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Kottenheim, postlagernd So unprätentiös wie eine römische Wasserleitung: Der Mann aus dem Osten von Christoph Willems (dffb, 1990) – ein Filmprotokoll

Von Rainer Knepperges

© Christoph Willems / dffb

 

1. «Guten Tag. Ich heiße Roman Orloff.» Ein spitzbärtiger Mann im karierten Holzfällerhemd schaut durch seine Sonnenbrille frontal in die Videokamera. «Ich bin 36 Jahre alt, ich bin 178 Zentimer groß und wiege 68 Kilo. Unverheiratet, keine Kinder. Ich komme aus Lodz, aus Polen, wo ich als Verwaltungsbeamter arbeitete.» Er schluckt bei diesen Worten. «Aber jetzt, seit drei Wochen, bin ich im Westen – und jetzt auf Reisen.»

Seine Stimme ist tief, sein Akzent wirkt sanft. Schwer zu entscheiden, ob der Mann trotz oder wegen dieser Brille, trotz oder wegen dieses Hemdes, trotz oder wegen dieses Spitzbartes irgendwie gut aussieht, abenteuerlich, verwegen.

«Ich habe die Annonce zufällig in der Zeitung entdeckt. Ja und … », schüchtern lächelt er, «das ist vielleicht keine schlechte Form, wodurch wir uns kennenlernen. Und deswegen habe ich mir diese Geräte gekauft, extra. Und wenn sie mir ihre Adresse schicken möchten, bitte machen Sie es auf die Adresse: Roman Orloff, Kottenheim, postlagernd. Auf Wiedersehen.»

2. In einer Halbtotalen entnimmt er der Kamera die Videokassette. Bescheiden wirkt das Hotelzimmer mit dem Waschbecken. Davor ein Fernsehapparat auf einem Tisch, auf dem er,

3. in Großaufnahme, einen braunen Umschlag adressiert: an die Rhein-Zeitung Koblenz, Chiffre 96294. Ein Zeitungsschnipsel ist die Vorlage: «Unternehmerin, 26, gutaussehend, sucht Partner für Video-8-Korrespondenz. Unter KRZ 96294 an den Verlag.»

4. Orloff schlüpft, zwischen den Zähnen den Umschlag, in einen Wintermantel, eilt leicht geduckt zur Zimmertür hinaus und, nach schneller Ab- und Aufblende, wieder herein, reißt einen braunen Umschlag auf, schiebt eine Kassette in die Kamera und schaut ungeduldig auf den Fernsehschirm. Ein ruhiger Schwenk begleitet halbtotal den Gang zur Tür und

5. genauso wieder zurück. Die Entschlossenheit des Zeitsprungs ist die Entschlossenheit des Helden. Der Film hat gerade erst begonnen, schon hat er Fahrt. Der Mann aus dem Osten ist ein unbekannter Klassiker, kommerziell nie ausgewertet. Eine Bombe unterm Asphalt, die bei filmhistorischen Grabungen früher oder später hochgeht. Weil ihr Zünder sich nicht entschärfen lässt. Als Christoph Willems 1990 seinen Film vorführte, habe hinterher Schweigen geherrscht, berichtet Dominik Graf: «Alles, was man zu dem Film sagen konnte, erschien falsch. Nichts stimmte. Nur der Film.»

6. Auf einem Bildschirm der Marke Universum: eine Frau in einem knirschenden Korbsessel vor weißer Wand, mit Perlenkette und weißer Bluse, die Beine übereinadergeschlagen in schwarzen Nylonstrümpfen, neben drei lila Schnittblumen. «Ich bin die Frau, die die Annonce aufgegeben hat. Ich heiße Nicole, bin 26, und arbeite als Betriebsleiterin bei meinem Vater.» In das bemüht charmante Sprechen der Frau tönt aus der Ferne kontinuierlich Hundegebell. «Ich arbeite viel und habe deswegen nicht viel Zeit jemanden kennen zu lernen. Ja, und dann habe ich zu meinem letzten Geburtstag die Kamera bekommen, und da habe ich zu mir gesagt: Nicole, jetzt lernst du jemanden per Video kennen und hab die Anzeige aufgegeben. Und ich hab auch viele Zuschriften bekommen, verschiedenster Art, aber ich muss sagen: Du bist der einzige gewesen, der sich extra meinetwegen ’ne Kamera zugelegt hat. Das hat mir sehr imponiert. Ja, du bist erst seit drei Wochen hier und reist in der Gegend rum. Wohin soll ich dir deine Kassetten schicken? Was stellst du dir vor? Antworte bald, und zwar erst mal an die Chiffrenummer. Bis dann.»

