Regredieren in die Bürokratie Über Andreas Goldsteins Der Funktionär
Der Film beginnt mit dem Blick aus einem Fenster auf eine Straßenkreuzung. Hinter dem Bild erzählt eine Stimme: «Als mein Vater 15 war, sah er einen toten Arbeiter auf der Straße liegen, von Polizisten auf einer Demonstration erschossen. Er sagte: Alles, wie es auch sei, sei besser als das.» Die Stimme gehört dem Filmemacher Andreas Goldstein, sein Vater ist Klaus Gysi (1912–1999), Verlagsleiter, Kulturminister, Botschafter, Staatssekretär in der DDR, ein «Funktionär» eben, wie der Titel des Films nüchtern sagt.
Die Geschichte vom Arbeiter, der bei einer Demonstration von der Polizei getötet wird, ist in der Perspektive des Films der Privatmythos von Klaus Gysi, die Letztbegründung seines politischen Lebens. Der Funktionär kommt auf die Anekdote häufiger zurück, er zitiert aus historischem Fernsehmaterial wie dem Gespräch Gysis mit Günter Gaus von 1990. Und er merkt an: «Im Privaten endeten Gespräche oft mit der Beschreibung dieses Bildes.»
Man kann in Goldsteins Film, natürlich, eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater sehen als nachgetragene Abrechnung, als ödipales Muster, als späte Rache, gegen die der tote Vater sich nicht wehren kann. Dann fällt einem die Nüchternheit, die Kühle der Anordnung auf: dass der Film eben nicht «Der Vater» (oder, wie er im Gespräch immer wieder genannt wird, der «Vaterfilm»), sondern Der Funktionär heißt, dass sich der essayistische Text, der immer wieder auch in die konkrete Vater-Sohn-Beziehung pendelt, der Kindheitserinnerungen und Fotos streift, ungerührt hinter den Bildern ereignet, die verschiedenes Footage kompilieren (Montage: Chris Wright): Schwarzweiß-Fotos des Autors aus den späten 80er Jahren, unscheinbare Straßenaufnahmen von heute und aus der Zeit unmittelbar nach der politischen Wende.
Und dann wird einem eine Stelle im Text besonders auffallen, weil sie unscharf bleibt gemessen an den sonst präzisen Formulierungen und Beobachtungen. Es ist der Moment, in dem der Filmemacher explizit von sich spricht und doch vage bleibt: «Ich hatte in den Schulen, wie auch immer sie waren, nie die Furcht zu sagen, was ich dachte. Erst spät verstand ich, dass das ein Privileg war, ein Privileg, das von ihm und seiner Position an mich übergegangen war. Ich hatte, als hätte ich eine kommunistische Abstammungslehre, eine direkte Verbindung zu seiner Geschichte, als wäre sie auch meine.»
Das Ende dieses Exkurses wirkt merkwürdig verallgemeinert. Das «Privileg» des Sohns eines hochrangigen Funktionärs besteht in dieser Beschreibung nicht im Status des Vaters – dass hier jemand der Sohn eines «hohen Tiers» ist, der andere Freiheiten, ein anderes Selbstbewusstsein genießt als das Kind irgendeiner Arbeiterin oder gar einer dissidenten Person. Das Privileg soll vielmehr aus einer «Abstammungslehre» rühren (was sich vielleicht noch als Idee eines spezifischen Adels erklären ließe); der Vater erscheint in diesem Sprung zurück in die Geschichte nicht als Subjekt seiner Macht in der Gegenwart, er ist lediglich das Medium einer Verbindung zu einem offenbar bedeutungsvollen Gestern.
Wenn man Der Funktionär allein auf den Vater-Sohn-Konflikt reduzieren will, dann markiert diese Stelle einen blinden Fleck – die Ahnung von der Schwierigkeit des Filmemachers, von sich selbst zu reden in der rationalen Weise, in der er vom Vater spricht.
Aber Goldsteins Film ist eben mehr als selbstgenügsamer Privatismus, mehr als die übliche Prägungserzählung, mit der angehende Dokumentarfilmregisseurinnen nicht selten ihre Ausbildung an der Hochschule beenden – einem Film über die eigenen Eltern, der zugleich die Gründe fürs eigene Erzählenwollen offenlegt. Der Funktionär ist nämlich auch ein Film über die DDR, über das Bild, das sich von der DDR medial gemacht wird, und dass sein Autor so lange gebraucht hat, um ihn zu drehen, mag einerseits mit der schwierigen Beziehung zum Vater zu tun haben. Es liegt andererseits aber auch in der Logik der wechselnden DDR-Befassungen in den vergangenen 30 Jahren – zurückzugehen bis zum Anfang für eine Revision des gescheiterten Gesellschaftsentwurfs vom «besseren» deutschen Staat, das erscheint nach den Ernüchterungen der letzten Zeit als adäquater move.
Und dann wird die Privatanekdote von Klaus Gysi zum Sinnbild des Gründungsmythos der DDR. Zu einer Antwort, die sich immer wieder geben lässt und die genau dadurch fortlaufend den Anschluss an die Gegenwart verliert. Das Pathos des «Alles, wie es auch sei, sei besser als das» stellt die Zeit still. Es folgt daraus nichts mehr, und je länger die DDR in sich hinein scheitert, desto müder wirkt der Satz. Wenn der Text konstatiert, für die DDR habe der verordnete Antifaschismus und die Revolution der Eigentumsverhältnisse gesprochen, dann macht der Film am Beispiel Klaus Gysis deutlich, dass die DDRauf diesen Fundamenten ihrer Gründung nichts mehr gebaut hat.
