Kunst und Provinz Eher Landkarten als Zeitstrahl: Über Nuri Bilge Ceylan und seinen neuen Film The Wild Pear Tree (Ahlat Agaci)
«Ich möchte Euch Folgendes sagen: Ja, vielleicht bin ich ein Verlierer. Ihr habt mich satt wegen meiner Entfremdung, ich glaube, ich habe kein Talent für gar nichts. Meine Jugend habe ich weggeworfen wie den Stummel einer Zigarette. Ich habe kein Heim, keine Freunde, keinen Job. Meine besten Jahre habe ich damit vergeudet, in dieser Stadt fest zu stecken. Meine Männlichkeit wie auch mein Herz lösen sich vor meinen Augen auf. Lasst mich dies ergänzen: Vor dem Militärdienst wollte ich nichts anderes, als diese Stadt zu verlassen. An jenem Morgen aber fühlte ich eine tiefergehende Bindung an diese Stadt. Der Duft von Pinien lag in der Luft. Die Pinien und Eichen sah ich an diesem Tag zum ersten Mal.» So monologisiert Saffet (Emin Toprak) in Nuri Bilge Ceylans erstem Langspielfilm Kasaba (1997), der den Auftakt zur Provinz-Trilogie des Regisseurs bildet, die mit Mayıs Sıkıntısı (1999) und Uzak (2002) komplettiert wird. Diese von der Welt entfremdete Haltung – eine Mischung aus Ablehnung von und
Verachtung für und gleichzeitig schmerzvoller Verbundenheit mit dem Provinziellen – reicht weit über die Trilogie hinaus und findet sich auch in späteren Filmen, wie zum Beispiel in Kıs Uykusu (2014). Dort ist es Aydin (Haluk Bilgini), der einst erfolgreiche Schauspieler auf den Bühnen Istanbuls, der spät in seinem Leben das Hotel des Vaters in Kappadokien übernommen hat und mit seinem reichlich vorhandenen Geld so etwas wie den Patriarchen des Dorfs gibt und dabei nie die Balance zwischen Leben mit den Menschen und dem moralisch Urteilen über sie findet. Es sind zumeist Künstler, die diese Entfremdung mit sich herumtragen, hier der Schauspieler, in Mayıs Sıkıntısı und Uzak ein Filmemacher, der in ersterem durch sein Heimatdorf geht, um SchauspielerInnen für einen Film über die Provinz zu finden. Ceylans Filme handeln von der Begegnung des Künstlers mit der Provinz und sind es natürlich auch selbst.
In dem 188-minütigen Werk Ahlat Agacı (2018) wird das Thema erneut aufgenommen. Bereits die erste Einstellung ist die Spiegelung des Anfangs von Mayıs Sıkıntısı. Sinan, Lehramtsstudent und Romanautor, sitzt in einem Café am Hafen, wir sehen ihn durch die Frontscheibe, so dass sein frustrierter Blick aus dem Fenster mit dem sich darin spiegelnden Hafenpanorama Çanakkales verschwimmt. In Mayıs Sıkıntısı ist es der Blick Saffets, der sich mit der Straße vor dem Café des Dorfs überlagert, sehnsuchtsvoll den Briefträger erwartend, der ihm das Ergebnis seiner Examensprüfung überbringen wird. Als er erfährt, dass er nicht bestanden hat, ist klar, dass er in seinem Dorf wird bleiben müssen und nicht nach Istanbul gehen wird. Sinan steht die Examensprüfung in Ahlat Agacı noch bevor, zuerst aber fährt er in das nahegelegene Dorf seiner Eltern zurück. Hier Saffets Frustration, das Dorf nicht verlassen zu können, dort Sinans Widerwille, in seine Kleinstadt zurückzukehren.
In Çan findet er seinen Vater kurz vor der Rente wegen Pferdewetten hoch verschuldet vor, die Mutter und die Schwester ertragen es, leiden aber unter dem Leben in Armut mindestens genauso wie unter dem Gerede in der Kleinstadt. Sinan wartet in Çan auf seine Examensprüfung und möchte die Zeit nutzen, um das Geld zur Publikation seines Buches aufzutreiben, das er gegen Ende des Films zynisch als «Abrechnung mit den Menschen in der Provinz» bezeichnet. Er spricht beim Bürgermeister vor, versucht es bei einem ansässigen Kleinindustriellen, trägt nebenbei Konflikte mit seinem Vater aus und begegnet Menschen aus seiner Jugend.