7. «Hallo Nicole.» Freudestrahlend sitzt Orloff vor seinem Hotelzimmerschrank. «Ich danke für deine Kassette. Es hat mir sehr gut gefallen. Also du gefällst mir.» In die Stille, die entsteht, als er nach Worten sucht, platzt von draußen das Geräusch eines Motors, der nicht zünden will. «Ja, Ich bin ein bisschen gespannt vor der Kamera und ich möchte auch einfach von dir mehr wissen. Also ich habe Zeit. Sehr viel. Genug. Ich bleibe hier – was weiß ich – na ja, sehr lange kann ich hier bleiben. Ich bin auf Reisen zwar, aber auf Reisen kann ich auch verzichten. Ich schreibe Romane. Also ich bin kein Schriftsteller, aber ich versuche zu schreiben. Und ich habe dich irgendwie, ja, so schön gefunden. Und ich möchte auch wissen, wie du zurechtkommst als Betriebsleiterin, irgendwie, ganz alleine. Das muss schwer sein, auch.» Wieder und wieder hört man, wie draußen das Auto immer nur beinahe anspringt. Orloff lächelt scheu und etwas verloren. Seine Zuversicht ist gewichen. «Also schicke mir bitte deine Antwort. Ich denke mir, es ist vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns treffen könnten, auch. Also bis dann, Tschüss.»

8. «Hallo Roman, was glaubst du eigentlich, warum ich diese Annonce aufgegeben hab? Damit ich mich gleich mit jedem treffe? Ich bin wirklich sauer. Ich hab diese Annonce aufgegeben, weil ich die Leute erst mal so kennen lernen möchte. Also ich hoffe, du weißt jetzt Bescheid. Überleg dir gut, ob du weitermachen möchtest oder nicht. Tschüss.»

9. «Ich grüße dich», sagt Roman Orloff überraschend offensiv in vorgebeugter Haltung, dadurch zum ersten Mal in Großaufnahme. «Ich habe dich gesehen.» Er macht jetzt Pausen, die nicht ängstlich wirken. «Vielleicht war ich tatsächlich zu schnell mit meinem Vorschlag, dass wir uns treffen. Aber, na ja, du gefällst mir einfach, das ist alles. Außerdem habe ich bemerkt, dass du irgendwie … du wirkst auf mich … du strahlst eine gewisse Melancholie aus. Ja, ich erlaube mir eine Feststellung: dass du vielleicht jemanden hasst? Verstehst du, ich denke wirklich sehr viel, weil ich viel Zeit habe, und, ja, vielleicht habe ich deswegen das alles zu früh … Scheiße. Warte mal, Sekunde.» Er macht die Kamera aus und schaltet sie ganz woanders wieder an, wo er den Deckel eines Klaviers aufklappt und sagt: «Ich hab mir für dich ein Lied ausgedacht.» Schon nach wenigen Takten offenbart sich das erstaunliche Talent des Pianisten und Sängers. Auch ohne die Sonnenbrille müsste man an Ray Charles denken. In sein mitreißendes «I am so alone, baby, come on!» stapft allerdings ein Hausmeister und schließt den Klavierdeckel mit den Worten: «So geht ett aber nitt!».

10. Im Wechsel vom Video- zum Filmbild: die Totale eines holzgetäfelten Festsaals, und darin Orloff, der traurig seine Videokamera samt Stativ und Fotoleuchte herausträgt.

11. «Prost, Roman!» Mit einem Sektkelch in der Hand plumpst Nicole auf ein schwarzes Sofa. «Ich glaub, ich hab ’nen Schwips. Ich war nämlich mit einem Geschäftsfreund essen. Ahh, der war sehr charmant zu mir, aber es war öde. Es ging um Produktionsumstellungen im Betrieb. Da ist der Abend eben lang und beschwipst geworden. Ich hol mir mal Sekt.» Drei kleine Kissen, schwarz, rot und golden, schmücken das kurzzeitig leere Videobild. «Aber ich hab mich den ganzen Abend darauf gefreut, dir zu sagen wie toll ich deine Musik fand. Soll ich dir mal zeigen, was ich gemacht hab? Ich hab nämlich den Kassettenrekorder vors Fernsehen gestellt und die Musik aufgenommen.» Zu Orloffs rhythmischem Klavierspiel zündet sie sich eine Marlboro an, tanzt vor der Videokamera, weitet kurzerhand mit der Zoomoptik das Bild und tanzt weiter. Freilich endet das «baby, come on» wieder mit «so geht ett aber nitt». «Gott, was ist das für ein blöder Typ!» ärgert sich Nicole. «Aber eins muss ich dir sagen, du musst mir mehr von dir erzählen. Du schreibst einen Roman. Also wovon handelt der? Ich sage dir eins: Wenn du mir nichts von dir erzählst, erzähl ich dir auch nichts von mir.» Wie die Frau ihre Beschwipstheit etwas zu sehr betont, kann Koketterie sein. Argwöhnisch macht etwas anderes: wie die Schärfe des Videobilds ohne ihr Dazutun mehrfach minimal justiert wird.

