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Das Naturtheater von Charkiw Ein Besuch beim Dau-Projekt in Paris

Von Ekkehard Knörer

© Olympia Orlova | Phenomen IP (2019)

 

Kein Fragebogen für Besucherinnen mit Sechs-Stunden-Visum, kein eigens zugeschnittener Parcours mit Führung durch ein speziell ausgegebenes Smartphone: Dieser Teil des Erlebnisses bleibt den Langzeitbesuchern vorbehalten, denen mit dem 24-Stunden-Visum oder der Dauerkarte – oder sollte es bleiben, denn funktioniert hat das wohl bis zuletzt nicht. Geöffnet ist Dau, die Ausstellung, das Projekt, die Performance, die Kinovorführung, das Festival rund um die Uhr während des knappen Monats im Januar und Februar, bei jedem Kommen und Gehen Kontrolle, es wird überprüft, ob man auch wirklich kein eigenes Smartphone dabei hat, das muss man in kleinen Schließfächern am Eingang deponieren. Die Nummer des Schließfachschlüssels wird notiert, ebenso die des Visums.

Der Ort des Geschehens sind – neben einer kleinen Dependence im Centre Pompidou, dazu später – das Théâtre de la Ville und das Théâtre du Chatêlet, einander gegenüber gelegen rechts und links eines kleinen Platzes im Zentrum von Paris, nebenan ist das Rathaus. Ich betrete das Théâtre de la Ville, Handy weg, Sicherheitsüberprüfung, habe einen Umschlag in der Hand, der Dau, das Projekt, knapp erklärt. Dazu eine Art Karte für jedes der beiden Theater, die sehr wenig erhellt, es stehen Begriffe drauf wie Orgie, Sex, Unterwerfung, Sadismus (Théâtre du Chatêlet) oder Zukunft, Körper, Erbe, Mutterschaft (Théâtre de la Ville). Ordnung bringen die Wörter nicht, auch genauere Ansagen oder Verordnungen gibt es keine.

Ich bin nicht allein auf halbdunkelem Flur, aber was ich hier soll, sagt mir keiner. Ich gehe zur mit «Mutterschaft» überschriebenen Abteilung, stelle aber sogleich fest, das ist der Gift Shop, in dem auf zwei Bildschirmen Marina Abramovic mit verbundenen Augen irgendwas faltet. Blechlöffel könnte ich kaufen, deren Laffe mit Hammel und Sichel ausgestanzt ist. Oder Konservendosen mit russischem Aufdruck, den Katalog, der vor allem grell-bunte-Gemälde und wenig Text enthält, Stempel mit russischen Wörtern, Postkarten in schwarz-weiß mit Fotos der Darsteller*innen. Gift Shop mit verzichtbarem Merch, klare Ansage: Dau muss eine Ausstellung sein, also Bildende Kunst.

Ein Stockwerk höher: eine Bar oder Kantine. Ich sehe Menschen, die Pampe in Blechnäpfen haben. Tee in Blechtassen kriegt man auch. Links ein Bildschirm, der anzeigt, was grad läuft: Dau 2 im Saal Futur im Théâtre de la Ville. Oder Musik in Submission. Oder S02 E06. Kapitelüberschriften für die Filme und Episoden gibt es auch, per Lautsprecher immer wieder Ansagen, «Attention Attention», in zehn Minuten beginnt Dau 5 im Saal «Inheritance». Aber wo ist der? Ich stolpere durch die Tür zu «Futur», bekomme ein Smartphone mit Kopfhörern in die Hand gedrückt, das ist für die Übersetzung (Englisch, Spanisch, Französisch), der Film beginnt gleich, vorher singen zwei Frauen in Schwarz noch a-cappella russische Lieder. Das zieht sich.

Der Saal «Futur» ist der nackte Saal des Theaters, vor der Bühne aufgespannt eine riesige Leinwand. Kein Verputz, amphitheaterartig die Stufen, graue Sitzkissen verstreut, auch ziemlich hart. Beide Theater sind im Umbau (Zwischennnutzung ruinenartig wirkender Gebäude – definitiv: Bildende Kunst), Eingeweide aus Kabeln hängen an alle Ecken und Enden, drüben im Châtelet, hier dafür Bretterbuden-Klos ohne Spülung, bitte Holzspäne aus dem Plastikeimer auf dem Donnerbalken nachschütten. Am Rand der aufsteigenden Ränge Kleiderstangen mit sowjetisch anmutenden Mänteln, Kulisse, die das Theater noch lange nicht zu etwas anderem macht. Das Licht geht aus, dröhnend martialische Musik, später sogar auf Deutsch, verzerrt: Film ab.

