modernes ereignis

Ablaufdaten

Am 3. Januar 2003 gaben Wissenschaftler dem antarktischen Eis noch 7000 Jahre. Das vollständige Abschmelzen des gefrorenen Wassers über dem Südpol würde den Meeresspiegel bis zum Jahr 9003 um fast fünf Meter steigen lassen. Am 3. Januar 2003 wurde in Schweden ein Mädchen namens Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg geboren. Sie wird, wenn man durchschnittliche europäische Lebenserwartungen über den Daumen rechnet, mit einiger statistischer Wahrscheinlichkeit das Jahr 2100 erleben. In den meisten geläufigen Klimarechnungen ist das der Bezugspunkt, auf den hin Erwärmungsszenarien gerechnet werden. Greta meldet sich also mit einem anderen Grad von Betroffenheit zu Wort als Donald Trump (statistisches Ablaufdatum: 2025) oder Vladimir Putin (Ablaufdatum in Entsprechung zu der niedrigeren russischen Lebenserwartung, die er aber möglicherweise aufgrund privilegierter Lebensumstände übertreffen wird: 2024), um zwei der wichtigeren Karbonisierer in der gegenwärtigen Geopolitik zu nennen. Die Frage der politischen Mündigkeit bemisst sich nicht an der Differenz zwischen einem Wahlberechtigungsalter mit 18 oder 16 Jahren, sondern an klassischen, generationellen Motivlagen. In Algerien demonstriert die Hochschuljugend gegen einen Präsidenten, der von einem interessierten Apparat noch einmal für eine Kandidatur vorgeschoben wird, für die er weder gesundheitliche noch andere Qualifikationen vorweisen kann als die, dass er gefühlt immer schon da war. In Deutschland wird eine agonale Linie kolumnistisch gezogen: junge Frauen gegen alte Männer, beide weiß. Das ist die geschlechterdifferente Variante eines Unterschieds, der zur Zeit auf unterschiedlichen Ebenen, von der Bekämpfung oligarchischer Strukturen bis zu global bezifferbaren Klimazielen, nach Formaten und Zusammenhängen (und Deadlines) sucht. Menschen aus dem Holozän gegen Menschen aus dem Anthropozän reagieren entweder gar nicht oder ratlos auf die reflexive Herausforderung, einer Generation anzugehören, die erdgeschichtlich maßgeblich sein könnte, und die für die Generation von Greta Thunberg bereits nur noch einen Ausweg durch technologische Disruption (Geo-Engineering) denkbar erscheinen lässt. Im individuellen Verhalten reproduzieren sich die systemischen Widersprüche: Die optimistische Variante, den Kapitalismus durch Konsumentscheidungen zu steuern, wirkt obsolet angesichts der Rohstoffreserven, die vor allem bei wirtschaftlich nachholbedürftigen Staaten wie Venezuela, Russland, Saudi-Arabien, Angola oder auch Brasilien zu verzeichnen sind, und von denen man sich kaum vorstellen kann, dass sie nicht in Umlauf kommen werden. So gesellt sich zu dem eingeübten hochtechnologisierten Lebensstil ein wenig Apokalyptik und auch Angstlust. Wenn es wenigstens ein Computerspiel gäbe, das ein Szenarium für den Planeten im Jahr 9003 hochrechnen könnte – denn auch das ist vermutlich vorstellbar, und vielleicht sogar mit Menschen, für die das Anthropozän deren Holozän ist.