Ceylans Filme erzählen Menschen über Landschaften und umgekehrt. Sie sind fast nie – mit der Ausnahme von Üç Maymun (2008) und Bir Zamanlar Anadolu’da (2011) – in einem klassischen Sinne narrativ. Sie treiben eher vor sich hin, im Laufen der Menschen durch die Landschaften und den Begegnungen in ihnen spannt sich ein Geflecht auf, in dem das Alltägliche der Provinz sichtbar wird: Die Trivialitäten und Rivalitäten, die familiären und finanziellen Verbindungen, die Sedimente der Religion und der Politik, das Soziale wie die Natur und Szenerie. Man kann das beim nachträglichen Versuch des Erinnerns an seine Filme feststellen – meist sind es Situationen oder Ausschnitte der Gegend, die bleiben, eher Landkarte als Zeitstrahl. Und doch hält immer auch etwas minutiös Gebautes die Drehbücher (die meist vom Regisseur und seiner Frau, der Fotografin und Schauspielerin Ebru Ceylan verfasst sind) zusammen, ist ihr Detailreichtum nicht bloß dem Realismus der Filme verpflichtet, sondern der dramaturgischen Konstruktion. Wenn Sinan bei der Ankunft in Çan zuerst einem Juwelier begegnet, der ihn auf die Schulden des Vaters anspricht, taucht dieser später als Bräutigam einer Freundin Sinans auf, die ihm zuvor unter Tränen von dieser Zweckehe erzählt hat. Wenn der Großvater Sinan erzählt, wie dessen Vater als Baby unter einem Baum von Ameisen übersät wiedergefunden wurde, sieht Sinan seinen Vater später unter einem Baum am Grundstück seiner Hütte liegen, schlafend, von Ameisen übersät.
Vermutlich ist dieses Bild – der Kopf des Vaters auf dem Erdboden, Ameisen im ganzen Gesicht, sie krabbeln aus der Nase, er grinst den verstörten Sohn an, der, wie wir, den Vater tot glaubt – ein Verweis auf den Surrealismus, auf Dalí und Buñuel, und ein Schlüssel zu Ceylans Umgang mit dem Realismus. Zugleich kehrt es aber die Verwandtschaft des Regisseurs mit seinen Figuren nochmal hervor: Sinan und Ceylan verbindet der Versuch, sich poetisch dem Provinziellen durch die Brille der kulturellen Bildung, den Intellekt der Metropolen zu nähern. Sinans Distanz, seine dauerhafte Abwehrhaltung, seine zwischen Abneigung und Verachtung changierende Überheblichkeit entspringen auch einer Überbewertung der eigenen Bildung, einer Unfähigkeit, die eigenen intellektuellen Ansprüche in der Realität der provinziellen Welt wiederzufinden.
Ins Surreale verschobene Momente tauchen vereinzelt über den Film verteilt auf: Auf dem Weg durch einen Wald am Rande der Kleinstadt wird das Bild zunehmend heller, bis Sinan an eine Lichtung kommt, in deren Zentrum eine Frau steht, in langem Kleid und Kopftuch, etwa 30 Jahre alt. In der darauf folgenden Unterhaltung mit ihr, sie heißt Hatice, kommt es trotz der zwar zugeneigten und doch auch überheblich-arroganten Art Sinans zu einem Kuss, der in einem Biss endet. Die Inszenierung gleitet hier durch eine Abfolge von die beiden umkreisenden Einstellungen aus unterschiedlichsten Distanzen, das Licht bricht sich in den Blättern und bespielt die bunten Stoffe, der Wind hebt an. Die Wunde wird Sinan den Film hindurch sichtbar an der Lippe mit sich rumtragen und doch ist man sich unsicher, ob das, was man gesehen hat, tatsächlich passiert ist oder eigentlich eine Verschiebung der Wahrnehmung war.
Ceylans Filme werden oft als ruhig und unaufgeregt, fast meditativ beschrieben. Tatsächlich aber sind sie von einer permanenten Spannung durchzogen, die aus der Distanz – der Entfremdung seiner Figuren von der Welt wie auch den surrealen Verschiebungen im Verhältnis zur immer spürbar materiellen, physischen Realität – herrührt. Diese Spannung kippt manchmal in die eine oder die andere Richtung (die Form wird dann freier, ist nicht mehr ganz so an den Figuren orientiert), aber doch eher als minimale, kaum wahrnehmbare Verschiebung, immer an der Schwelle, im Übergang, in der Unentschiedenheit. Die Wahrnehmung des Films trifft sich da mit dem Zustand seiner Welt und ihrer Menschen: Sinan hat das Studium fast abgeschlossen, hofft auf das Examen, rechnet aber mit dem Wehrdienst, hängt erstmal in der Luft. Der Vater ist in den letzten Jahren seiner Tätigkeit, lässt sich gehen, interessiert sich mehr für seine Hütte fernab des Dorfes, der Familie, dem Leben, ist kaum Teil von irgendwas. Und auch die Stadt selbst ist schwer zu beschreiben, ein zerklüftetes Netzwerk aus zeitlichen Schichten, ökonomischen und historischen Strukturen. Bei der ersten, fliegenden Kamerabewegung auf Çan zu folgen wir dem Bus, in dem Sinan sitzt, am Rande der Landstraße tauchen immer wieder Berge von Müll auf, in der Ferne die Kleinstadt, die zur Hälfte aus Gewerbegebiet zu bestehen scheint. Sinans Eltern wohnen in einer heruntergekommenen, engen Bergstraße, am Rand der Stadt klafft eine riesige Sandgrube, dahinter dann der Ruhe ausstrahlende Wald, aus dem eine andere Straße durch ein Neubaugebiet mit Einfamilienhäusern zurück ins Tal und Stadtzentrum führt.
