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Episode The Sopranos, Staffel 5, Episode 62: «Cold Cuts»

Von Diedrich Diederichsen

Nacht, außen. Zwei Männer buddeln bei funzliger, aber fast bühnenhaft genau ausgerichteter Beleuchtung in grimmem Gelände. Fundstücke werden sorgfältig abgestaubt, dann auf einen Tisch gelegt. Der eine der beiden hat einen menschlichen Schädel freigelegt. Hamlethaft hält er ihn in der Hand und entbietet ihm versonnen ein «Hello!». Dem anderen, noch grabenden Kollegen ruft er erklärend zu: «My first! The Czechoslovakian!» Kenner der Sopranos können sich gut daran erinnern, wie sie diesen Tschechen das letzte Mal lebend gesehen haben, bevor ihn Christopher Moltisanti (Michael Imperioli) in einen Hinterhalt lockte. Im Kühlraum einer als Tarnfirma genutzten Schweineschlachterei begeht der Mafia-Novize seinen ersten Mord. Jetzt, fünf Staffeln später, muss er die Gebeine seines Opfers schon zum zweiten Mal umbetten, weil der Mafia-Friedhof unsicher geworden ist. Er legt den Schädel auf den Tisch und zerschlägt ihn zu Knochenstaub, um sich ein drittes Umbetten zu ersparen. Auch das ist ein erstes Mal, diese brachiale Vernichtung menschlicher Form, die Annihilation dieses Gegenstands, den Moltisantis Erinnerung gerade noch ein letztes Mal belebt zu haben schien.

Die Fans der Sopranos sind dauerhaft hin- und hergerissen zwischen Empathie und Ekel für die Protagonisten innerhalb der Mafia-Familie. Die Serie bietet individuelle Möglichkeiten, dieses Rezeptionserlebnis auszugestalten: physische Nähe und Abstoßung, Pflege-, Helfer- und Liebesimpulse ebenso wie Ekel und Hass lassen sich je nach kultureller Orientierung und psychischer Disposition auf die Beteiligten unterschiedlich verteilen; allein der kathartische Mechanismus stellt sich immer als derselbe heraus. Die angenehm quälende, verunsichernde, wie bestätigende Frage bleibt, wie es kommen kann, dass so widerwärtige Personen einem so über die Maßen sympathisch sind.

Mindestens drei Avatare dieses Zuschauerproblems gibt es als Charaktere in der Serie: Die Therapeutin Dr. Melfi (Lorraine Bracco), die in einem sechseinhalb Staffeln langen Handlungsbogen von einem professionellen über ein sympathisierendes Interesse gegenüber Tony Soprano zu einem resignierten Pragmatismus findet, der schließlich doch in Ekel umschlägt. Sie ist der gute Geist der Serie; aus ihrer Perspektive schaut der erwachsene Zuschauer. Ihr jeweiliges Verhältnis zu Tony macht die Hintergrundstrahlung aus, färbt je spezifische Stationen in der longue durée der Saga. Carmela (Edie Falco), die Ehefrau, ist dagegen immer schon korrumpiert und hat dennoch von allen Familienmitgliedern am ehesten einen Blick, der von immer wieder erkämpften Außenperspektiven geprägt ist: Sie hat Projekte, Liebeleien, soziale Ambitionen und ein Gewissen, das einmal sogar von einem rigoros moralisch argumentierenden Kollegen Dr. Melfis vorübergehend mobilisiert wird. Schließlich ist da Christopher Moltisanti, Vertreter des jungen männlichen Zuschauers: Er würde das Leben in der Mafia restlos affirmieren, wenn sie es ihm nicht so schwer machen würde. Christopher wird durch derart viele Initiationsrituale getrieben, nur um dann doch wieder enttäuscht zu werden, dass er denjenigen Zuschauer vertreten kann, den vorderhand keine Probleme mit spontaner Brutalität und männerbündlerischer Gewalt verunsichern, sondern die Angst, nicht mithalten zu können.

Mike Figgis erzählt von der Episode «Cold Cuts», die er für die fünfte Staffel gedreht hat, eher wie ein Rezipient als ein Regisseur. Eigentlich sei der Film schon fertig gewesen. Der Set sei ja schon so lange im Einsatz, dass die Beleuchter in einer Virtuosität über seine Möglichkeiten verfügten, für die sonst tagelange Vorarbeiten nötig wären. Das Drehbuch hatte er, der alte Sopranos-Fan, an manchen Stellen nicht verstanden, doch die Schauspieler waren längst drin. Eigentlich hätte er nicht viel zu tun gehabt. Figgis ist denn auch der einzige Regisseur, der nicht aus dem erweiterten Freundes- und Mitarbeiterkreis der Serie stammte, sondern der sich um seinen Gastjob beworben hatte. Tatsächlich gelingen ihm einige auffällig schöne, symmetrische Gruppenporträts von Männern in Kneipen, bei denen er altmeisterliche Lichtspots auf die Stirne der Starverbrecher setzt: Die beiden Tonys (Soprano und Blundetto, gespielt von Steve Buscemi) samt Christopher in einem Restaurant als Hl. Trinität, verschiedene Dreier- und Zweiergruppen im «Bada Bing», die aussehen wie eine Mischung aus niederländischer Porträt- und spanischer Barockmalerei. Doch Figgis’ Rolle ist ähnlich wie die von Christopher, dessen unermüdliche, letzten Endes aber asymptotisch bleibende Bemühung um Eintritt und Annäherung an den Machtzirkel der Soprano-Familie einen Mittelpunkt der Episode bildet: outside, looking in.