12. Roman Orloff sitzt auf dem Bett. Sein weißes Hemd leuchtet vor dem dunklen Holz am Kopfende. Von links, vorbei an Vorhängen, fällt Tageslicht, quasi flämisch, auf seine weltmännische Zufriedenheit. «Hallo Nicole.» Er zündet sich ein Zigarette an. «Du wolltest, dass ich dir über meinen Roman erzähle. Dann mache ich es kurz. Also es handelt sich um einen Mann, der aus dem Osten kommt,» er zieht an seiner Zigarette, «und gleich am Anfang hier im Westen für sich eine große Menge Geld erschwindelt hat.» Er klopft seelenruhig Asche ab. «Zwei Millionen Mark. Ja, und er hat Angst. Und er hat sich verkrochen in einem Hotel, in einem kleinen Zimmer, genauso wie dieses hier. Ich zeige dir …», er tritt hinter die Kamera und schwenkt aus der Hand, « … das Bett». Gegenüber ist der Schrank. «Da spreche ich zu dir. Und jetzt ein Blick aus dem Fenster. Und … », er schwenkt über die dörfliche Straße, auf der ein gelber Mercedes einsam parkt, «… da …», er zoomt auf den Briefkasten gegenüber, «da tue ich die Kassetten rein. Ja, und …», er trägt die Kamera zurück auf ihren gewohnten Platz, «… in so einem Zimmer hat sich der Mann versteckt,» auf seinem Stuhl vor dem Schrank sitzend, «aber er will flüchten. Vielleicht nach Südamerika. Nur er weiß nicht wie. Ich weiß auch nicht … vielleicht hast du eine Idee.» Mit schnellem Griff reißt er sich die Sonnenbrille wie eine Maske vom Gesicht. Sehr hell sind seine Augen. Dunkel sein Blick.

13. Im blauen Kittelkleid auf einem Bürostuhl vor Aktenordnern spricht Nicole lustlos in die Kamera: «Du hast ja vielleicht Probleme. Zwei Millionen. Nach Südamerika. Ist doch viel zu gefährlich.» Sie spielt mit einem Kugelschreiber. «Wir sollten lieber investieren, zum Beispiel hier im Betrieb. Ich zeig dir mal was.» Sie tritt aus dem Bild und trägt die Kamera zu einer, mit schnellem Griff noch mal ins Lot gerückten Fotografie an der anderen Wand des Büros. «So sah der Betrieb früher mal aus. Das Weiße da sind alles Bimssteine. Damals konnten wir uns vor Aufträgen kaum retten. Und jetzt …», der Kamerablick geht zum Fenster heraus, «… nichts mehr. Gähnende Leere.» Zu sehen ist das Betriebsgelände und die sanfte Hügellandschaft dahinter. Undenkbar inzwischen, dem Film auch nur für eine Sekunde die Aufmerksamkeit zu entziehen, denn Augen und Ohren sind gierig geworden, detektivisch, hungrig auf die Welt. Am Horizont ist weißer Rauch. «Wir produzieren nur noch auf Anfrage. Aber Vater glaubte, das gibt sich alles wieder. Dabei müssten wir nur die Produktion umstellen, und zwar auf Schwerbeton. Aber Vater will keinen Kredit aufnehmen. Und damit Basta! Die einzige Möglichkeit die ich noch sehe, wäre wenn jemand, sagen wir mal, privat investieren würde.» Nicole hat die Kamera vom Fenster wieder dahin getragen, wo sie anfangs stand, und schaut zugleich traurig und herausfordernd drein: «Na, was hältst du denn davon?»

14. «Guten Abend, Nicole,» sagt Orloff. Er hält auf dem Schoß einen Aktenkoffer. «Was ich davon halte?» fragt er und wiederholt die Frage noch einmal, bevor er ausgiebig aus einer Bierflasche trinkt. «Natürlich kann er investieren, aber er ist nicht blöd,» (und spricht deshalb von sich wieder in der dritten Person). «Im Osten hat er sich falsche Urkunden gemacht, damit hier im Westen den Personalausweis gekriegt, und dann das Geld geerbt.» Im abrupt geöffneten Koffer sind die Bündel gestapelt. «Zwei Millionen Mark! Gute Nacht.»

