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Der verspätete Avantgardist Freilaufende Mustererkennung: Über John R. Blakingers Gyorgy Kepes: Undreaming the Bauhaus

Von Roland Meyer

In seinen kühnsten Träumen wollte Gyorgy Kepes eine ganze Stadt aus reinem Licht erschaffen. 1942 war das, und genauer gesagt schlug er vor, das Straßenraster Chicagos als riesige Lichtinstallation mitten im Lake Michigan nachzubilden. In der Nacht hätte man das Muster leuchtender Punkte aus der Luft vom Original kaum unterscheiden können, während die Lichter der Großstadt in flächendeckender Verdunkelung verschwunden wären. Mitten im Zweiten Weltkrieg war ein solch gigantoman anmutendes Projekt allerdings keine bloß ästhetische Träumerei. Kepes’ Idee wurde vielmehr, bis hinauf ins Bürgermeisteramt, als ernstzunehmender Beitrag zur Zivilverteidigung diskutiert: Feindliche Bomber, so die Vorstellung, sollten so dazu gebracht werden, ihre Ladung über der falschen Stadt im See abzuwerfen und die echte zu verschonen. Und es war auch nicht Kepes’ einziges Projekt zur optischen Tarnung und Täuschung im befürchteten Luftkrieg. Ebenso entwarf er mit Reflektorfolien überzogene Ballons, die das Licht von Suchscheinwerfern ablenken und für Verwirrung sorgen sollten, und mobile Lichtkonstruktionen auf Lastwägen, die die rasche Errichtung simulierter Städte im Nirgendwo erlaubt hätten.

Vor allem aber bildete er an der von seinem Lehrer, Freund und Förderer László Moholy-Nagy gegründeten Chicago School of Design, der Nachfolge-Institution des kurzlebigen New Bauhaus, Zivilist*innen in den Grundlagen der militärischen Camouflage aus. Moholy, der erkannt hatte, dass seine notorisch unterfinanzierte Designschule auf diesem kriegswichtigen Gebiet mit reger Nachfrage, öffentlicher Anerkennung und vor allem staatlicher Förderung rechnen konnte, ernannte Kepes großspurig zum «Head of the Camouflage Department» und ließ ihn die Prinzipien von Bauhaus-Pädagogik, Neuem Sehen und Gestalttheorie für die militärische Nutzanwendung aufbereiten.

Für das modernistisch geschulte Auge glich die neue Welt des Luftkriegs exakt jener Welt der Ungegenständlichkeit, in die die europäischen Avantgarden in den 1910er und 20er Jahren aufgebrochen waren: ein grenzenloser dynamischer Raum aus körperlosen Formen und optischen Signalen, in dem die Koordinaten der Alltagswahrnehmung nichts mehr galten. Und zugleich schienen eben jene Avantgarden, mit Moholy als einem ihrer Protagonisten, bereits manches entwickelt zu haben, was sich nun als hilfreich erweisen könnte, um dem Feind die Orientierung zu erschweren, sei es durch das Spiel mit elementaren Figur-Grund-Relationen oder den Einsatz avancierter Medientechnik zur Erzeugung sinnesverwirrender Lichtspektakel.

Der Kriegseinsatz von Kepes und Moholy an der amerikanischen Heimatfront steht im Zentrum des ersten von sechs Kapiteln der überaus lesenswerten neuen Kepes-Monografie des amerikanischen Kunsthistorikers John R. Blakinger. Der Einstieg ist klug gewählt, nicht nur, weil Blakinger diese kaum bekannte Episode auf Basis bislang unbekannter Archivdokumente detailliert rekonstruieren kann. Vor allem bündeln sich in Kepes’ Tarnungsprojekten viele der Themen, die den 1908 in Ungarn geborenen Künstler und Autor ein langes Leben hindurch beschäftigt haben: Licht als Medium einer Kunst, die die Grenzen des Tafelbildes hinter sich lässt und künstliche Umwelten bislang unbekannten Maßstabs projektiert; die Auflösung der physischen Welt in immaterielle Muster und Strukturen; sowie der Glaube an die universelle Anwendbarkeit jener elementaren Gestaltungsprinzipien, die in den 1920er Jahren am Bauhaus und anderswo in Europa entwickelt worden waren. Mit den Camouflage-Studien kündigt sich allerdings auch ein weiteres Thema an, das Blakinger mit seinem Buch in den Fokus rückt: Kepes’ Nähe zu dem, was nach 1945 als militärisch-industrieller Komplex hervortreten sollte.