Das ist es jetzt also, das real existierende Dau nach einer mehr als zehnjährigen Existenz als Mythos, Drama, Gerücht. Ich verfolge das seit den ersten, spärlichen, seltsamen Informationen, die es dazu gab, vor allem weil mich 4, das Rotterdam-Gewinner-Debüt von Regisseur Ilya Khrzhanovsky aus dem Jahr 2005 fasziniert hatte. Hunde, Dampframmenkräne, ein Klavierstimmer, der Genetiker ist, eine Reise aus der Stadt ins sehr tiefe Land zur verstorbenen vierten Schwester, dort speichelnde, kauende, Puppen aus dem eingespeichelten Brot formende alte Frauen. Keine Ansage, was das soll, ein Film, der seiner sehr eigenen Logik folgt, aber so, dass man nie das Gefühl bloßer Willkürlichkeit hat.

Dau sollte ein Biopic werden, ein Film über Lev Landau, Physiker, Nobelpreisträger, Institutsgründer, in offener Ehe lebender Mann mit vielen Geliebten. Aus dem normalen Filmdreh wurde dann das sagenumwobene Experiment: Riesiges Filmset in der Ukraine, Naturtheater von Charkiw, in dem zwei Jahre lang viele der Beteiligten wirklich lebten. Ein Big Brother-Container, eine Truman Show, aber als historisches Reenactment. Drehbuch gab es bald keins mehr, nur Regeln, Improvisationen, Strafen, Bezahlung in historischem Geld, Leben in historischen Räumen, Gegenwartswörter verboten (statt Google sag «Pravda», erzählt jedenfalls Michael Idov in seiner spekulativen GQ-Reportage vom Set aus dem Jahr 2011).

Es steckt Arte- und auch rein deutsches Fördergeld drin, aber so schön die Quellen da, wenn sie mal sprudeln, auch sprudeln, für ein so monströses Projekt braucht es dann doch jemanden wie Sergej Adonjew, der scheinbar ohne Ende Gelder nach- und zuschießen kann: Offizielle Zahlen gibt es nicht, eine SZ-Recherche von Peter Laudenbach und John Goetz kolportiert die Hausnummer 50 Millionen. Adonjew: ein Oligarch, reich geworden mit Apfel-Import und Telekommunikation, einer, der viel Kunst unterstützt, einer, in dessen 90er-Jahre-Vergangenheit eine Tonne Kokain herumsteht und der wohl aus frühen Petersburger Zeiten Kontakte zu Putin hat. Goetz und Laudenbach, die recht gründlich nach Dreck am Stecken suchten, kommen über ein «in Teilen undurchsichtig und etwas dubios» nicht hinaus.

Damit zurück nach Charkiw. Gelebt wurde die ganz Zeit, gedreht zwischendurch. Jürgen Jürges, der Fassbinder-, Haneke-Kameramann, lebte bald die meiste Zeit vor Ort, filmte aber nur phasenweise, ohne die Szenen ausleuchten zu können, leuchtstarke Lampen geben Licht, manchmal eher nur Schummer. Sehr viel Handkamera, die den spontanen Bewegungen und den vielen, sehr vielen, in aller Regel mäßig aufregenden Dialogen der Spielenden folgt. Sie folgt ihnen durch die Kommunalka-Apartments, sie folgt ihnen in den riesigen Hof mit dem knirschenden Kies und sie folgt ihnen, das besonders oft, auch ins Bett. Dort haben die Darsteller öfter als nicht dann auch Sex, der allerdings echt ist.

Die Idee, dass sich am Sex die Frage, ob etwas gespielt oder echt ist, entscheide, ist ihrerseits konventionell. Bei Dau ist man an dieser Stelle auch schnell am Ende mit seinem Begriffslatein. Der Sex ist – oder scheint – hier so echt oder gespielt wie alles andere auch. Keine Frage: Mann und Frau sind hier wirklich nackt, hier wird real penetriert. Bringt es irgendwie weiter zu sagen, das sei also Pornografie? Gibt es hier, nein, gab es für die Beteiligten also richtiges, oder wenigstens: reales Leben im falschen, also der experimentellen Fiktion? Oder wird mit dem Reiz dieses pornografisch Realen nur gespielt, zumal es ja immer wieder (mit Zustimmung der Beteiligten) auch vor der Kamera statthat?

