Die Frau mit der Kinamo Filmavantgarde und soziale Dokumentation: Die Filme von Ella Bergmann-Michel

Ella Bergmann-Michel mit 35mm Kinamo Kamera (1932)
© courtesy of Michel Sünke & Zeughauskino
Ein Labyrinth aus Dächern eng verschachtelter Häuser in Doppelbelichtung mit fahrenden Straßenbahnen, eine geschäftige Straßenkreuzung. «LÄRM!» schreit es aus dem ersten Zwischentitel von Ella Bergmann-Michels erstem Film Wo wohnen alte Leute? (1931). Die gewachsene Baustruktur der Frankfurter Altstadt erscheint in dem Film als Dystopie des Wohnens für «alte Leute». Der Lärm, das Dunkel der Wohnungen und Hausdurchgänge zeigen die Lebensumstände als unwürdig. Den Kontrast zu diesen Wohnbedingungen bildet ein wenige Jahre zuvor eröffnetes Altenheim der Henry-und-Emma-Budge-Stiftung im Frankfurter Westend. Drei Textteile stehen auf der ersten Skizze: «Altersheim», «Grünflächen» «und Ruhe». Wo wohnen alte Leute? zeigt eine Realität gewordene Utopie neuen Bauens, neuen Wohnens, neuen Lebens. Der Glanz des neuen Baus reicht bis in die Großküche, in der sich die glänzenden Töpfe aneinanderreihen. Der Film ist bis in die Poren durchdrungen von der Moderne, vom Aufbruchswillen in der Weimarer Republik. Die Fotografin Ella Bergmann-Michel entwickelte den Film zusammen mit dem Architekten Mart Stam, der an dem Bau der Wohnanlage beteiligt war. Gedreht noch mühsam mit Kurbelkamera und Stativ.
Ella Bergmann-Michel, geboren 1895 in Paderborn, nahm 1914, im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, ihr Studium an der Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für Bildende Künste in Weimar auf und verließ die Kunstschule 1917 im Zuge des revolutionären Aufbruchs aus Protest gegen veraltete Lehrmethoden. Walter Gropius stellte ihre Kunst aus, das Bauhaus aber wurde ihr zu doktrinär. 1920 zog sie mit ihrem Mann Robert Michel nach Vockenhausen im Taunus auf das Gelände einer ehemaligen Eisenmühle, der «Schmelz». Das Wohnhaus der Michels wurde bald zu einem Treffpunkt der internationalen Avantgarde, zu Besuch kamen unter anderem Dziga Vertov und der niederländische Filmaktivist Joris Ivens.
Zwischen 1931 und Anfang 1933 realisierte Ella Bergmann-Michel fünf kurze Dokumentarfilme. Ihre filmischen Arbeiten gehen aus von einem Engagement für das Neue Bauen als sozialer architektonischer Praxis und erkunden mit großer Sensibilität Lebensumstände ihrer Zeitgenossen. In den fünf Filmen etabliert sich Ella Bergmann-Michel als Regisseurin an der Schnittstelle zwischen politischem Filmemachen, unabhängiger Filmpraxis und einer Kinopraxis, die einen unstillbaren Hunger nach Neuem hat.
Ella Bergmann-Michels späterer Produzent und Mitstreiter Paul Seligman umriss die Bedeutung des unabhängigen Films Anfang 1933 in einer der letzten Ausgaben der Zeitschrift die neue stadt wie folgt: «Die Entwicklung des Films als Kunst kann also nur von den Unabhängigen, von den Outsidern kommen. Unsere Aufgabe ist, die Möglichkeiten und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine neue Unabhängige Produktion aufzuzeigen.» Seligmans Artikel gibt einen präzisen, praxisorientierten Überblick über die filmtechnischen Möglichkeiten der Zeit, Filmamateure und semiprofessionell Produzierende sind die klar definierte Zielgruppe. Die Filmgruppe des Neuen Frankfurt tat viel dafür, sich in der Sphäre des ‹Unabhängigen Films› zu etablieren. Sie zeigte unter anderem Filme von Germaine Dulac, Albrecht Viktor Blum, Slatan Dudow, Oskar Fischinger, Joris Ivens, Hans Richter und Dziga Vertov und organisierte Vorträge von Rudolf Arnheim, Ivens, und Moholy-Nagy. Mit der «Liga für den unabhängigen Film», die Bergmann-Michel im selben Jahr mit Mitstreiter_innen gegründet hatte, tourte Wo wohnen alte Leute? mit anderen Filmen zum Neuen Bauen. Verleih war der Bund das Neue Frankfurt.
