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Gegen Engel kämpfen Über den Fan Service von Hideaki Annos Anime-Kosmos: Neon Genesis Evangelion

Von Maren Haffke

© Gainax | Tatsunoko

 

Für über ein Jahrzehnt waren die DVDs des kostspieligen und in Teilen vergriffenen «Platinum Edition»-Boxsets aufgrund laufender Lizenzverhandlungen der im Grunde einzige – legale – Weg, Neon Genesis Evangelion (1995/96) zu sehen. Dass die Serie und die beiden Filme Evangelion: Death and Rebirth (1997) und The End of Evangelion (1997) seit Juni 2019 über Netflix weltweit verfügbar sind, ist daher eine gute Nachricht. Neon Genesis Evangelion gilt als Meisterwerk. Der legendäre Ruf der von Regisseur Hideaki Anno entwickelten Serie reicht weit über die Fankulturen erklärter Anime-Liebhaber*innen hinaus, die sich auf Foren wie evageeks.org der Exegese der komplexen (und komplizierten) Show widmen. Netflix’ Ankündigung, Neon Genesis Evangelion fast 25 Jahre nach der Erstausstrahlung erstmals einem breiten Publikum zugänglich zu machen, wurde dementsprechend zunächst mit großem Enthusiasmus begrüßt. Die Freude der Fans währte gleichwohl nicht lang. Nicht nur die für den Release neu angefertigte englische Synchronfassung stieß auf Ablehnung, die Entscheidung des Streamingdienstes, die Lizenz zur Nutzung der Abspannmusik für Regionalcodes außerhalb Japans nicht einzuholen, löste in Teilen der Fancommunity Fassungslosigkeit aus: Statt 26 verschiedene, je auf die Episode reagierende Versionen des Bart Howard-Songs Fly me to the Moon erklingen am Ende der Folgen nun 26 Wiederholungen ein und desselben melancholischen Piano-Instrumentals, während Netflix-typisch ein 15-sekündiger Countdown zum Autostart der nächsten Episode runterzählt. Für Fans der Serie, die den Soundtrack als Teil der Erzählung begreifen, ein Eingriff in die Integrität des Werks.

Noch am Tag des Netflix-Releases, dem 21.6.2019, wird auf change.org eine Petition veröffentlicht, die von Seiten des Streamingdienstes die Lizensierung des Original-Abspanns für den westlichen Markt einfordert: «Help create a positive impact on the world by convincing Netflix to fix their egregious error.» Mehrere weitere Petitionen verlangen von Netflix die Inklusion alternativer Dubs in den Sprachoptionen, sowie eine völlige Neuanfertigung mit den Sprecher*innen der ersten englischsprachigen Synchronfassung: «Netflix has the rights but instead of giving the fans what they want and hiring the original English dub cast for the redub they decided to not even give them a fair chance […]». Man kann über die Angemessenheit der Kritik diskutieren. In der Tat ist es bedauerlich, dass mit den Abspannthemen eine ungewöhnliche und gelungene Strategie genuin musikalischer Handlungsentwicklung des von Shiro Sagisu umgesetzten Soundtracks wirtschaftlichen Erwägungen nachgestellt zu werden scheint. Auch die Vorbehalte gegen Anpassungen der Übersetzung aus dem Japanischen, in denen Fans Abschwächungen des Tons und an einer Stelle queer-erasure ausmachen, mögen berechtigt sein. Zugleich verweisen die wütenden Reaktionen der Fans auf allgemeine Verschiebungen, die sich unter den Bedingungen der Feedbackmechanismen digitaler Aufmerksamkeitsökonomien im Verhältnis von Kulturproduzent*innen, Distributor*innen und Publikum ergeben.

Unzufriedenheit mit kreativen Entscheidungen audiovisueller Unterhaltungsmedien in Form von Petitionen an die produzierenden und vertreibenden powers that be zu richten, ist im Jahr 2019 nichts Ungewöhnliches. Es lohnt sich umso mehr die Einzelfälle zu unterscheiden. Ob Fans, wie im Fall von Star Wars – The Last Jedi, zum rassistischen und sexistischen Harrassment von Schauspielerinnen aufrufen, oder, wie im Fall der letzten Staffel von Game of Thrones, dem durchaus nachvollziehbaren Ärger über lazy writing Luft machen, ist nicht trivial. Neon Genesis Evangelion ist für eine Annäherung an diese Konstellationen ein interessanter Gegenstand. So gründet der legendäre Status der Serie und ihrer Filmsequels nicht zuletzt auf dem radikalen künstlerischen Umgang der Show mit der Frage, was das genau heißt: den Fans zu geben, was sie wollen. Annos apokalyptische Erzählung ist eine düstere Metafiktion über die Verwicklungen einer auf maximales Engagement getrimmten Unterhaltungsindustrie in die Begehren ihres Zielpublikums.