Im selben Sinne pornografisch sind andere Szenen: Männer (meist Männer, wie überhaupt die Männer trotz eindrücklicher Frauenfiguren stark dominieren) an der Tafel, die Formeln anschreiben und anderen Männern (und gelegentlich Frauen) in Instituts-Klassenzimmer-Sitzbänken die Formeln erklären. Auch die Formeln sind mutmaßlich echt, die Sprechenden sind tatsächlich Wissenschaftler, die die Kenntnisse, die sie ausbreiten, intellektuell penetrieren. Die Beteiligten tun nicht einfach so, als ob: als ob sie real wären, denn zu nicht geringen Teilen spielen sie die, die sie sind, wenn auch im historischen Environment, innerhalb einer Fiktion. Dass jeder Spielfilm auch die Dokumentation von Menschen ist, die sich so verhalten, als wären sie andere als die, die sie sind, von Menschen, die in Rollen schlüpfen (wie man so sagt), wird hier ebenfalls wahr, nur dass die Menschen hier durch ihre Rollen in eine erfundene, von ihnen aber als mehr oder minder real angeeignete Wirklichkeit schlüpfen. Liebespaare fanden sich auf dem Set, zwölf Kinder wurden angeblich gezeugt: Wenn das nicht Immersion ist, was dann?

Nur dass Immersion ein Begriff ist, der nichts klärt. Hier nicht, vermutlich auch überhaupt nicht. Thomas Oberender und die Berliner Festspiele wollten Dau als Musterschüler ihrer Immersions-Reihe nach Berlin holen (zuvor war Chris Dercons Versuch, mit dem groß aufgezogenen Projekt seine Volksbühnen-Intendanz zu eröffnen, sang- und klanglos gescheitert), das klappte, wie man weiß, nicht. Immersion, so die Idee, will mich als Betrachterin mit Haut und Haar. Immersion will mir den Kopf verdrehen, bis ich glaube, ich sei in der von der Kunst geschaffenen als einer anderen, sich aber doch ganz entschieden «anfühlenden» Welt (echt anfühlend, anders echt, falsch echt, das ist wohl eher egal, Hauptsache, es zieht mich und fühlt sich).

Als es noch so aussah, als könnte Dau in Berlin eröffnen, mit von der Mauer umgrenztem Areal rund ums Prinzregentenpalais, war ich ebendort zur Sichtung eines ersten Films. Im ersten Stock des Gebäudes war ein wildes Gewusel, ich saß eine Dreiviertelstunde wartend herum, war allen egal, ich erkannte Jürgen Jürges, Darsteller*innen aus dem Film, im großen Nebensaal junge Menschen an Rechnern auf Tischen, das alles innerhalb einer historischen Kulisse mit Sowjetkunst und öden Propagandazeitschriften aus der DDR. Diesen Zug zur Kulisse hat das Projekt an allen Ecken und Enden. Auch die Mauer, wäre sie wiedergebaut worden, wäre eine solche Kulisse gewesen. Es gehören die Wachsfiguren dazu, die in Paris nun herumstehen und glotzen, ein bisschen unheimlich, ein bisschen banal. Environments mit historischer Anmutung werden geschaffen, wie auf dem Set (das beim Dreh nur «Institut» genannt werden durfte), so im Besucher/Betrachter/Zuschauer*innen-Leben.

Von diesem Zug zur Kulisse verspricht sich Khrzhanovsky eine Drift ins Reale, oder wenigstens, dass aus Objekt und Material die Vergangenheit abfärbt, dass es mich so hineinzieht, dass ich ein gutes Stück auf dem langen Weg von der Anmutung zur Illusion vorankommen kann. Die willfährige Aufgabe von Unglauben, das alte Spiel der Fiktion. (Dass ich das Smartphone abgeben muss, heißt wohl: Hier ist der härteste Kern des Realen in unserer Gegenwart. Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Handysucht fahren.). Am Set, so scheint es, hat das, weil alle mitspielen wollten, auf die eine oder andere Art funktioniert. «Die eine oder andere Art», das ist natürlich die Crux: Man wird auch beim stundenlangen Zusehen nicht wirklich schlau. Der Spaten biegt immer an denselben Stellen um: Was tun die da? Für wen? In wessen Namen spielen und sprechen sie? Das ist schon deutlich anders als das, was Spielfilm sonst ist. Und anders als Dokumentarfilm. Anders als Reality-TV, ausufernder, weniger entlang der Erwartung gescriptet. Spielfilm als Echtfilm. Eine tiefe Überzeugtheit scheint die Mitspielenden zu durchdringen, die Überzeugung davon, dass einen Sinn hat, was sie da tun.