Wir bekommen ein so detailliertes Bild des Ortes, da Ceylans Kino einerseits eines der ausgebreiteten, langen Unterhaltungen, andererseits eines der ausgedehnten Spaziergänge und Wegstrecken ist (und oft trifft sich beides in einem «walk & talk»). Sinan ist permanent unterwegs, läuft in einer Mischung aus gespielter Lässigkeit und tatsächlicher Schwermut hierhin und dorthin, vorbei an einer Baugrube, durch den Zauberwald, zu einer Lichtung, die ein Panorama der Stadt mit der Moschee freilegt, über eine verrostete Brücke am kleinen Güterbahnhof in eine schäbige Straße zum Wettbüro. Die Kamera schwenkt mit ihm mit, folgt ihm den Hügel hinab, fängt ihn von schräg oben ein, ohne dabei je das Gefühl der Kontinuität zu verlieren. Farben, Formen, Strukturen, Texturen von Çan sind in permanenter Bewegung, hervorgerufen durch das Laufen Sinans. Man fühlt sich in diese Welt eingenäht, spürt ihren Atem.
Es ist ein Leichtes, ein solches Kino poetisch zu nennen – Ceylans Filme sind voller magischer, reiner Kinomomente, sinnlicher, Raum und Zeit auflösender, wirklich herausragender, der Realität enthobener, flüchtiger Begegnungen. Zugleich aber sind sie fest in der Realität verhaftet. In der materiellen der Provinz, aber auch in der politischen der Türkei, die immer wieder wie nebenbei in den Film einsickert: Etwa wenn Sinans Freund am Telefon von seiner Arbeit bei der Polizei und der Dresche für linke Demonstranten in dunklen Gassen schwärmt, der Bürgermeister den Einsatz der Partei für die Arbeiter heraufbeschwört, erwähnt wird, dass die Bank keine Gebühren für Überweisungen an die Armee erhebt oder der ortsansässige Unternehmer seine Intellektuellenfeindlichkeit präpotent und überheblich damit argumentiert, dass man schließlich in der Türkei lebe und sich besser anpassen solle.
Nach dem Besuch beim Großvater, der hin und wieder für Imam Heysel das Mittagsgebet übernimmt, begegnet Sinan eben diesem und einem befreundeten Imam aus dem Nachbardorf. Sie sind im Begriff Äpfel zu klauen. Er wirft mit Erdbrocken auf die beiden, läuft triumphierend lachend auf sie zu und zeigt sich zynisch amüsiert, dass selbst die Geistlichen sittlich fehlbar sind. Zu dritt laufen sie zurück in die Stadt und unterhalten sich über die gesellschaftliche Funktion von Religion, den Koran oder die Lackschäden am neu gekauften Moped. Zwischen den Imamen entspinnt sich ein kleiner Streit über eine konservative oder eher reformative Auslegung des Koran. Heysel wirft seinem Freund vor, er wage es zu behaupten, dass der Koran nicht in der Lage sei, die Gegenwart zu interpretieren und warnt vor einer Welt, in der jeder seinem eigenen, individuellen Zugang folgt.
Man kann diesen Gedanken auf Ahlat Agacı und die Mehrzahl der Filme Ceylans übertragen: In 188 Minuten erzählt Ceylan von Landschaften und Politik, von Vätern und Söhnen, der trockenen, mitunter frustrierenden Realität der Provinz und dem magischen Zauber der Begegnungen, von einer zermürbenden Entfremdung von der Welt und den humoristischen Einlagen des alltäglichen Lebens (etwa wenn der Großvater innerhalb eines Schwenks von links nach rechts und zurück eingeschlafen ist). Humanistisch sind Ceylans Filme in dem Nebeneinander aller Figuren und Haltungen zum Leben, in einem Gleichmut und einer Zugewandtheit, die in moralischen, politischen, psychologischen Dingen keine Perspektive im Sinne eines Urteils und eher den schwer zu beschreibenden Zustand der Schwelle, des unentschlossenen Dazwischen einnimmt. In dieser Weise ist Ahlat Agacı ein politischer Film, in seiner Offenheit und Vielfalt, die das Wahrnehmen und Denken in Bewegung hält, ohne je um ein Ding zu kreisen, die eine Perspektive auf eine von Konfliktlinien und einengenden Haltungen durchzogene Welt nahelegt, die die Komplexität der Welt gerade nicht im Korsett provinziellen Denkens beschneiden will.