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Die Zahnbürste der Zivilisation In Jacques Audiards US-Debüt The Sisters Brothers bleibt die Kritik an «toxic masculinity» weitgehend Männersache

Von Elena Meilicke

© Why Not Productions

 

Europäer und Amerikaner trennt momentan politisch einiges, die im Internet mit am leidenschaftlichsten diskutierte Differenz aber betrifft – Zähne: «Why are Europeans’ teeth ‹different› than Americans’?», «Why do most people in European countries have bad teeth?» oder schlicht: «Why do Europeans have such horrible teeth?», fragen (US-amerikanische) User in etlichen Diskussionsforen. Woraufhin Europäer*innen – Österreicher, Spanier, Finnen und auch Briten – fix zur Stelle sind, um europäische Zähne zu verteidigen, und dabei den Gegensatz von Schein und Sein mobilisieren: Amerikaner oberflächlich, Europäer substanziell etc. pp. Der Stern weiß darüber hinaus: «In Hollywood sind ultraweiße Zähne kein Luxus, sondern normal. Arbeitsvoraussetzung.» Oh Amerika, Land des bleaching und teeth whitening, mit seiner panischen Angst vor body odour!

Keine Ahnung, ob das mit den weißen Zähnen als Arbeitsvoraussetzung nur für Schauspieler*innen oder auch für Filmemacher*innen gilt. Der französische Regisseur Jacques Audiard jedenfalls hat mit dem Neo-Western The Sisters Brothers jetzt seinen ersten englischsprachigen Film vorgelegt und in ihm treffsicher die Zahnbürste zum wichtigsten Dingsymbol auserkoren; als Objekt, in dem transatlantische Befindlichkeiten aufeinandertreffen, sich kreuzen und transformieren, und das vor allem auch erlaubt, das Genre des Westerns und seine überkommenen Männerbilder einer mehr oder weniger professionellen Reinigung zu unterziehen.

Es ist das Jahr 1851, irgendwo in Oregon. Eli Sisters, verfilzt und bärig (sehr passend: John C. Reilly), schiebt seinen schweren Körper durch die engen Gänge eines Krämerladens – bescheidener Vorläufer heutiger Konsumtempel, der aber doch ein beträchtliches Aufgebot an Waren aufweisen kann, die in Fläschchen, tönernen Krügen und papiernen Schachteln verpackt sind. Eli streicht mal hier, mal dort mit der Hand drüber und bleibt schließlich stehen: «Are you interested in that, Sir?», fragt höflich der Krämer, der sich von hinten genähert hat. «What is it?» «It’s a tooth brush, Sir. To keep your teeth longer, and your breath fresher. You use it with this powder.»

Die nächste Einstellung zeigt, wie Eli vor der Waschschüssel hantiert; die Augen angestrengt zusammengekniffen, schubbert er mit der Bürste im Mund herum, zwischendurch schielt er immer wieder nach der auf dem Beipackzettel abgedruckten Gebrauchsanweisung. Für einen Moment unterbricht er die mühsamen Putzbewegungen, um sich in die Hand zu pusten und den eigenen Atem zu riechen; ein Lächeln huscht über das derbe Gesicht.

Elis Freude an der Feinmotorik erfordernden Zahnbürste ist auch deshalb ein so schönes Detail, weil er ansonsten ein Mann fürs Grobe ist. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Charlie Sisters (Joaquin Phoenix) verdingt sich Eli als Auftragskiller und steht in Diensten eines enigmatischen Commodore (Rutger Hauer in zwei wortlosen Cameo-Auftritten). Eli und Charlie sind zwei ungleiche Brüder: Während Eli sich als empfindsame und leicht kränkbare Seele erweist, geht von Charlies scharf geschnittenen Gesichtszügen eine Aggressivität aus, die jederzeit ausbrechen kann; in seinen dunklen Augen wabert der Alkohol und flackert der Wahnsinn.

Ihr jüngster Auftrag besteht darin, einen gewissen Hermann Kermit Warm (von rehäugiger Schönheit: Riz Ahmed) aufzuspüren und auszuschalten, einen, so wird im Laufe des Films deutlich, Chemiker, der mittels einer speziellen Flüssigkeit die Goldsuche revolutionieren will; mit dem daraus hoffentlich resultierenden Reichtum möchte er eine egalitäre, protosozialistische Kommune in Texas gründen. Begleitet wird Warm von dem Privatdetektiv Morris (Jake Gyllenhaal), der ursprünglich wie die Sisters Brothers für den Commodore gearbeitet hat, dann aber die Seiten wechselt und mit Warm für die gute Sache kämpft. Diesen beiden Utopisten heften sich die Sisters Brothers also an die Fersen und verfolgen sie kreuz und quer durchs westliche Territorium.

