Fotografische Sozialität Über Nathan Jurgensons The Social Photo: On Photography and Social Media
Was ist das Soziale der Fotografie? Die Tatsache, dass hier in der Regel ein Mensch mit einer Kamera in einem (oft ebenfalls menschlichen) Umfeld aktiv wird und dieses abbildet? Der Umstand, dass Fotos – vor allem in analogen Album-Zeiten – in der Gruppe (z. B. mit der Familie oder Freund*innen) angesehen wurden? Oder das Bestreben, soziale Verhältnisse in der Fotografie abzubilden – wie es sich beispielsweise, als wohl bekannteste Institution, die Farm Security Administration in den 1930er bis 1940er Jahren zum Ziel setzte, als sie die arme Landbevölkerung der USAablichtete, um deren missliche Lage zu dokumentieren und gesellschaftlich sichtbar werden zu lassen?
Wer sich auf Fragen wie diese einstellt, wenn er Nathan Jurgensons Buch The Social Photo zur Hand nimmt, liegt falsch. Denn interessanterweise definiert der studierte Soziologe und selbsternannte «social media theorist» an keiner Stelle, was er mit dem «social» in «social photo» eigentlich genau meint. Stattdessen scheint die Legitimation der Bezeichnung des ‹sozialen Fotos› allein der Tatsache zu entspringen, dass er sich vorrangig mit dem Auftreten von Fotografie in «Social Media» auseinandersetzt. – Das «social photo» also lediglich eine Untergattung von «Social Media» im weiteren Sinne?
So einfach macht es sich Jurgenson in seinen Betrachtungen des Phänomens dann doch nicht. Vielmehr zielt sein Buch darauf ab, den zeitgenössischen, fotografischen Bildgebrauch in seiner Ubiquität und strukturellen sowie soziokulturellen und historischen Verfasstheit genauer ins (prominent auf dem Cover verewigte) Auge zu fassen und herauszuarbeiten, was genau es eigentlich ist, das den aktuellen Umgang mit Fotografie in digitalen, smart-mobil-vernetzten Umgebungen kennzeichnet.
Dazu widmet er sich in zwei längeren Kapiteln Aspekten der «Documentary Vision» und des «Real Life», sowie in einem kurzen Ausklang der Frage, inwiefern neben «social photo» auch «social video» in «social media» eine Rolle spielt. So viel (neudeutsch ausgedrücktes) ‹Gesozialize› nimmt dann auch weit vernetzte Bahnen, die leider nicht immer ganz klar ineinander übergehen. Doch der Reihe nach. Was Jurgensons Grundinteresse anstachelt ist zunächst das Aufkommen von Fotografie-Apps wie Instagram und Hipstamatic, die dafür sorgen, dass Bilder nicht ‹einfach nur gemacht›, sondern gleichzeitig mit reichlich Vintage-Charme ausgestattet werden. In dieser – vor allem für die Frühphase digitaler Sharing-Fotografie gültigen – Befilterung von Bildern sieht Jurgenson einen Anlass gegeben, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Vorstellungen von Sozialität sich hier manifestieren (sprich: Teilen als soziale Teilhabe, Filtern als fiktionale Verbesserung des Faktualen etc.). Das Foto wird also zu einem Bild stilisiert, das Auskunft gibt über seine*n Fotograf*in, das geteilt wird, um von anderen angesehen zu werden, und das in seinem Erscheinen schon eine Vergänglichkeit aufgeprägt bekommt, die es im Jetzt bereits als Teil einer Geschichte bzw. als Dokument eines subjektiven Erlebens imaginiert.