Diese Nähe zieht sich wie ein roter Faden durch Kepes’ Karriere, die sich weitgehend außerhalb der Kunstwelt abspielte. Während New York in der Nachkriegszeit zur Welthauptstadt der zeitgenössischen Kunst aufstieg, schuf sich Kepes am Bostoner MIT, wo er von 1945 an mehr als drei Jahrzehnte lang unterrichtete, seine eigene kleine Welt. Hier, im Zentrum der im Kalten Krieg üppig aus Verteidigungsbudgets alimentierten Hochtechnologie-Forschung, umgab er sich mit Wissenschaftlern, Ingenieuren, Architekten und Designern (fast ausschließlich Männern), mit denen er in Forschungs-, Ausstellungs- und Publikationsprojekten zusammenarbeitete. Und hier baute er schließlich seinen eigenen interdisziplinären Think Tank auf, das 1967 gegründete Center for Advanced Visual Studies (CAVS). Ausgestattet mit eigenen Ateliers und einem Stipendienprogramm für Künstler*innen, sollte das CAVSkünstlerische, wissenschaftliche und technische Expertise zusammenbringen, um eine neue Kunst urbanen Maßstabs auf der Höhe der avanciertesten Technologien zu entwickeln. Kepes, der nie am Steuer eines Autos saß und sich bis 1969 weigerte, einen Fernseher anzuschaffen, wurde so zum Hohepriester einer Versöhnung von Kunst und Technik, der auch in Zeiten von Vietnamkrieg und nuklearer Bedrohung der frohen Botschaft des Bauhauses die Treue hielt.

Vom etablierten Kunstbetrieb dagegen isolierte er sich zunehmend. Die heroischen Gesten der abstrakten Expressionisten, die kalkulierten Tabubrüche von Fluxus und Happening, die subversive Ironie der Pop Art – das alles blieb Kepes fremd. Erst mit der kurzlebigen Art&Technology-Bewegung Ende der 1960er Jahre fand er wieder vorübergehend Anschluss an den Mainstream. Für einen Ehrenplatz in der Kunstgeschichte hat das nicht gereicht, wohl auch, weil er kein kunstmarkttaugliches und musealisierbares Werk hinterlassen hat. Ursprünglich als Maler ausgebildet, betrieb er die Malerei schließlich nur noch in seiner Freizeit. Sein grafisches und fotografisches Werk blieb im Schatten Moholys, und die wenigsten seiner ambitioniert geplanten kinetischen Lichtinstallationen wurden je verwirklicht. Als sein eigentliches Vermächtnis kann neben dem CAVSdaher Kepes’ publizistisches Werk gelten, dem Blakinger mit drei Kapiteln rund die Hälfte seines Buches widmet.

Das Frühwerk Language of Vision (1944), das als praktische Einführung in die Gestalttheorie zum Klassiker der Designausbildung wurde, spielt dabei nur eine Nebenrolle. Ausführlicher wendet sich Blakinger jenen Büchern zu, mit denen Kepes gleichsam ein eigenes Genre begründete: The New Landscape in Art and Science (1956) sowie die siebenteilige Vision+Value-Reihe (1965–1972). Sie resultierten aus Kepes’ Unterricht an der School of Architecture and Planning am MIT, wo er unter dem Label «Visual Design» so unterschiedliche Wissensfelder wie Gestalttheorie und Kybernetik, biologische Systemtheorie und kunsthistorische Formanalyse zu einer, wie Blakinger schreibt, «theory of everything» synthetisierte. In diesen Bänden, ebenso wie in den ausufernden Vorarbeiten für sein unvollendetes Hauptwerk, das Light Book, erweist sich Kepes als wilder Bildersammler und ebenso wilder Leser, der sich kreuz und quer durch Natur-, Human- und Ingenieurwissenschaften arbeitete.