Dabei durchreiten sie steile Gebirge und weite Ebenen, die der belgische Kameramann Benoît Debie (der u. a. Harmony Korines Spring Breakers gefilmt und ansonsten viel mit Gaspar Noé zusammengearbeitet hat) in monumentale Landschaftsbilder im Breitwandformat setzt. Trotzdem atmet der Film weniger die offene Weite des Westerns, sondern fühlt sich über lange Strecken vielmehr wie ein psychologisches Kammerspiel an; Spannung entsteht aus dicht gefügten Parallelmontagen, den Höhepunkt bildet das Aufeinandertreffen beider Parteien. Im Vordergrund von The Sisters Brothers stehen somit weniger westerntypische Interessen wie das Land, die Grenze oder der Raum; filmisch bestimmend wird nicht die Bewegung, sondern die Konversation, der Dialog.

 

© Why Not Productions

 

So führen die beiden Pistolenhelden Eli und Charlie abends am Lagerfeuer differenzierte Debatten über korrekten Sprachgebrauch. Charlie meint, dass sie ihren Auftraggeber, den Commodore, davor zu bewahren hätten, Opfer zu werden – «to be victimized»; Eli glaubt, er hört nicht richtig und hakt nach: «Victimized?» Charlie: «Well, what would you call it? If a man is forced to protect his fortune with the likes of us, what would you call it?» – «Not victimized!» – «You’re not gonna start nitpicking over every word, are you? Stop splitting hairs!» – «I’m not splitting hairs; you’re using a strange word!»

Die Szene am Lagerfeuer macht das Verfahren des Films deutlich: Viel von seinem Charme verdankt The Sisters Brothers der Projektion gegenwärtiger liberaler Sensibilitäten und Anliegen – z. B. Sprachpolitik, die Kritik an tendenziöser, die Tatsachen verfälschender Verwendung von Worten und Begriffen, später im Film kommen die Themen Gier-Kapitalismus und Umweltzerstörung hinzu – auf eine vergangene Zeit und das Männerbild eines oft reaktionären Genres: Wie könnte man Reillys sorgfältig Worte abwägenden und sich die Zähne putzenden Western-Cowboy nicht sympathisch finden? Einfach nett. Audiards Oregon von 1851 ist auch Kommentar, vielleicht sogar europäische Wunschfantasie, zu den Vereinigten Staaten anno 2018.

Als die Brüder Warm und Morris schließlich einholen, scheint ein Miteinander der Männer für einen kurzen Moment möglich, die Verwirklichung der Utopie zum Greifen nahe. Der Film verlangsamt sein Tempo, entwirft ein pastorales Idyll am Gebirgsbach – und lässt in diesem entscheidenden Moment die Zahnbürste wiederauftreten, als Sinnbild kultureller und zivilisatorischer Errungenschaften, auf deren Einhaltung der Film pocht, und die er wilder Natur wie asozialer Gesetzlosigkeit entgegensetzt: Auch Idealist Morris putzt sich täglich die Zähne, wie Eli, und die Kamera mit ihm, aufmerksam registriert.

Es kommt dann doch alles anders; aus Ungeduld und Habgier kippt Charlie zuviel chemische Lösung in den Bach, in dem das Gold liegen soll, Tod und Verderben sind die Folge. Dass der Film die Zerstörung durch toxic waste als direkte Konsequenz einer toxic masculinity betrachtet, macht die Art der Strafe› klar: In einer drastischen Szene wird Charlie der rechte Arm abgesägt, eine kaum verhüllte Kastration. Überdeutlich führt der Film hier noch mal sein Hauptanliegen vor Augen, das er bereits im Titel vor sich herträgt: die Subversion stereotyper Männerbilder, den Widerstand gegen tyrannische Maskulinitäten; ein wiederkehrendes Motiv des Films ist, Überraschung, der Vatermord.