Ich kann nicht leugnen, dass sich meine Aufmerksamkeit, mein Interesse an dem, was ich sehe, in nicht sehr steilen Kurven auf und ab bewegt. Der Glaube der Beteiligten ist faszinierender als das, woran sie glauben, was immer es ist, eindrücklicher als das, wovon sie überzeugt sind, was immer es ist, aufregender als die Handlungen, in die sie sich verstricken. Kostümfilm mit Sowjetambiente und Sex gibt es, weniger avantgardistisch, dafür sehr viel besser, The Americans als konventionelle Serie, 50 Stunden oder so sind das auch. Über das Historische erfahre ich in Dau allerdings wenig. Und Landau ist nie wirklich (spielfilmwirklich) Landau, sondern bleibt der Star-Dirigent Teodor Currentzis, der ihn spielt. Oder genauer sollte ich in Anteilen sprechen: 70 Prozent Currentzis, 15 Prozent Glaube an das Projekt mit viel Sex, gerne zu dritt, 5 Prozent historischer Landau. Dau selbst: 30 Prozent Historienfilm (mit Schminke, Jahreszahlen, mehr oder minder korrekter Sowjetkulisse), 40 Prozent Sozialexperiment, 20 Prozent chauvinistische Kunstreligion und 4 Prozent tatsächlich etwas wie Immersion. (Das bisschen mehr, als man sonst bei jeder ästhetischen Erfahrung aus dem Alltag entrückt ist.) Im Rest ein wenig je ne sais quoi, aber darin nach Gold zu schürfen lohnt eher nicht.

Kunst kommt nicht von Superlativ. Und manche der Zahlen, mit denen etwa der Katalog zu Dau um sich wirft (etwa die Zigtausende, die offenbar durch den Casting-Auswahlprozess gingen), provozieren eher Kopfschütteln oder Ratlosigkeit. Selbst von den 400 verbliebenen Mitspieler*innen ist in den Ausschnitten, zu denen ich Zugang hatte, wenig zu sehen. Die 700 Stunden gefilmten Materials sind ein anderer Fall. Zum einen ist das erstaunlich wenig – die Kamera war in den zwei Jahren also wirklich nur in sehr ausgewählten Situationen zugegen. Zum anderen ist es trotzdem eine massive Herausforderung, daraus zusammenhängende Filme zu montieren. Offensichtlich wurde jeder einzelne Dialogsatz transkribiert und wie jede einzelne Szene vielfach getaggt – nach Darsteller, Atmosphäre, Zeitpunkt sowieso, verhandeltem Thema. Auch der Regisseur und die drei Cutter konnten kaum einen nicht-computergestützten Überblick über das Gesamtmaterial haben.

Vielleicht kommt Dau als Film daher in der wohl für das Internet gedachten Splitscreen-Version, die man in mit Silberfolie verklebten Kabinen sichten kann, erst so ganz zu sich; vielleicht wird auch nur der Peep-Show und Exploitation-Charakter des Ganzen dort besonders deutlich – oder jedenfalls das eher zoologische als historische oder menschliche oder auch ästhetische Interesse am Geschehen im Institut. Sechzehn bewegte Fenster auf dem Computerbildschirm, zu denen man per Mouseover den Ton zuschalten kann. Im Zweifel gibt’s immer irgendwo Sex. Die fünfzehn anderen Filme laufen derweil weiter, das konsumiert man also am besten im Sprung von hier nach da; es ist in der Regel nicht sehr schwer, der Handlung zu folgen, da sich das bisschen Aktion und Konflikt (Liebe, Experimente, Totalitarismus-Reenactment, Besäufnis, Wissenschaftler-Speak, besoffener Wissenschaftlerspeak mit Sex) auf sehr ausgedehnte Passagen verteilt, in denen hin und her und her und hin diskutiert wird oder wieder einer (der Männer) in brütendes Schweigen versinkt.