Für The New Landscape, dem eine gleichnamige Ausstellung am MIT voranging, konnte Kepes sich großzügig in den Laboratorien seiner Kollegen bedienen, um eine eklektische Sammlung wissenschaftlicher Bilder zusammenzustellen: Kathodenstrahl-Oszillogramme und Mikrofotografien von Kristallstrukturen, Lichtenberg-Figuren, wie sie durch Entladung elektrischer Hochspannung entstehen, und Luftaufnahmen der Erdoberfläche, die von ballistischen Raketen aufgenommen wurden. Ohne Rücksicht auf Entstehungskontexte und Verwendungsweisen kombinierte Kepes diese und andere Bilder nicht nur miteinander, sondern ebenso mit moderner Kunst, Höhlenmalerei oder Kinderzeichnungen zu suggestiven Arrangements.

Das Ergebnis war eine ganz eigene Form der Sehschulung: In Kepes’ freilaufender Mustererkennung fügte sich, was zunächst chaotisch und widersprüchlich wirkte, zu einer geordneten Welt wiederkehrender patterns, die Makro- und Mikrokosmos, Natur und Kultur gleichermaßen durchzogen. Dieses Sehen von visuellen Analogien in disparaten Bildermengen, das er interseeing oder pattern-seeing nannte, adelte er zum kreativen Erkenntnisinstrument eigenen Ranges und holte sich dafür prominente wissenschaftliche Unterstützung. Norbert Wiener, der Vater der Kybernetik, schrieb ebenso einen Beitrag für The New Landscape wie der Semiotiker Charles Morris.

Mit der Vision+Value-Reihe ging dieses Buchkonzept dann in den 1960er Jahren in Serie. Stets illustriert von einem programmatischen Bildessay von Kepes, versammeln diese Bände ein bis heute beeindruckendes Who is Who der zeitgenössischen Wissenschaften und Künste, von Rudolf Arnheim und Heinz von Foerster über John Cage bis zu Marshall McLuhan. Dabei scheute Kepes sich nie, auch unvereinbare Positionen unvermittelt nebeneinander zu stellen. Bewusst waren seine konzeptuellen Vorgaben so unbestimmt gehalten, dass sie nach allen Richtungen hin anschlussfähig blieben. Themen wie Structure in Art and Science (1965) oder Sign Image Symbol (1966) schienen nicht dazu gedacht, erschöpfend behandelt zu werden – sie dienten als bloße Stichwörter, um ein möglichst weitgespanntes Spektrum an Bildern und Ideen miteinander zu kombinieren. Selbst wohlwollenden Kritiker*innen erschien der Inhalt der Bände disparat und widersprüchlich. Doch darum ging es auch nur am Rande. Für Kepes, der offensichtlich alles und jeden miteinander vernetzen konnte, war die interdisziplinäre Kommunikation und Kollaboration vielmehr zum Selbstzweck geworden. «The names are the only real contents that matter», wie Blakinger treffend konstatiert.

Eine Karriere wie die von Kepes, die von den strukturellen Zwängen des akademischen Betriebs, von Projektanträgen, Institutsgründungen und der beständigen Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten geprägt war, taugt kaum für Heldengeschichten, wie sie gerade die amerikanische Kunstgeschichte gerne erzählt. Der Architekturtheoretiker Reinhold Martin hat daraus bereits vor Jahren die Konsequenz gezogen, Kepes in seinem Buch The Organizational Complex (2003) gleichsam in der Schurkenrolle auftreten zu lassen. Kepes’ pattern-seeing erscheint hier als Verrat der Kunst an die technokratische Organisationslogik von Kybernetik, Informations- und Systemtheorie. Indem er die Leitwissenschaften des Kalten Krieges ästhetisch überhöhte, offenbart sich Kepes für Martin als politischer Reaktionär, künstlerisch wie moralisch gleichermaßen korrumpiert.