Wobei einige Rezensenten kritisch angemerkt haben, dass die Kritik an überkommenen Männlichkeiten in The Sisters Brothers selbstredend Männersache ist und weitgehend ohne Frauenfiguren auskommt – womit sie Recht haben. Erst ganz am Ende tritt unvermutet, mama ex machina, die Mutter der Sisters-Brüder auf, danach herrscht Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist zwar wiederum eine sympathische Volte – «Wo die wilden Kerle wohnen» wird endgültig zu «Meine kleine Farm» –, storytechnisch aber auch unbefriedigend: Warum, so fragt sich die Zuschauerin, das ganze Theater, das viele Leid und die Toten, wenn Hotel Mama als Option und Heimstätte die ganze Zeit zur Verfügung gestanden hat?

Überhaupt weist die Story einige undichte Stellen und Motivationslücken auf: 180-Grad-Wendungen im Plot geschehen unvermittelt, Gegnerschaften auf Leben und Tod, wie die zwischen den Brüdern und Warm/Morris, lösen sich im Handumdrehen in Nichts auf. Mit seinen plötzlichen, kaum anmoderierten Glückswechseln ähnelt das von Audiard gemeinsam mit Thomas Bidegain verfasste Drehbuch viel eher dem ungestümen Gemüt von Charlie Sisters als Sympathieträger Eli; vieles wirkt schnell hingehuscht.

Vielleicht haben diese Schwächen damit zu tun, dass The Sisters Brothers nicht nur von zwei guns for hire erzählt, sondern auch der Regisseur bei diesem Projekt in gewisser Hinsicht ein gun for hire gewesen ist. Die Idee zum Film stammte nicht von Audiard, sondern vom Schauspieler Reilly, der hier zum ersten Mal als Produzent auftritt, und dessen Ehefrau, der Filmproduzentin Alison Dickey. Die beiden hatten frühzeitig die Rechte für die Romanvorlage vom kanadischen Schriftsteller Patrick DeWitt erworben, die ein Beststeller war, und sich dann auf die Suche nach einem passenden Regisseur für die Verfilmung gemacht.

Audiard, der 2015 mit Dheepan die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, ergriff die Gelegenheit, erstmals auf Englisch mit international bekannten amerikanischen Schauspielern drehen zu können. Er scheint The Sisters Brothers vor allem als Visitenkarte zu begreifen: «It presents me well, because it’s a little witty,» erklärte er im vergangenen Herbst in Toronto, und seine Erfolgsaussichten auf dem nordamerikanischen Markt sieht er positiv: «I think people like me here, they just don’t know me.»

Um dem Abhilfe zu schaffen, fährt The Sisters Brothers ein Großaufgebot an Indie-Arthouse-credibility auf, ist ein echtes all star game: Die Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Bidegain und Kameramann Debie wurde schon erwähnt, hinzu kommt eine Original-Filmmusik vom vielprämierten Alexandre Desplat. Leider plänkelt die freejazzig-nervös vor sich hin, ohne eine eigene Dynamik entwickeln oder Kontrapunkte zu Plot und Bildern setzen zu können. Für den Trailer wurde Desplats kompliziertes Geplänkel interessanterweise mit dem 80er-Feten-Hit Tainted Love ersetzt, wohl ein Versuch der Marketing-Verantwortlichen, mehr Leute ins Kino zu locken. Das hat bis zum jetzigen Zeitpunkt, wenigstens in den USA, nicht so gut funktioniert; hier ist The Sisters Brothers gefloppt, nicht einmal eine Million hat die 38 Millionen Dollar teure Produktion bislang eingespielt.

Einen prominenten Player aus der illustren Produzentenriege – zu der neben Reilly und Dickey u. a. die Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne sowie Christian Mungiu zählen – hat das schon richtig ins Schleudern gebracht: die Produktionsfirma Annapurna Pictures, die seit ihrer Gründung 2011 Kritikererfolge wie Kathryn Bigelows Zero Dark Thirty, Spike Jonzes Her oder P. T. Andersons The Master und Phantom Thread finanziert hat. Geleitet wird Annapurna von der 32-jährigen Megan Ellison, Tochter des Tech-Milliardärs Larry Ellison. Weil Annapurna seit einiger Zeit massive Verluste einfährt, will der jetzt, so berichten Branchenblätter, die Kontrolle übernehmen und eine Umstrukturierung des Unternehmens anleiten. Da sind sie also wieder, die alten Väter mit ihrem Geld, ihrem Einfluss, ihrer Macht; es wäre schade und sicher ungewollt, wenn The Sisters Brothers letzten Endes nur zeigt, dass sie am längeren Hebel sitzen.

 

The Sisters Brothers (Jacques Audiard) USA 2018 | Läuft seit dem 7. März 2019 im Kino