Durch ihre Kinoarbeit und ihre Filme, durch die Treffen im Taunus und mit ihrer fortschrittlichen Themenwahl bewegte sich Bergmann-Michel in einem Netzwerk politisch engagierter Filmkünstler – einige davon aus dem Kreis der Produktionsfirma Prometheus. Die Prometheus wiederum war Teil eines Medienkonzerns, den der kommunistische Unternehmer Willi Münzenberg für die Internationale Arbeiterhilfe aufgebaut hatte. Er umfasste eine Filmproduktion, eine Zeitung, einen Buchverlag und diverse andere Projekte. Zu den Regisseuren aus dem Umfeld der Prometheus zählte auch Albrecht Viktor Blum, der zwischen 1927 und Anfang der 1930er Jahre an einer Vielzahl von Filmen beteiligt war. Wie viele andere in dieser Zeit interessierte sich Blum insbesondere für die Montage. Zu den weniger ruhmreichen Auswirkungen dieser Vorliebe zählt, dass Blum 1929 in dem technikkritischen Im Schatten der Maschine Aufnahmen aus technikeuphorischen Filmen von Dziga Vertov verhackstückt hat – Vertov protestierte. Daneben realisierte Blum jedoch eine Reihe von Montagefilmen, die ihm zeitgenössisch einige Anerkennung einbrachten. Tatsachen ist ein effektvoller Werbefilm für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), Hände eine beeindruckende visuelle Studie über die Hand als wandlungsfähiges Werkzeug und Ausdrucksmittel, die der Reproduktionsarbeit auffallend viel Aufmerksamkeit schenkt.

Erwerbslose kochen für Erwerbslose (1932)
© courtesy of Zeughauskino
László Moholy-Nagy zeigte bei seinen Vorträgen am liebsten die Montagefilme von Blum. Blum schreibt als Archivexperte im Filmkurier und gehört wie Esfir Schub zu den Pionieren des politischen Archivkunstfilms. In den Filmen des «Bildschneiders» Blum (so seine Eigenbezeichnung in einem Aufsatz von 1928) ist zu sehen, wie der Film im Film sein eigenes Archiv anlegt und zur Schau stellt. Mit der Machtübertragung an die Nazis ist Blums Filmkarriere nahezu beendet. Er arbeitet in der Tschechoslowakei, zeichnet für die Prag-Paris Filmgesellschaft einige Lesungen von Karl Kraus auf, schließt sich den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg an und geht später nach Mexiko ins Exil.
Ella Bergmann-Michels zweiter Film Erwerbslose kochen für Erwerbslose (1932) dokumentiert die Arbeit mehrerer Frankfurter Erwerbslosenküchen. Um einen Tisch sitzend schälen Frauen Kartoffeln, Graupen wandern aus einem Sack in einen Topf, sorgsam werden Fleischstücke in einen Topf gestapelt, ein Lieferant schleppt einen Korb voller Brötchen die Treppe hinab in die Küche – «Alle müssen helfen. Alle!», wie die Zwischentitel klarstellen. Für 10 Pfennige kann man einen Liter Essen kaufen, das Essen mit nach Hause nehmen oder vor Ort verzehren. Die Schlange wächst schnell in die Länge. Die Wäschezuber, in denen die Frauen mit langen Holzlöffeln rühren, wirken wie das elende Gegenbild zu den blitzenden Großkesseln des Altenheims aus Wo wohnen alte Leute?. Viele Blicke in die Kamera, vorsichtig, scheu oder auffordernd zugewandt sowie eine kleine inszenierte Szene erzählen von dem Verhältnis, das Bergmann-Michel mit ihren Protagonist_innen eingeht.