Christopher hatte geglaubt, dass er nach dem Umbettungsauftrag, dem Ausflug aufs Land mit den beiden Tonys, von seinen bewunderten Vorbildern nun endgültig als Gleicher aufgenommen würde; doch sie reißen Witze über ihn. Trotzig traurig steuert er seinen SUV zurück nach Essex County, NJ. Der große Michael Imperioli spielt als Christopher in einer sehr kurzen Einstellung am Lenkrad den ganzen tonnenschweren, kindischen, superernsten Gefühlsparcours: Beleidigtsein, Trotz, Denen werde ich’s zeigen, Mich versteht eh keiner! Tränen.

In der fraglichen Episode werden zwei tiefe Sopranos-Aporien aufeinander bezogen: 1. Man kommt in die Familie nicht rein. Wie man’s auch anstellt. Wenn sie ist; wenn man aufgenommen werden will, lacht sie einen aus. Es bleibt nur einsamer, trotziger Hass. 2. Man wird die Familie nicht los. Das, was sie zutiefst in einem verankert hat, ist ein einsamer trotziger Hass.

Tony’s Schwester Janice (Aida Turturro) versucht in Staffel 5 erneut, eine andere Familie zu gründen. Ihre neue Stieftochter wird beim Soccer gefoult, Janice platzt in Überidentifikation mit ihrer neuen Mutterrolle der Kragen und sie fällt über die Mutter des gegnerischen Mädchens her. Kenner der Serie wissen um ihre lebensgefährlichen cholerischen Anfälle. Natürlich wird alles auf Handy-Kameras gefilmt, in den Lokalnachrichten gesendet und Tony muss seinem Schwager (Steve Schirripa) einmal mehr einschärfen, seine Frau unter Kontrolle zu bringen. Dieser rührend tapsige und spielzeugeisenbahnbegeisterte Unterling redet ihr ins Gewissen. Sie nimmt Kurse in Anger Management und lädt – scheinbar geläutert – den staunenden Bruder zum Familienessen.

Der kann den neuen Frieden nicht ertragen. Noch wenige Minuten zuvor hat er einen seiner Angestellten krankenhausreif geprügelt, weil der auf Tonys Terror-Ängste falsch reagierte. Mit wenigen wohl gesetzten verbalen Hieben – die eiskalt servierte Rache (wofür?), die der Episode den Titel gegeben hat – konnte er Janice in eine monumentale Rage versetzen. Zufrieden über sein Werk verlässt er den Tisch und verschwindet durch eine Indian-Summer-Vorstadt-Idylle. Metonymisch weisen die spielenden Kinder darauf hin, dass jetzt auch Tony wieder klein ist: dieses zornige unverstandene Kind ist, das die Familie nicht los wird, weil es in die Familie nicht hineinkommt. Anders als bei Christopher sehen wir sein Gesicht nicht, statt dessen erklingt extradiegetisch der berühmte HBO-Schlusssong, der wie ein ans Ende gesetztes Motto auf den Punkt bringt, was in den zuletzt gesehenen Figuren vorgeht.

Es handelt sich um «I Am Not Like Anybody Else» von den Kinks, ein Lied, das Individuation an Trotz koppelt, Einzigartigkeitsbehauptung an männlichen Protest. Doch David Chase, der das Lied ausgewählt hat, auch von dessen weisen Entschlüssen und uneingeschränkter Autorität weiß Figgis zu berichten, hat sich etwas Besonderes ausgedacht: Statt für das Original (ausnahmsweise von Dave Davies gesungen) oder für eine der vielen wichtige Coverversionen (von der Chocolate Watch Band, deren erste amerikanische Version Tony als Kind gehört haben wird, bis zu Camper Van Beethoven) hat er sich für eine Quasi-Unplugged-Live-Version der Spät-Kinks von 1994 entschieden, bei der man das Publikum den Kehrreim mitgröhlen hört: eine Horde mittelalter Männer, die alle darin gleich sind, dass sie nicht sind wie irgendjemand sonst.

 

The Sopranos, Staffel 5, Episode 62: «Cold Cuts» (R: Mike Figgis; Erstausstrahlung 9. Mai 2004)