wartezimmer und wartet, dass man sie ruft – bis die Zahnarzthelferin ihr erklärt, dass sie selbst die Zahnärztin ist.)

Nach und nach findet sie und finden wir mit ihr heraus, wer sie ist, und la mujer gewinnt ihre cabeza mit dem zweiten Akt des Films zurück. Veró ist überzeugt, dass sie ein Straßenkind überfahren hat. Die männlichen Mitglieder ihrer Familie unternehmen alles, damit dieses ganze unschöne Problem wieder verschwindet, wenngleich Verós erschüttertes Selbstgefühl (und ihr Name bedeutet schließlich: «Wahrheit») so ohne weiteres nicht wiederherzustellen ist.

Formalismus als Star

In vieler Hinsicht ist der wahre Star des Films jedoch Martels Formalismus. La mujer verwendet Close-Ups und Schärfenwechsel und macht auf diese Weise große Teile des Gesichtsfelds zwar unlesbar, dabei aber zugleich hinreißend attraktiv. Instabile Schärfebereiche sind nicht so ungewöhnlich im zeitgenössischen Festivalkino, aber Martel gibt dieser modernistischen Tendenz einen eher ungewöhnlichen soziologischen Kick. Mangel an Klarheit verbirgt Schuldbewusstsein und Gehemmtheit; Nichtwissen macht glücklich, oder wenigstens verhilft es einem dazu, in der Welt zu funktionieren. Eines der Prinzipien, die La mujerzunächst so scheinbar undurchdringlich machen, ist die vergleichsweise passive Haltung Martels gegenüber jeder Form von Exposition: Sie weigert sich strikt, ein Ereignis in ihrer Dramaturgie über ein anderes zu stellen. Verós Apathie greift über auf die narrative Struktur, während ihre allgemeine Verunsicherung ein objektives Korrelat in Martels Umgang mit dem Sound und dem Raum im Off findet.

Zugleich gelingt es ihr, eine ungeheure Menge an indirekten Informationen allein durch Kadrierung und Bildkomposition zu vermitteln. Der Mangel an Tiefenschärfe ist wahrscheinlich das offensichtlichste formale Mittel des Films, aber noch wichtiger scheint mir, dass Martel den weiten Rahmen ihrer Bilder vertikal segmentiert, in Streifen und Säulen sich scharf gegeneinander abgrenzender visueller Informationen. Die dunklen Ecken eines Raums werden gegen einen Streifen blendenden weißen Lichts, das durch ein Fenster strömt, komponiert, oder die Stellung der Figuren und die Mise-en-scène zerschneiden das Bild in Körper, Bücherregale, Pflanzen und Türdurchgänge. Der Effekt ist subtil, aber die Bedeutung ist klar: Nichts verbindet sich in der Welt, auch wenn das eine unmittelbar neben dem anderen steht. Viel kommentiert worden sind auch die engen, setzkastenartigen Kadrierungen, die Martel in Innenräumen verwendet und die dazu führen, dass Veró oder die Menschen um sie herum aufstehen und plötzlich «ihren Kopf verlieren», zur Seite und nach oben weg aus dem Bild. Das scheint erst einmal eindeutig genug, bis man sich dann zu fragen beginnt, wessen Perspektive man dabei selbst eigentlich einnimmt. Verós? Vielleicht, aber sie selbst ist ja oft Opfer dieser fragmentierenden Rahmungen.

Artikulation von Thesen

Am Ende jedoch scheint die Antwort einigermaßen klar. Was wir hier sehen, ist Martels Darstellung des Moments, in dem eine Krise im Klassenbewusstsein eine Auflösung der sozialen Privilegien nach sich zu ziehen droht – mit der entsprechenden gewaltsamen Gegenreaktion. Auch die Tatsache, dass ausschließlich Männer die «unzuverlässige» Veró wieder unter Kontrolle zu bekommen versuchen, ist dabei bedeutsam. Seinen vielen Rätseln zum Trotz erzählt Martels Film eben doch eine recht unzweideutige Geschichte, eine, deren Wut von einer tiefen Frustration und Hilflosigkeit Lügen gestraft wird. La mujersin cabeza ist ein brillanter Film, aber einer, der geplant, ausgearbeitet und organisiert wurde, um eine Reihe von Thesen zu artikulieren. Er ist dadurch einerseits äußerst beeindruckend, aber zugleich fühlt er sich ein wenig zu stark in sich geschlossen an, als gäbe es keinen wirklichen Raum für Entdeckungen oder das Unerwartete. Die ästhetischen Entscheidungen des Films sind einerseits kühn und verblüffend, zuletzt bleiben sie aber im Dienst einer politischen Absicht, ohne dass zwischen beidem eine merkliche Spannung entstünde. Sehr ähnlich erging es mir übrigens mit Hanekes Caché vor ein paar Jahren, einem Film, der sogar einige der zentralen thematischen Interessen mit Martels Film teilt. La mujersin cabeza ist ein außerordentlicher Film von der Art, die als Meisterwerk zu begreifen mir nicht gelingt – obwohl ich mich sehr freue, dass es anderen dabei anders geht.

 

Auf DVD: La mujer sin cabeza (Headless Woman) bei Strand Releasing (UK) | La niña santa (The Holy Girl) bei Artificial Eye (UK) | La ciénaga (The Swamp) bei Home Vision (RC 1)