Drei jugendliche Protagonist*innen kämpfen in Neon Genesis Evangelion im Auftrag einer geheimnisvollen Organisation gegen abstrakte Mächte, die ohne Erklärung in ihre Welt einbrechen. Engel werden die unheimlichen Wesen genannt, die immer wieder vor Tokio 3 erscheinen, um die Infrastruktur der Stadt in Schutt und Asche zu legen. Die einzigen Waffen, die ihnen etwas entgegensetzen können, sind die Evangelions, vermeintliche Kampfroboter, deren hausgroße Körper von Kindern gesteuert werden. 14 Jahre alt sind Shinji, Asuka und Rei, sie alle wurden nach dem ‹Second Impact› geboren, einem katastrophalen Ereignis, das im Jahr 2000 große Teile der Weltbevölkerung auslöschte. Jetzt, 2015, ist es die Aufgabe der schlicht «Children» genannten jugendlichen Piloten, den ‹Third Impact› zu verhindern – das Ende der Welt. Hineingeboren in einen Konflikt, den sie nicht verursacht haben, über den sie nichts wissen, der ihre Kräfte und ihr Verständnis übersteigt, versuchen die Children vor allem den Kopf über Wasser zu halten. Tatsächlich hätten sie gute Gründe, die gewaltige Verantwortung zu scheuen. Die Autoritäten, die vorgeben, die Apokalypse abwenden zu wollen, arbeiten in Wahrheit an ihrer Beschleunigung.

Verlustreich, traumatisch und repetitiv sind die Kämpfe gegen die Engel, sie bieten keine Katharsis. Vor allem der sensible Shinji leidet unter der aussichtlos anmutenden Situation. Shinji, die Identifikationsfigur des Publikums, ist kein Held. Der Sohn des zwielichtigen Kommandanten Gendo Ikari reagiert auf die unmöglichen äußeren Anforderungen mit Selbsthass, Handlungshemmung und Flucht in die Innerlichkeit. «In dieser Welt ist zu viel Schmerzhaftes, ich kann nicht in ihr leben», ruft er an einer Schlüsselstelle aus. Sein eigenes Unbewusstes antwortet, indem es ebenso pointiert wie poetisch seine eskapistischen Tendenzen problematisiert: «Du meidest Unangenehmes, machst Dich für alles blind und taub. Du kannst nicht die schönen Momente des Lebens nehmen und wie Gänseblümchen verflechten.» Shinji, Stellvertreter des Publikums, fragt zurück: «Etwas Schönes finden, und es immer wieder machen, was ist falsch daran?» Neon Genesis Evangelion findet die denkbar radikalste Entgegnung: Es ist das Ende der Welt. Nicht der mysteriöse Feind von außen, sondern der regressive Wunsch nach einem Leben, das aus differenzloser Selbstbestätigung besteht, löst die Apokalypse schließlich aus.

Der Mythos von Neon Genesis Evangelion ist der Mythos seiner Produktion. Vier Jahre hat Regisseur Hideaki Anno nach eigener Aussage in einer tiefen Depression verbracht, als ihn der Auftrag erreicht, mit seinem Studio Gainax eine Anime-Serie für TVTokyo zu produzieren. Die Entscheidung fällt auf eine Geschichte im Mecha-Genre, die narrativen und ästhetischen Eckdaten sind damit gesetzt: Giant Fighting Robots und Pretty Girls – Fan Service. Der Begriff der Dienstleistung hat im Kontext von Anime eine ganz konkrete Bedeutung. ‹Service-Shots› werden fetischisierende Bilder von Frauen- und Mädchenkörpern genannt, die in Fernsehausstrahlungen zumeist als Vorschau auf kommende Episoden eingesetzt werden, um das Publikum zum Einschalten in der Folgewoche zu bewegen.

Auch Neon Genesis Evangelion ist zunächst entsprechend dieser Formel inszeniert. Anders als in der Produktion von Fernseh-Anime üblich, ist die Serie zu Beginn der Ausstrahlung nicht fertig gescripted. Anno und sein Team entwickeln den Plot während der Ausführung, indem sie einem grob skizzierten Fahrplan folgen. Nach etwa der Hälfte der Laufzeit wird die Planung in Gänze verworfen. Dass der zweite Teil von Neon Genesis Evangelion etwas völlig anderes wird, als der erste vermuten lässt, löst unter den Fans einen enormen Backlash aus. Beides, die Kursveränderung und die negative Fanreaktion, begründen den kritischen Erfolg und die anhaltende Relevanz der Serie und ihrer Sequels.