15. Er entnimmt seiner Videokamera die Kassette, steckt sie in einen Umschlag, leert noch gierig die Flasche, zieht seinen Mantel an und stößt beim Gang hinaus eine ordentliche Anzahl bereits geleerter Flaschen um. Abblende. Lange Schwarz.

16 bis 24. Aufblende. Beim morgendlichen Klang einer Kreissäge liegt Orloff angekleidet auf dem Bett. Sein erster Gedanke im Moment des Erwachens ist der Griff nach seiner Kamera. Im Liegen spult er das Band dahin, wo Nicole ihm an der Bürowand die zurechtgerückte Fotografie zeigt. Nun ist der schrille Klang der Kreissäge für den Schrecken einer Erkenntnis die perfekte Orchestrierung. Mit nochmaligem Rückspulen und Anhalten des Videobildes ist die Gewissheit da: Eine Männerhand rückte das Bild der Fabrik gerade. Schockiert lässt Orloff das Band weiterlaufen, und in extremer Großaufnahme spiegelt sich in den Gläsern seiner Sonnenbrille die sanfte Hügellandschaft. Nach einem Ransprung auf ein Detail am Horizont friert das Videobild erneut ein. Dazu als Ton aus dem Off, ein Tuten und eine Stimme, die sich am Telefon meldet: «Fremdenverkehrsamt Koblenz» – Orloff erkundigt sich nach dem Ursprung der «riesigen weiße Rauchwolke hinter dem Hügel». Das sei wohl das Atomkraftwerk, sagt man ihm. «Mülheim-Kärlich». Am Fenster stehend telefoniert er mit der Wetterstation Koblenz, fragt aus welcher Richtung dort vorgestern der Wind wehte. Und noch ein Anruf: bei Quelle bestellt er ein Fernglas und eine Sofortbildkamera. Während er den überforderten Verkäufer bearbeitet, ihm auch noch eine Karte von Mülheim-Kärlich zu besorgen, schaut Orloff interessiert aus dem Fenster auf den gelben Mercedes, der draußen steht.

Aus acht Einstellungen ist diese Sequenz montiert, während es im Ganzen bis dahin nur 16 Schnitte gab. Denn der Film ist tatsächlich gebaut wie ein Brückenbogen oder eine Kuppel, aus großen, geschickt gestapelten Blöcken. Kleinteilig ist allein die hier nun erreichte Spitze des Gewölbes. Schon die Telefonate am Fenster sind wieder ein größerer Baustein. Ich wähle den Vergleich, wissend, dass es anderen wie mir erging mit diesem Film: der Hochgenuss der spannenden Erzählung ließ mir zugleich die Freiheit, mich staunend umzuschauen, die schlaue Konstruktion zu bewundern, ihre Schönheit, ja, Erhabenheit. Wie Orloff über die Straße geht und einem Nachbarn den Mercedes abkauft, der Startprobleme hat, das filmt Christoph Willems aus dem Hotelzimmerfenster in einer langen Totalen. Ein so selbstsicheres Wissen, den Zuschauer an die Kette gelegt zu haben, hat kein Regisseur jemals (so jung) an den Tag gelegt. Bei Orloffs Suche nach Nicole geht der Kamerablick entgegen der Fahrtrichtung aus dem Heckfenster des Autos heraus, in fiebriger Erwartung, dass die sichtbare Welt zur Deckung kommt mit dem, was zuvor mit der Sofortbildkamera vom Fernseher abfotografiert wurde. Ein besessenes Schauen, in atemloser Spannung, in Ehrfurcht. Mit filmischem Purismus ist das nicht verwandt, nicht mal verschwägert. Der Mann aus dem Osten ist so unprätentiös wie eine römische Wasserleitung. Schön, dass Christoph Willems nach langer Schaffenspause heute wieder filmt – und nichts verlernt hat. Traurig, dass der Mann aus dem Osten, der Schauspieler Andrzej Szuttenbach viel zu früh verstarb. Und sicher richtig, dass das grandiose Finale des Films, ein für jeden unvergessliches Erlebnis, durch meinen Versuch der Beschreibung nicht angetastet wird.

 

Der Mann aus dem Osten | Regie, Buch, Schnitt: Christoph Willems | Kamera: Cinzia Bullo und Christoph Willems | Ton: Georg Maas | Darsteller: Andrzej Szuttenbach, Karin Plichta, Hubert Hahn, Hermann May | Produktion: dffb 1990