Es ist dabei keineswegs so, dass die Plansequenz dominiert. Die bewegliche und bewegte, aber von aller Steadycam-Slickness weit entfernte Kamera bleibt stets dienstbar, eher sind der Schnitt und Schwarzblenden dominant. Das Bildmaterial, das von Dau zur Verfügung gestellt wird, täuscht sehr bewusst (und ausgesprochen gekonnt) über die ästhetische Anmutung der Filme hinweg. Alles sieht in den Setfotografien konturscharf schwarz-weiß aus, in den Filmen dagegen überwiegt ein ins leicht Suppige tendierender Schummer. Kein Wunder, da Jürges die meiste Zeit unter Dokumentarbedingungen gedreht hat, ohne Zeit fürs Ausleuchten, halbwegs hinreichende Lichtquellen waren über die Räume verteilt, die Kamera hat die Aufgabe, die Bewegung des Geschehens halb zu antizipieren, halb ihr zu folgen, eine Mise-en-Scène im engeren Sinn gab es so wenig wie geschriebene Dialoge. Die Mitspieler*innen hatten Plotlines, aus denen sie per Improvisation etwas machten. Und genau so, muss man sagen, sieht das im Ergebnis auch aus.

Die einzelnen Filme werden in Paris zwar wild durcheinander, nach keiner erkennbaren Ordnung gezeigt – ich gerate erst in Dau 5, dann in Dau 2, dazwischen läuft eine Fernsehserienepisode, bei der eine Frau in einem Glaskasten die Bewegungen eines Schimpansen im Glaskasten nebenan nachturnt, unten, ich habe die Nummer vergessen, läuft eine Schauprozess-Strafaktion nach einem Strip-Poker-Besäufnis, die Filme selbst aber sind in Schnitt und Plot doch in Zusammenhänge gebracht: Dau5 erzählt vor allem vom Titelhelden Lew Landau (der in Dau 2 gar nicht vorkommt) und seinen Versuchen, die junge, attraktive, belesene Instituts-Bibliotheks-Leiterin Katja ins Ehebett zu bekommen, für Sex zu dritt. Das ist sehr qualvoll, mit schwer erträglichem Text, mit dem Teodor Currentzis entweder Landau improvisierend imaginiert, oder aber er glaubt, was noch schlimmer wäre, den zerquälte-Männerseelen-Unfug, den er da redet. (Sehr charakteristische Unentscheidbarkeit – aber ein bisschen ist es andererseits auch wieder egal.) Das mit dem Sex zu dritt klappt, die Ehefrau agiert ohnehin als Komplizin, aber dann schläft Katja erst recht ausführlich mit einem anderen Mann und beginnt eine Liebesgeschichte mit einer Frau namens Tania, was die homophoben Aufsichtsbehörden auf den Plan ruft und mit Tanias Selbstmord endet.

Wenn die Menschen im Institut vor allem Versuchsmäuse sind – was bin dann ich? Was soll die Betrachterin sein? Voyeur, das ist klar, der Firnis der illudierenden ästhetischen Deckschicht aus Fiktion und Handlungsverstrickung ist sehr viel dünner als im Spielfilm sonst üblich. Besonders deutlich wird es in der ins Centre Pompidou ausgelagerten Installation, die ein bewohntes Sowjetapartment zur Peepshow macht: Aus der Schwärze heraus verfolgt man durch Bullaugen, was die Person im Inneren treibt. (Sie geht kurz ins nicht einsehbare Bad und kocht Tee, als ich da bin.) Der Kick der Voyeurs-Situation ist das Versprechen des Realen. Die historischen Kostüme und alle Regeln verdecken es nur zum Schein. Dau bildet sich jedenfalls ein, eine Experimentalanordnung zu sein, die Leute von heute sich als andere spielen lässt, dabei aber auf Wahrheiten kommt, zu denen man anders gar nicht gelangte. Klinge ich skeptisch? Ich will es hoffen.

 

Dau Paris endete am 17. Februar 2019. Die für dieses Jahr geplante Aufführung in London findet wohl statt. Und auch ein neuer Anlauf in Berlin ist noch nicht völlig vom Tisch