Am 20.03.1995 verüben fünf Mitglieder der Omu-Shinrikyo-Sekte zur Hauptverkehrszeit einen Saringas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn, der 23 Menschen das Leben kostet und mehrere tausend zum Teil schwer verletzt. Die international als Aum-Sekte bekannte Gruppierung ist ein apokalyptischer Kult, der mit Hilfe des Attentats das von ihnen auf 1997 datierte Ende der Welt beschleunigt herbeiführen möchte. Anno reagiert, indem er einen Teil bereits fertig gestellten Materials aus der Verlaufsplanung streicht. Seine Entscheidung wird seine Mitarbeiter*innen und ihn an die Belastungsgrenze führen. Bis zum Finale der Serie arbeiten sie auf Hochtouren daran, zu den feststehenden Sendezeiten überhaupt etwas abliefern zu können. Die völlige Neuausrichtung der laufenden Planung mitten im Produktionsprozess hat ebenso inhaltliche wie formale Konsequenzen. Das arbeitsaufwändige Verfahren der Cel-Animation verfügt technisch über interne Leistungslimits, die zu unterschreiten die Bildsprache notwendig transformiert. Die Mitarbeiter*innen von Studio Gainax entwickeln unter den schwierigen Bedingungen ästhetische Strategien, die den Zusammenbruch der Produktion zum Teil der Erzählung machen. In den letzten Folgen wird das Ende der Welt auch formal zu einer Übung im Verschwinden, Ab- und Aufbrechen. Ein Experiment ist zumal die Fortentwicklung der Serienhandlung, die unter dem Eindruck des Anschlags eine Wendung ins Psychoanalytische nimmt. Sie kennzeichnet eine Reformulierung der Frage, mit welcher Form von Service Fans zu dienen ist.

Es ist nicht nur die augenscheinliche Nähe des apokalyptischen Narrativs der Aum-Sekte zu der apokalyptischen Verschwörung innerhalb seiner Geschichte, die Anno die Angemessenheit einer Fortführung seines geplanten Plots überdenken lässt. Es sind unbehagliche strukturelle Parallelen, die er zwischen der freiwilligen Isolation der Kultmitglieder und den eskapistischen Tendenzen der Fankultur ausmacht, als deren Teil er sich begreift. Die Selbstidentifikation als Teil der Anime-Community unterscheidet Anno von anderen anerkannten japanischen Animationskünstler*innen, deren Arbeit internationale Mainstream-Erfolge feiern konnte. Anime-Regisseure wie Hayao Miyazaki und Isao Takahata vom Studio Ghibli (u. a. Die letzten Glühwürmchen, 1988; Prinzessin Mononoke, 1997; Chihiros Reise ins Zauberland, 2001), Katsuhiro Otomo (Akira, 1986) und Mamoru Oshii (Ghostin the Shell, 1996) arbeiten an der Fortentwicklung ihres Mediums, indem sie dessen Mittel und Stoffe jenseits spezifischer Genrekonventionen einer eigenen Ästhetik zuführen, die dezidiert cineastisch ist. Anno, der mit einer Mecha-Serie nicht umsonst ein klassisches japanisches Pulp-Format zu seinem Gegenstand macht, bekennt sich klar zu seinem Status als ‹Otaku›. Der Begriff, der in der westlichen Verwendung heute zumeist gleichbedeutend mit Manga- und Anime-Fan eingesetzt wird, trägt in der japanischen Sprache ambivalentere Konnotationen. Er steht für eine Fankultur, deren obsessive Hinwendung zu Spezialinteressen mit einem Rückzug aus sozialen Beziehungen, sowie mit potentiell gefährlichen Entfremdungstendenzen assoziiert wird.

1989 wird die Verhaftung des Serienmörders Tsutomi Miyazaki, der aufgrund seiner großen Sammlung von Anime-VHS in der Presse als «Otaku-Murderer» bezeichnet wird, in Japan zum Anlass für Diskussionen über mögliche Zusammenhänge von exzessivem Medienkonsum und Gewalt. Das Bild des Otakus als im besten Fall regressiver, im schlimmsten Fall gefährlicher Sonderling dominiert die öffentliche Wahrnehmung, als Annos Studio Gainax 1991 den Film Otaku no Video als OAV (Original Anime Video) veröffentlicht.

