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Märklin für Monster Kindheit als Rückprojektion: Spike Jonze verfilmt Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker Where the Wild Things Are

Von Simon Rothöhler

© Warner Bros.

 

Ein kleiner Junge in einem Wolfskostüm, der kein Wolfsjunge ist, weil er sich nicht in die Zivilisation, sondern aus ihr heraus bewegt. Das Vorrecht der Kindheit: Welten bauen; imaginäre und solche aus Decken, Kissen, Bettlaken. Welten, die in der Vorstellung wachsen, aber nicht mit Erwachsenen bevölkert sind. Welten, die ihre eigenen Naturgesetze und Zeitrechnungen haben. Eine Ewigkeit in ihnen reicht in der realen Welt nicht aus, um ein Abendessen kalt werden zu lassen: «and it was still hot», lauten die letzten 5 der insgesamt nur 338 Wörter in Maurice Sendaks illustriertem Kinderbuch Where the Wild Things Are.

Gemeinsam mit dem Autor Dave Eggers hat Spike Jonze aus diesem lakonischen Bilderbuch einen Kinderfilm für Erwachsene gemacht, ein sorgfältig inszeniertes und erstaunlich unverspieltes Rührstück über das unglückliche Bewusstsein wilder Kreaturen. Bei Sendak sind die Monster gutmütige Untertanen. Das herbeigesegelte Kind wird umgehend zum König gekrönt und löst mit schlichten Kommandos («let the wild rumpus start») allgemeine Hochstimmung aus, von Ichkrisen keine Spur. Warum auch, die Welt der wilden Kerle ist das Produkt eines intakten kindlichen Narzissmus’, alle Libido fließt gen Ego.

Jonze und Eggers hingegen verwandeln die Radaubrüder (ein paar Schwestern sind auch darunter) in depressive Erwachsene, denen die stimmungsaufhellende Medikation vorenthalten wird. Verstrickt in gestörte Beziehungsmuster, dauergekränkt und ziemlich missgünstig, will ihnen auch durch kollektives Krawallmachen keine Vergemeinschaftung gelingen. Die US-Kritik reagierte teilweise mit Befremden auf die Ersetzung von Sendaks fröhlichem Anarchismus durch «group therapy with the muppets», wie Jim Hoberman in der Village Voice schrieb und auch ein anderer Großkritiker, David Denby, zeigte sich über den Gemütszustand der Biester irritiert («like peevish adults elbowing one another out of the way at the smoked-fish counter at Zabar’s») und warnte die erziehungsberechtigte Leserschaft des New Yorker vor verstörten Rückfragen der eigenen Zöglinge nach dem Kinobesuch.

Der untröstlichste von allen ist Carol, der großartigerweise von James Gandolfini synchronisiert wird (was würde wohl Dr. Melfi zu dieser heftigen Zerknirschtheit sagen?). Carol ist der Anführer der in uneindeutige Selbstfindungsprozesse verstrickten Wilden, zum Leitwolf eignet er sich gleichwohl nicht. Meist leidet er still und untätig vor sich hin, sinniert über Alterserscheinungen wie ausfallende Zähne und sucht Zuflucht in einer selbstgebastelten Miniaturwelt.

Where the Wild Things Are ist als klassischer Fantasyfilm angelegt, mit physisch präsenten Live-Action-Puppen und defensivem Einsatz digitaler Bildbearbeitung. Die hipperen popkulturellen Signale sind diskret in den Hintergrund gerückt (der Soundtrack stammt von der Yeah-Yeah-Yeah-Frontfrau Karen O.). Nur wenn es um Carols Märklin-Leidenschaft geht, kokettiert Jonze mit der verschachtelten Smartness seiner beiden vorhergehenden Arbeiten Being John Malkovich (auch schon ewig her: 1999) und Adaption (2002). Das sieht dann in etwa so aus: Ein kleiner Junge imaginiert sich aus kindlichem Eskapismus in eine Phantasiewelt, trifft dort dann aber ausgerechnet auf ein Plüschmonster, das melancholisch auf den defizitären Wirklichkeitsgrad seiner eigenen Modellwelt blickt, so dass dem Jungen nichts anderes übrig bleibt, als den selbstmitleidigen Weltmodellbauer über die prinzipielle Welthaltigkeit von Weltmodellen zu unterrichten.

Depressive Dekonstruktion

Charlie Kaufman, Jonzes vormaliger Drehbuchautor, hat kürzlich seine erste Regiearbeit Synecdoche, New York (2008) vorgelegt, die gleichfalls auf ein depressives Verständnis von Dekonstruktion hinausläuft. In Being John Malkovich war die Begrenztheit des menschlichen Selbstbewusstseins noch Anlass für zeitgeistgemäße Subjektkritik (man erinnere sich an den Moment, wenn Malkovich sein eigenes Bewusstsein betritt und mit aller Härte erfahren muss, was es für ein narzisstisches Ich bedeuten könnte, dass das Unbewusste sprachförmig strukturiert ist) und mündete in gut gelauntem Gender Trouble. Am Ende stand John Cusack wie ein Statist aus einem Nirvana-Video an einem Autobahnzubringer in New Jersey und musste im strömenden Regen mitansehen, wie Cameron Diaz und Catherine Keener als lesbisches Ehepaar in die Flitterwochen abzogen.

In Kaufmans Synecdoche, der bislang nicht in den deutschen Kinos lief, aber mittlerweile auf DVD veröffentlicht wurde, ist die Stimmung ähnlich freudlos wie bei Jonze. Philip Seymour Hoffman spielt hier einen Theaterregisseur, der unter einem Kunstverständnis leidet, das in etwa dem Problem der Kartografen bei Borges entspricht: Er möchte sein Leben im Verhältnis 1:1 auf die Bühne bringen, was in eine immer absurder werdende Selbstabbildungsspirale führt, die Hoffman auch als Gesprächspartner in den skeptischen Regress treibt: «I don’t know what I’m doing – That’s what’s so refreshing: knowing that you don’t know is the first and essential step for knowing, you know? – I don’t know.»

Kaufman und Jonze, einst angetreten, ein Mainstream-Publikum für avancierte Erzählformen zu gewinnen, scheinen zum gleichen Zeitpunkt bei einem ziemlich anti-ironischen Zeichengebrauch angekommen zu sein. Wo in Synecdoche hinter jeder abgetragenen Schicht immer nur ein neuer Pessimismus lauert, ersetzt Where the Wild Things Are die gar nicht so unverbindliche Mehrdeutigkeit von einst durch eine kindliche Phantasie, die vor der Zeit mit dem schuldbeladenen Wissen der Erwachsenenwelt belastet scheint. In dieser Hinsicht ist der Film als Adaption eines Kinderbuchklassikers mit Franchise-Potential von einer bemerkenswerten (psycho-)analytischen Kälte, jedenfalls weit davon entfernt, dem erwachsenen Zuschauerblick den nostalgischen Rückzug in einen unschuldigen anzubieten.

Ganz am Ende, wenn Max eher erschöpft als glücklich Abschied nimmt von den heillosen Kreaturen, inszeniert Jonze den letzten Blick des Kindes aus dem Segelboot als Reminiszenz an die Rückprojektionstechnik. Fast schockartig tut sich ein Riss zwischen Max und den zurückbleibenden wilden Kerlen auf, die gerade in der «falschen» räumlichen Nähe der Rückprojektion unendlich weit entfernt und unerreichbar scheinen. Der Abgrund, der beide Welten trennt, ist auch für einen nachgebauten Kinderblick nicht ohne zeichenskeptischen Rest überbrückbar.

Kinostart am 17. Dezember 2009