Erwerbslose kochen für Erwerbslose greift einen zentralen Effekt der Weltwirtschaftskrise von 1929 auf: die grassierende Arbeitslosigkeit in der späten Weimarer Republik. In einem Exkurs etwa in der Mitte des Films montiert Bergmann-Michel Aufnahmen von Arbeitslosen auf den Straßen Frankfurts. Männer, die mitten in dem, was einmal Arbeitszeit war, in Gruppen zusammenstehen und sich die Zeit vertreiben. Die Zahl der Erwerbslosen stieg seit der Weltwirtschaftskrise 1929 rapide an und wuchs das ganze Jahr 1931 hindurch, bevor 1932 die Trendwende kam. In all dieser Zeit verharren die Lebenshaltungskosten nahezu auf Vorkrisenniveau. Der Film endet mit einem Aufruf zur finanziellen Unterstützung der Suppenküche. Vor der Frankfurter Hauptwache wurde der Film Open air gezeigt, in einem großen Kessel Spenden gesammelt.
Erwerbslose kochen für Erwerbslose markiert den Beginn der Zusammenarbeit von Ella Bergmann-Michel mit dem Kaufmann Paul Seligman, er hat die Produktion unterstützt. «Die Filmgruppe organisierte regelmäßig Film-Matineen und Vorträge. Wir entwarfen und druckten Flugblätter, und abends warf ich diese an ausgewählten Adressen ein. Ich reiste in andere Städte, um rare Filme von Schwesterorganisationen zu holen», schreibt Seligman in seiner posthum veröffentlichten Autobiografie Order and Chaos. Die Filmgruppe organisierte eine gemeinsame Busreise nach Straßburg, um den in Deutschland verbotenen Film Im Westen nichts Neues anzusehen. Als der Bund Neues Frankfurt nach der Machtübertragung an Hitler jegliche Aktivitäten einstellen musste, begann Paul Seligman in zunehmender Isolation einen 16 mm-Film zu drehen: Frühjahr 1933. Vorsichtig, ohne auffallen zu dürfen, filmt er Strassenecken, Kinderspiele, Tiere und die Schattenwürfe von Passanten auf den Straßen, Beine, die vorübereilen. Seligmans Film driftet zunehmend in düstere Bilder ab, verharrt auf Treibholz auf dem Wasser und Müll am Straßenrand. 1937 verließ Seligman Deutschland. Eine Kopie des Films konnte mit Beteiligung der Familie im kanadischen Staats-Archiv ausfindig gemacht werden, wo das Filmmaterial seit Mitte der 1980er Jahre deponiert war.

Wahlkampf 1932 (Die Letzte Wahl) (1932)
© courtesy of Zeughauskino
Es ist kalt, der Atem eines Hundes, der an einem Karren angebunden ist, bildet Dunstwolken. Ein junger Mann steht an einer Straßenecke und blickt sich ununterbrochen um, guckt misstrauisch zur Kamera hinüber. Dann stürzt er zu einem Handkarren und eilt durch das Gewirr der Straße davon. Ein Schnitt zeigt, was ihn aufgeschreckt hat. Zwei Schupos drehen ihre Runde. Kurz darauf steht der junge Mann wieder an der Straßenecke. Bergmann-Michels dritter Film Fliegende Händler in Frankfurt am Main (1932) zeigt Straßenhändler_innen in der Innenstadt. In den Aufnahmen eines Rummels offenbart sich das Nebeneinander von Filmavantgarde und sozialer Dokumentation: Auf die sichtliche Freude an den Bildern der Fahrwerke, die ungewohnte Perspektiven zeigen, durch die Luft gewirbelt werden, folgen Aufnahmen von den Provisorien hinter den Wagen der Schausteller.
Dass sich die Bilder in den Filmen Ella Bergmann-Michels seit Erwerbslose kochen für Erwerbslose von den starren Kadrierungen des ersten Films befreit haben, liegt nicht zuletzt an einem Wechsel der Kamera. Joris Ivens hatte ihr damals zur neuen Kinamo-Kamera geraten. Durch das Aufzieh-Federwerk konnte sie aus der freien Hand drehen. Auf den Markt gekommen war die 35 mm-Kamera 1921, in den Folgejahren immer weiter entwickelt von dem Ingenieur Emanuel Goldberg. Nachdem Goldberg Generaldirektor der Zeiss Ikon AG geworden war, dreht er zur Vermarktung der Amateur-Kamera selbstironische Familienfilme mit Spielfilmszenen.