Der Film, der in Gänze bei Youtube gefunden werden kann, ist eine interessante und hochambivalente postmoderne Kollage. Er stellt eine komplexe Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Selbstverständnis vor, das Anno und seine Kolleg*innen zu Beginn ihrer Karriere als Leitlinie ihrer Arbeit formuliert hatten: Inhalte zu produzieren, die sie selbst gerne sehen möchten. Otaku no Video verfolgt in slapstickhaft animierten Sequenzen die Gründung und den Aufstieg eines Anime-Studios von den 1980er Jahren bis ins Jahr 2035. Fans haben in der Erzählung die ironische Stilisierung der Gründungsgeschichte von Gainax selbst erkannt. Die humoristischen Darstellungen einer gutgelaunten Community gleichgesinnter Freund*innen sind kontrastiert mit Live-Action Mockumentary-Episoden, die Interviews vermeintlich echter Otakus zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz zeigen. Bei den Interviewten handelt es sich tatsächlich um Mitarbeiter*innen des Studio Gainax, die in selbstironischer Weise stereotypische Ausprägungen der Otaku-Kultur darstellen.

Auch Hideaki Anno hat einen Auftritt. In der Rolle von «Akabori Osamu, born 1972, Culinary School Student» gibt er in einem beengten Apartment über seine angebliche Liebe zu erotischen Computerspielen Auskunft. Das gezeigte Spiel, eine Art Strip-Quiz namens Cybernetic Hi-School, das für jede korrekte Antwort ein Kleidungsstück der gezeichneten Lehrerin entfernt, ist eine reale Produktion von Studio Gainax. «See, see, isn’t Hiroko cute?», kommentiert Anno in seiner Rolle als Akabori. «Do you ever admire the blue sky?», fragt eine Texteinblendung. Es geht nicht viel rau, so Anno/Akabori. Wie er sich seinen sexuellen Bedürfnissen widme, fragt indiskret die nächste Tafel. «I like video games. It’s good when the girls are cute. Don’t you think Hiroko’s cute?» Der angespannte Ton der Szene unterscheidet sich deutlich von der offensiven Fröhlichkeit der animierten Sequenzen. Die Szene schließt mit einem lakonischen Voice-Over im dokumentarischen Stil: «One of the noticeable traits of the Otaku is that they often talk to themselves. […] The most important thing is a world of their own, a world within the heart which no one can intrude upon. There, even today, Otaku will converse alone.» Die Handlung des Films, der von seinen Fans als spielerische Liebeserklärung an die Fankultur eingeordnet wird, endet im Jahr 2035 mit dem Ende der Welt.

Die Frage nach möglichen Zusammenhängen hermetischer Innerlichkeit als Verlust von Außenwelt und apokalyptischem Begehren wird Anno vier Jahre später in Neon Genesis Evangelion aufnehmen und zuspitzen. Die zweite Hälfte der Serie rekontextualisiert die Kämpfe der Evangelions gegen die Engel als Reise in die Psyche der jugendlichen Protagonist*innen. Es sind Fragen nach Beziehungsfähigkeit, Empathie und der Notwendigkeit von Differenzerfahrungen, die dabei ins Zentrum gestellt werden.

Nicht die existentielle Bedrohung durch die Engel erweist sich als Shinjis Hauptproblem, sondern ein Blick auf die Welt, der nur Objekte kennt und unfähig ist, in seinen Gegenübern etwas anderes zu erkennen als Bilder, Hüllen, Puppen und Avatare seiner Wünsche. In Wahrheit, so stellt sich heraus, sind nicht mal die Roboter wirklich Roboter. Nicht Maschinen, die durch den Willen der Children kontrolliert und gesteuert werden, sondern humanoide Lebewesen, in denen – es geht sehr freudianisch zu – die Seelen der Mütter der Pilot*innen leben. Wer einen erwachsenen Körper durch eine Welt am Abgrund bewegen möchte, so scheint die Botschaft, tut gut daran, sich erstmal mit dem eigenen Ödipuskomplex auseinanderzusetzen.