In Andreas Dresens Spielfilm Gundermann (2018) gibt es die Szene, in der zur Deeskalierung des renitenten Baggerfahrers, der in seinem Spinnertum die klar gezogenen Grenzen der Bewegung innerhalb der DDRnicht akzeptiert, ein alter Parteigenosse aufgefahren wird – die Generation Klaus Gysi, die noch aus eigener Anschauung davon erzählen konnte, was nach der Erfahrung der NS-Zeit die DDR für eine Chance darstellte. Die hohe moralische Autorität des alten Kämpfers aber fügt sich enttäuschend kleinmütig (inszeniert ist das durchaus mit gewissem Suspense, weil die Autorität des alten Parteigenossen theoretisch auch den karrieristischen Parteisekretär overrulen könnte) den Anforderungen der aktuellen Führung nach Ruhe – sie kann aus den naiven Fragen Gundermanns nicht die Notwendigkeit zur Anpassung, zur Weiterentwicklung der Gründungserzählungen erkennen. Dass die Faschisten nicht verschwunden sind, wenn der Antifaschismus verordnet wird; dass die Änderung der Eigentumsverhältnisse neue Bedürfnisse und weitere Herausforderungen produziert.
Der Funktionär ist in diesem Sinne auch ein Film über Zeit. Über tote Zeit. Sieben Jahre lang habe Ulbricht von Gysi als Kulturminister ein Konzept erwartet, heißt es einmal, sieben Jahre hat er keins geschrieben. Die Handlungsunfähigkeit, die Gysi mit ausschweifender Rhetorik überdeckt, erreicht den Sohn in den «windstillen» 80er Jahren als komplette Abwesenheit von Politik. Durch das Los des Vaters, der als Mann Ulbrichts unter Honecker abberufen und auf den Botschafterposten in Rom abgeschoben wird, schimmert die Ahnung vom frühen Ende der DDR: Während Ulbricht in den 60er Jahren erkennt, dass die Planwirtschaft den Leuten zu wenig Anreiz für die Arbeit bietet und mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung nachsteuern will, setzt unter Honecker die Bestechung der eigenen Bevölkerung durch Importe von Konsumartikeln ein, die einerseits zur Abkehr ins Private führen und andererseits die Schulden anhäufen, die den Staat am Ende untergehen lassen.
Diese Differenz vermittelt Der Funktionär anhand von Fernsehsendungen, wie es sie in der späten DDR nicht mehr gegeben hat. Der Minister sitzt in einer Talkrunde und wird etwa mit einem Betriebsleiter konfrontiert, der – wenn auch im bürokratisch hochstehenden Duktus des damaligen Redens – reale Probleme anspricht (dass die Arbeiter, vor allem die Arbeiterinnen angesichts der beschwerlichen Schichten wenig Zeit hätten, sich kulturell zu betätigen). Diese Szenen sind die herausragenden Momente des Films. Goldstein präsentiert nicht nur vergessene Fundstücke aus dem Archiv, er macht sie vor allem erst lesbar, wenn er durch den Wust der schwer verständlichen Phrasen hindurch («die ganze Hauptsphäre der persönlichen menschlichen Entwicklung») wie ein Theaterkritiker die verklausulierten Redelogiken aus dem Off kommentiert, wo Macht und Machtverlust sich mitunter an der Ansprache zeigen («Herr Minister» oder «Genosse»), an Sprechzeiten, an Frage-Chronologien und Blickregimes.
Auch wenn Klaus Gysi in Der Funktionär als Figur erscheint, an der sich das Scheitern der DDR erzählen lässt, so registriert der Film auch die Widersprüche, die mit diesem Leben verbunden sind. Wie Gysi, der nicht zu den systemtragenden Ost-Emigranten gehörte, 1950 Gegenstand einer Untersuchung wird, die sein Überleben als Jude unter den Nazis in den Blick nimmt, die Fahrt nach Paris zur Mutter, die nicht dokumentierten Jahre in Berlin. Während Gysi ungeduldig wissen will, warum der Vorgang so lange dauere, bescheidet ein Genosse: «Klaus, sei mal froh, dass wir so lange ermitteln.» Was die grotesken Konditionen des späten Stalinismus für heute als Witz erzählbar macht.
Auf diese Weise fängt der Film noch etwas von dem Schillern ein, das ein rhetorisch begabter Intellektueller wie Gysi hatte, bevor er in Bürokratie regredierte. «Warum erwarten wir von den Vorangegangenen, dass sie in jedem Augenblick ihres Lebens mit sich selbst identisch sind?», befragt Der Funktionär einmal die Bedingungen seines eigenen Erzählens. Selbst wenn man den Film auf eine Abrechnung des Sohns mit dem Vater reduzieren wollte – dass durch seine essayistischen Erzählbewegungen auch eine Ahnung vom Charisma des Klaus Gysi spürbar wird, lässt sich nicht in Abrede stellen.
Der Funktionär (Andreas Goldstein) D 2018 | Kinostart am 11. April 2019