Der künstliche Anstrich der historischen Wertigkeit steht dabei im Widerspruch zur eigentlichen Kurzlebigkeit und Banalität dieser Bilder (Essen, Selfie, Sonnenuntergang). Doch was dieser Widerspruch offenlegt, so Jurgenson, sei die neue Funktionalität, die diese Bilder innehätten – nämlich nicht mehr als ästhetisch gehaltvolle Einzelwerke aufzutreten, sondern als schnell konsumierbare Vehikel von Kommunikation. In dieser Hierarchie-Verschiebung verankert er dann auch seine Definition von «social photography»: «what fundamentally makes a photo a social photo is the degree to which its existence as a stand-alone media object is subordinate to its existence as a unit of communication.» (S. 9)
Der Anspruch, als Kommunikationsmedium zu dienen, ist es also, der das Foto «social» macht, so Jurgensons These, die aber – wenn man es genau nimmt – nicht seine These ist, sondern so oder ähnlich schon von anderen, die er auch nennt, aufgestellt wurde (van Dijck, Ritchin etc.; S. 13). Das verweist auf eines der wesentlichen Probleme dieses Buches: So sehr Jurgenson bemüht ist, in flottem, slogan-artigem ‹academic bloggo speech›, garniert mit entsprechenden Verweisen auf die ganz Großen der Sozial-, Kultur- und Medientheorie, zu belegen, warum denn nun aktuelle fotografische Bildpraktiken «social» seien, so hat man beim Lesen doch den Eindruck, dass man das alles schonmal irgendwo gehört oder gelesen hat.
Es mag daher Jurgensons Verdienst sein, dass er diese Debatten schlaglichtartig einfängt – und man bekommt Lust auf eine Lektüre der Texte, die er als Referenzen angibt; aber damit ist sein Buch ein seltsam verqueres ‹Referenzwerk›, das sich nämlich nicht selbst zur Referenz anbietet, sondern lediglich Referenzen anteasert.
Und davon noch nicht mal genug. Denn die vorgebrachten Argumente für die Notwendigkeit seines Buches – und der Betrachtung von Fotografie als «sozial» – stützen sich auf die Annahme, dass diesem Phänomen noch viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden sei in der gesellschaftlichen und akademischen Debatte, dass die Fotografietheorie hier noch hinterherhinke ebenso wie die Soziologie, dass bisher der Fokus meist – aus dem kunstgeschichtlichen Kontext heraus – auf dem*der Fotograf*in als Künstler*in läge oder allein auf der Technik (S. 9ff.).
Das ist schlichtweg falsch bzw. einseitig recherchiert, denn gerade zum Selfie sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen und Texte entstanden, die vor allem dessen Einbindung in kommunikative Kontexte bzw. seinen Status als Bild und (soziale) Praktik gleichermaßen in den Blick nehmen und die von Jurgenson nicht genannt werden. So finden – rein exemplarisch – weder Brooke Wendts The Allure of the Selfie (2014) noch Jill Walker Rettbergs Seeing Ourselves Through Technology (2014) Erwähnung, zwei ähnlich wie Jurgensons Buch knapp gehaltene, akademisch-essayistische Stellungnahmen zum Thema, die sogar ebenfalls das ‹Filtering› und die kommunikative Dimension der digitalen Selbst-Fotografie thematisieren und die seinerzeit (obwohl qualitativ durchwachsen) zumindest als initiale Texte für die aufkeimende ‹Selfie-Forschung› galten. Ihnen folgten vielfältige kleinere und größere Arbeiten nach, was nicht heißt, dass das Feld vollständig erschlossen, aber doch, dass es zumindest nicht (sozial) vernachlässigt ist.
Die Feststellung, das aktuelle, digital gefertigte und vernetzte Foto sei chronisch unterforscht, mag auch daher rühren, dass große Teile von Jurgensons Buch seinen Beiträgen und Artikeln aus den Jahren 2011 bis 2013 entspringen, die er für seinen co-herausgegebenen Blog Cyborgology sowie The New Inquiry und andere geschrieben hat. Schaut man also über das Buch hinaus in diese älteren Texte, so funktionieren Jurgensons Argumente zeitgenössisch (bzw. historisiert) gleich viel besser – ebenso wie der locker-flockig/locker-bloggig daherkommende Schreibstil.