Shinji scheitert an dieser Aufgabe. Die letzten beiden Folgen der Serie zeigen in zunehmend brüchiger Animation den Kollaps der Realität am Ende der Zeit als stream of consciousness, der Shinji (und mit ihm das Publikum) direkt mit seinen Fehlern konfrontiert. Die psychedelische Form des Finales gleicht einer angeleiteten Meditation; weniger wohlmeinende Kritiker*innen haben Parallelen zu Verfahren visueller Reprogrammierung als ‹Gehirnwäsche› herausgestellt. «Du hast Dir eine abgeschlossene Welt gewünscht, in der nur Du Dich wohlfühlst», heißt es aus dem Off, «um Deine Angst nicht überwinden zu müssen. Und Dein Vergnügen zu garantieren. Das ist das Ergebnis Deines Wunsches. Doch in einer abgeschlossenen Welt, in der es nur Dich gibt, bist Du einsam. Und trotzdem hast Du Dir so eine leere abgeschlossene Welt immer gewünscht. […] Das Ende hätte aber auch ganz anders aussehen können. Das ist das Ende, das Du wolltest. Eine Welt nach Deinem Wunsch.»

Die Themen von Neon Genesis Evangelion werden Mitte der 1990er Jahre in einer spezifischen kulturellen Situation entwickelt. Sie scheinen 2019 nicht zuletzt deshalb anschlussfähig, weil sie die Frage nach der Verantwortung von Kulturproduzent*innen und Distributor*innen in den Mechanismen der Wunscherfüllung stellen, die ihr Geschäft am Laufen hält. Die im Zeitalter algorithmischer Content-Empfehlung von neuem relevante Beobachtung, dass es zu etwas Dunklem führen kann, wenn man ausschließlich und in zunehmend starker Dosierung das zu sehen bekommt, was einem vermeintlich gefällt, wird in Neon Genesis Evangelion nicht als Offenlegung einer immer schon düsteren Wahrheit über das Begehren bestimmt. Es wird als das vermeidbare Ergebnis einer schädlichen Beziehung gezeigt, deren stets mögliche Veränderung nicht mehr und nicht weniger als eine mediale Umstellung erfordert.

Es ist als bittere Pointe der Rezeptionsgeschichte von Neon Genesis Evangelion gesehen worden, dass diese Umstellung auf Seiten der Showrunner von den Fans mit Wut beantwortet wurde. Annos Vorschlag, den Dienst an seinem Publikum als Kommunikationsangebot und Anleitung zur Subjektvierung neu zu fassen, wurde nicht freundlich aufgenommen. Nach der Ausstrahlung des Finales gehen Morddrohungen bei den Gainax-Mitarbeiter*innen ein, das Studiogebäude wird von Vandalismus beschädigt. Der Regisseur, der mit dem Abschluss der Serie sehr zufrieden war, erleidet einen Zusammenbruch. Die dem Serienfinale nachfolgenden Filmveröffentlichungen, vor allem der unerbittlich trostlose End of Evangelion (1997), reagieren auf den Backlash mit einer weiteren radikalen Zuspitzung der Botschaft, der schonungslosen Anerkennung dieses Scheiterns. Anno, endlich, gibt seinem Publikum das, was es zu wollen scheint: Service Shot für Service Shot. Es ist nicht schön.

In einer zutiefst verstörenden Szene direkt zu Beginn von End of Evangelion sehen wir Shinji, die Identifikationsfigur des Publikums, über dem leblosen Körper der 14-jährigen Asuka bis zum Höhepunkt masturbieren. «Ich weiß genau, dass Du mich als Wichsvorlage benutzt hast. Mach’s Dir ruhig. So wie Du es immer tust. Und ich schaue Dir dabei zu», konfrontiert sie ihn später im Streit. Shinji reagiert mit Gewalt. «Ich habe gedacht diese Welt wäre frei von Leid und Unsicherheiten», ruft Shinji. «Du hast alles missverstanden und nur geglaubt was du wolltest», sagt Asuka. «Du hast mich hintergangen. Du hast meine Gefühle verraten!», ruft Shinji.

Am Scheitelpunkt des Filmes – es ist, einmal mehr, die Apokalypse – blendet Anno Screenshots der an ihn adressierten Morddrohungen und Fotos gefüllter Kinosääle ein. «Fühlt sich das gut an?», fragt eine Texteinblendung. Das tut es nicht. Keine Erlösung, nirgends. Dass Neon Genesis Evangelion und die Filmadaptionen trotz oder wegen ihrer pessimistischen Diagnose internationale Erfolge werden, überrascht niemanden mehr als Hideaki Anno. «Ich verstehe das nicht. Alle darin sind so krank», wird der Regisseur in einem Interview kommentieren. Ob ein Blick in den Abgrund sich als Dienst erweisen kann, hängt nicht zuletzt auch vom Publikum ab. 

 

Neon Genesis Evangelion (1995/96) ist über Netflix streambar