Der in Moskau geborene Goldberg (1881–1970) hatte in Leipzig mit «Beiträge(n) zur Kinetik photochemischer Reaktionen» promoviert. Bei der Zeiss Ikon interessiert er sich für alle Bereiche der Reproduktionstechnik. Er beschäftigt sich mit Luftbildfotografie, mit den Vorarbeiten für die DIN-Norm der Empfindlichkeit von Film- und Fotomaterial und seit 1927 mit der Entwicklung einer Suchmaschine, einer «statistischen Maschine», sowie mit Mikrofotografie. 1933 verschleppen ihn die Nazis für drei Tage, er wird zum Rücktritt aus allen Ämtern gezwungen. Im Pariser Exil entwickelt er einen Prototypen für einen Taschenfotokopierer. Seine Forschungen bleiben anwendungsorientiert. In Palästina seit 1937 stellt er sein Wissen in den Dienst der Haganah. Er erfindet ein Gerät, um den Zuckergehalt von Früchten zu bestimmen und gründet ein kleines Labor für Präzisionsinstrumente, baut für militärische Zwecke prismatische Kompasse, Neigungsmesser.
Fischfang in der Rhön (1932) ist der künstlerisch freieste Film im schmalen Werk von Ella Bergmann-Michel. Alles an dem Film scheint Bewegung zu sein: das Fließen des Wassers, das Schwanken der Blätter im Wind, die Reflexion des Lichts. Man denkt unmittelbar an musikalisch montierte Avantgardefilme wie Joris Ivens’ Regen (1929). Der Widerstand gegen die fortwährende Bewegung trägt Pelz: Gegen Mitte des Films stören die Aufnahmen eine Katze im Schlaf. Indigniert guckt sie sich um, blinzelt in die Sonne, schließt die Augen wieder und lässt den Kopf allmählich sinken.
Im Werk Bergmann-Michels wirkt der Film wie eine Atempause in einer sich zuspitzenden politischen Situation. Dass im Laufe des Jahres 1932 mit Fliegende Händler in Frankfurt am Main, Fischfang in der Rhön und Wahlkampf 1932 (Die letzte Wahl) drei Filme entstehen, kann man als Anzeichen nehmen, wie sehr diese fiebrige Zeit nach Dokumentation schrie. Zugleich jedoch wirkt Wahlkampf 1932 wie eine Vorwegnahme des Rückzugs Bergmann-Michels auf weniger exponierte politische künstlerische Praxen nach 1933, nach dem Ausstellungsverbot. Viele ihrer Collagenarbeiten aus der Zeit kreisen um Fische unter Wasser, um düstere Vögel.
Im Juli und November 1932 filmt Ella Bergmann-Michel den Wahlkampf zu den Reichstagswahlen. Schwenks über die dicht mit Hammer-und-Sichel-Fahnen geschmückten Straßen (in anderen Straßenzügen Fahnen der sozialdemokratischen Eisernen Front) wechseln ab mit kleineren Menschenaufläufen. Die Menschen stehen um Litfaßsäulen mit den Wahlplakaten herum und diskutieren am Straßenrand. Teils hitzig. Lange verharrt die Kamera auf der im April 1932 polizeilich geschlossenen Zeugmeisterei der NSDAP in der Kleinen Kaiserhofstraße. In späteren Aufnahmen ist sie wieder geöffnet. Die Kamera wird stellenweise deutlich misstrauischer beäugt als in früheren Filmen, in den beiläufigen Straßenszenen droht sie zu dokumentieren, was man nicht dokumentiert sehen möchte. Eine Kameraeinstellung von oben aus Bergmann-Michels Atelier am Eschenheimer Turm zeigt einen SA-Aufmarsch und die Leute,die davon angezogen wurden und mitlaufen. Der Film war ein fortlaufendes Projekt. Paul Seligman schreibt in seinem Aufsatz von 1933 über den Film «Ella Bergmann-Michel hat nach Fertigstellung des Werbefilms für die Erwerbslosenküchen einen Film von den Wahlkämpfen 1932 gedreht. Die Auswertung dieses wichtigen dokumentarischen Materials ist mit Rücksicht auf die mehrfach charakterisierte Lage der Unabhängigen Produzenten bis heute noch nicht möglich gewesen. Jetzt hat sie mit den Aufnahmen zu einem neuen Film Die fliegenden Händler begonnen.»