Und auch eine explizite Auseinandersetzung mit der Konzeption des Begriffs «Social» (mit großem S) im Kontext von «Social Media» sowie im Abgleich zum allgemeineren Bedeutungsrahmen des Begriffs «social» (mit kleinem s) ist dort von ihm (in Co-Autor*innenschaft mit Whitney Erin Boesel, Cyborgology 2012) zu finden. Schade, dass Jurgenson sich entschieden hat, in seinem Buch genau diese Aspekte nicht mit aufzunehmen.
Doch The Social Photo – als Idee, Konzept und Buch – soll hier nicht vollständig verworfen werden. Vielmehr kann man Jurgensons Text mit viel Vergnügen und auch Wissensgewinn lesen (vor allem, wenn man sich erstmal grob einarbeiten will ins Feld und keinen zu großen Anspruch auf breiteste, wissenschaftliche Verankerung legt). So sind einige seiner Begrifflichkeiten durchaus sinnig zur Beschreibung bestimmter struktureller Zusammenhänge und Phänomene – wie etwa die Unterscheidung von «scene» und «stream» (S. 14), die er (leider nur kurz) anskizziert, um das Spannungsverhältnis zwischen Einzelbild (als Szene) und Kontext seines Erscheinens (in Reihe) zu bestimmen. Oder auch seine Konturierung eines «documentary consciousness», in dem die Welt stetig auf ihr dokumentarisches Potenzial hin befragt wird, was vor allem in der Social Media-Fotografie schön zu beobachten sei.
Noch am überzeugendsten ist das Buch schließlich dann, wenn Jurgenson unter dem (schon aus seinen vorherigen Texten bekannten) Begriff des «digital dualism» zur Fundamentalkritik an der Unterscheidung von online und offline ansetzt. «There was and is no offline» (S. 68), lautet dabei sein Credo, «[w]e can’t log off» (S. 69). Die ‹digital dualistische› Vorstellung, es gäbe eine klare Trennung zwischen Virtualität und Realität sieht er als größtes Problem einer Netz-Kritik, die an den eigentlichen Problemen von Online-Kultur vorbei geht. Nicht die Tatsache, dass wir online sind, sei das Problem, sondern welche Angebote dort verfügbar seien und wie die Anbieter dort agierten. Und ohnehin sei das Offline ohne das Online nicht zu denken und die aktuelle Aufwertung des ersteren erst durch eine Vorstellung von letzterem überhaupt möglich.
Seine Argumente gegen das schlechte Gewissen derjenigen, die gefühlt zu oft den Blick gen Smartphone senken, und seine klare Absage an sämtliche Formen des «digital detox» und alle «disconnectionists» liefern somit bei Bedarf Anregungen für aktuelle Netz- und Vernetzungsdebatten beim geselligen Socializen auf der nächsten Party (wenn man denn vom Screen aufschaut).
Die Stellen, an denen Jurgenson sich quasi zum Begründer einer ‹Smartphone Positivity›-Bewegung aufschwingt, sind also der gewinnendste Teil des Buches. Jedenfalls wird der als asozial gebrandmarkte ständige Blick auf das Handy (im australischen Marketing-Sprech übrigens kurz ‹Phubbing› genannt) von Jurgenson als Sozialverhalten rehabilitiert.
Dennoch bleibt es dabei, dass The Social Photo in seiner teilweisen ‹obviousness›, im zu starken Verbleib im leicht angestaubten Selbstzitat und einer gewissen Redundanz nicht uneingeschränkt überzeugt. Eine etwas fundierter ausgearbeitete Variante seiner Kritik am «digital dualism» und/oder ein Manifest zur Anerkennung der Verschränkung von Bildlichkeit, Konnektivität und Sozialem wäre allerdings sicher – auch aus der Feder Jurgensons – eine noch lohnendere Lektüre.
Nathan Jurgenson: The Social Photo: On Photography and Social Media (Verso 2019)