Gegen diese einflussreiche Deutung schreibt Blakinger an. Sein Kepes ist ein zerrissener Held, der im Herzen der militärisch-industriellen Finsternis die Fackel der künstlerischen Imagination hochhielt, auch wenn er sich dafür als Technokrat tarnen musste. Doch lässt sich in Kepes’ ästhetischem Spiel mit den Bildwelten der Wissenschaft, das sich um deren epistemische Funktionen nichts scherte, tatsächlich ein subversiver «Gegendiskurs» zum dominanten Rationalismus am MIT erkennen? Wollte Kepes wirklich «das System», das er im Grunde verabscheute, von innen heraus transformieren? Blakinger ist davon überzeugt, auch gegen Kepes’ explizite Programmatik. Doch die Vorstellung, dass Kunst sich kritisch-subversiv an dominanten Machtstrukturen abzuarbeiten habe, ist ein Erbe der Neo-Avantgarden der 1960er Jahre, denen der verspätete Avantgardist Kepes mit weitgehendem Unverständnis gegenüberstand.

Überzeugender ist Blakinger dort, wo er Kepes als widersprüchliche Figur zeichnet, die sich keineswegs reibungslos in den Forschungsbetrieb am MIT einfügte. So ließ es sich Kepes nicht nehmen, zusammen mit Noam Chomsky gegen den Krieg in Vietnam zu protestieren, auch wenn er kein Problem damit hatte, sich für die aufwendigen Ausstellungsprojekte des CAVS von Technologiefirmen unterstützen zu lassen, die von eben diesem Krieg profitierten.

Doch seine stärksten Momente hat das Buch, wo sein Autor nicht seiner – regelmäßig an den Kapitelenden auftretenden – Neigung nachgibt, Kepes zum romantischen Utopisten zu überhöhen, sondern sich einen nüchternen Blick auf die ästhetischen und institutionellen Strategien seines Protagonisten erlaubt. «Allow me to be cynical», so oder ähnlich entschuldigt sich ....Blakinger immer dann, wenn er scharf analysiert, wie Kepes Bilder und Ideen nicht nur von ihren Kontexten, sondern auch weitgehend von allen Bedeutungen befreite; wie er sein Projekt des «Visual Design» strategisch klug im Netzwerk der Wissenschaften positionierte; oder wie er die meist unverwirklichten künstlerischen Großprojekte seines Centers dazu nutzte, in Hochglanzprospekten um Stiftungsgelder für weitere Projekte zu werben. Anders als für seinen Biografen scheint für Kepes selbst solch ein taktisches Agieren in den Förderstrukturen des Kalten Krieges nie im Widerspruch mit seiner Treue zum avantgardistischen Erbe gestanden zu haben. Und warum sollte es auch? Schon das Bauhaus war nicht bloß ein Traum, wie Blakingers Untertitel Undreaming the Bauhaus suggeriert, sondern eine höchst reale Institution, deren Partner in Wissenschaft und Industrie, darunter etwa die Dessauer Junkers-Werke, keineswegs nur vom utopischen Geist der Harmonie zwischen Kunst und Technik beseelt waren.

«He cared less about art and more about systems», so charakterisiert Blakinger seinen Helden an einer Stelle. Auch, weil er nie müde wurde, im Chaos der Welt nach Mustern und Strukturen zu fahnden, konnte sich Kepes geschmeidig in unterschiedlichen sozialen Systemen bewegen. Als Pionier einer projektorientierten künstlerischen Forschung, die geschickt mit institutionellen Vorgaben wie interdisziplinären Erwartungen zu spielen imstande war – unter weitgehender Absehung von allen inhaltlichen Festlegungen –, erweist sich dieser verspätete Avantgardist letztlich als überaus heutiges Modell künstlerischer Subjektivität. Zugleich zeigt sich im Blick auf eine Figur wie Kepes, wie tief die mittlerweile schal gewordenen Versprechen universeller Kommunikation und Vernetzung in den avantgardistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts wurzeln – auch und gerade in jenen, die sich die Technologien heißer wie kalter Kriege für ästhetische Zwecke aneignen wollten. 

 

John R. Blakinger: Gyorgy Kepes: Undreaming the Bauhaus (MIT Press 2019)