Erwerbslose kochen für Erwerbslose (links) und Tatsachen – Das zeigt Euch seit 10 Jahren die AIZ (Albrecht Viktor Blum) D 1930
Der Film führte Bergmann-Michel die politische Brisanz ihrer Filmarbeit vor Augen. Als sie 1932 eine Schlägerei vor einem Wahllokal der NSDAP dreht, wird sie verhaftet, die Aufnahmen werden auf der Polizeiwache vernichtet. Dennoch gibt sie das Projekt nicht ganz auf. Im Film ebenfalls enthalten sind Aufnahmen eines NSDAP-Plakats aus dem Reichstagswahlkampf vom März 1933. Das Plakat ist im unteren Teil abgerissen, gefilmt vor einem ländlich wirkenden Hintergrund. Der geplante Film ist durch die Bedingungen der Zeit unmöglich geworden, er ist nur als Fragment überliefert – Aufbruch und Ende der Weimarer Republik im Spiegel einer Filmemacherin.
Nimmt man Ella Bergmann-Michels drei Filme des Jahres 1932 und Paul Seligmans Frühjahr 1933 sticht die Eskalation der Schatten ins Auge. Der Blick ins Gesicht, das Filmen auf Augenhöhe, das Wo wohnen alte Leute? und Erwerbslose kochen für Erwerbslose prägte, ist zum Problem geworden. Die Menschen in den Aufnahmen der Wahl vom Juli 1932 sind noch recht gelassen beim Anblick der Kamera, im November 1932 weicht die Kamera schon öfter auf zurückhaltendere Blickpositionen aus. Die Schatten, die die Menschen auf den Straßen werfen, tauchen allmählich auf, bevor sie in Paul Seligmans Film zum visuellen Platzhalter für Menschen werden, denen der Filmemacher nicht mehr so recht ins Gesicht zu filmen wagt.
In der Beschäftigung mit dem linken, kommunistischen Filmschaffen der Weimarer Republik fällt auf, dass eigentlich erst mit dem Niedergang der Filmfirmen Weltfilm und Prometheus, sowie mit dem Aufkommen des 16 mm-Schmalfilms die Arbeiter-Amateurfilmbewegung erstarkte, kurz bevor sie der Nationalsozialismus dann wieder abschnitt.
Die am 19. September im Zeughauskino startende Filmreihe zeigt Ella Bergmann-Michel im Zentrum eines Netzwerks ähnlich gesinnter Filmschaffender. Die meisten der Karrieren enden kurz nach 1933 oder bekommen einen deutlichen Knick. Bergmann-Michel stirbt am 8. August 1971 auf der «Schmelz». Ihr Sohn Hans Michel unterrichtet an der Kunsthochschule in Hamburg, sein Kollege Gerd Roscher beginnt in den späten 1970er Jahren nach progressiven Filmamateuren zu suchen, sichert erstes Material und legt so den Grundstock für die allmähliche Wiederentdeckung von Ella Bergmann-Michels Filmarbeit. Sie selbst hatte in der Nachkriegszeit nicht mehr gefilmt, kurz nach dem Krieg mit Mitstreitern den Filmclub Frankfurt gegründet und ihre künstlerische Arbeit weiterverfolgt.
Die Filmreihe hat doppelt mit den Amateuren oder eher Aktivist*innen zu tun: mit denen, die sich die bildproduzierenden Mittel außerhalb der Institutionen aneignen, die ihre Expertise mit Enthusiasmus entwickeln. Selbstlernend und selbstbestimmt. Und mit jenen Außenseitern, die wiederum diese Werke – gelegentlich auch gegen das anfängliche Desinteresse von Archiven und Museen – sichern und weitertragen: der aktivistischen Film-Vermittlung. Verliehen wurden Bergmann-Michels Filme bis in die späten 1990er Jahre vom Hamburger Medienkollektiv die thede. Die Filmemacherin Jutta Hercher bewahrte das Nitro-Material lange Zeit bei sich im Kühlschrank auf – bis es möglich wurde, es in einem Archiv zu deponieren. Die Anerkennungsmühlen der institutionellen Milieus mahlen langsam, ihre Macht aber, den Kanon zu erweitern, zu aktualisieren ist wesentlich. Ella Bergmann-Michels lange Reise in den Kanon ist aber längst nicht abgeschlossen.
Ella Bergmann-Michel – die Frau mit der Kinamo (Zeughauskino Berlin, 19. – 29. September 2019) – ein kontextualisierendes Filmprogramm von Madeleine Bernstorff mit vielen Gästen, Live-Musikbegleitung und einem Programmheft mit vielen Materialien, das Anfang September erscheint