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Kultische Harmonie Zwei große Autorengenrefilme führen an die Schnittstelle zwischen Sozial- und Identitätspolitik: Midsommar und Parasite

Von Bert Rebhandl

Midsommar (Ari Aster, 2019)

© Square Peg | A24

 

Das Wort «Tipi» ist in der deutschen Sprache vor allem durch Karl May bekannt gemacht worden. Ein Tipi ist ein Zelt, bei dem die Außenhaut in einer Kegelform um Holzstangen gelegt wird. Über dem Eingang gibt es üblicherweise einen Rauchabzug, an der Spitze ist das Tipi geschlossen. Der Wikipedia entnehme ich, dass das Wort aus der Lakota-Sprache stammt. Einem Karl May-Wiki entnehme ich zu meiner Überraschung, dass der sächsische Fabulierer das Wort Tipi gar nicht verwendet hat. Er schrieb immer nur «Zelt», und in Winnetou 1 bezeichnete er die Zelte der Kiowas als Wigwams – gemeint waren Tipis. Vor Tangua, dem Häuptling der Kiowas, habe ich mich seinerzeit gefürchtet, was wohl auch damit zusammenhing, dass sein Name so stark nach Magua klang. In den Lederstrumpf-Erzählungen hat der Huronen-Häuptling eine vergleichbare Funktion wie Tangua bei Karl May.

Die kleine Abschweifung drängte sich mir auf, weil in diesem Herbst zufällig knapp hintereinander zwei spannende Filme herauskommen, in denen die ganze Zeit ein Tipi herumsteht, von dem ein starker Suspense ausgeht: Irgendeine Bewandtnis wird es damit haben müssen, und tatsächlich laufen die Ereignisse sowohl in Midsommar von Ari Aster als auch in Parasite von Bong Joon-ho auf diese Zelte zu. Wenn ich mir im Folgenden ein paar Gedanken über die Logik dieser Geschehnisse mache, kommt es unweigerlich zur Preisgabe der einen oder anderen Pointe – wer also Spoiler vermeiden möchte, liest diesen Text besser erst nach dem Film.

In Midsommar kommt eine Gruppe junger Amerikaner nach Schweden, um an einer Sommersonnenwende teilzunehmen. Einer von ihnen kennt die Gemeinschaft, die sich diesem Ritual verschworen hat. Er ist in beide Richtungen der Gewährsmann: für seine amerikanischen Freunde bei den Leitern der Gemeinschaft, und bei den Besuchern aus dem Land der Hochzivilsation für eine Gruppe von Menschen, die einer Art Naturreligion anzuhängen scheinen. Das Zelt ist in diesem Fall so etwas wie ein öffentliches Arkanum, es steht unübersehbar da, soll aber nicht (oder: noch nicht) betreten werden. Es muss sich auch erst weisen, wer schließlich Zugang bekommen wird, und wie sehr das dann eigentlich ein wünschenswerter Moment ist.

In Parasite ist das Zelt eindeutig als Spielplatz ausgewiesen. Es steht auf einem Rasen vor einem ungewöhnlichen Haus: ein Architektentraum, der inmitten von Seoul eine Insel der Abgeschiedenheit bildet. Die Grenze zur Außenwelt besteht aus einer doppelten Front: Durch ein Panoramafenster sieht man aus dem Wohnzimmer hinaus auf den Rasen, der eine Freifläche darstellt, die an einer undurchdringlichen Hecke endet. Hinter den sorgfältig gepflegten Bäumen würde man sich eher ein dunkles Geheimnis denken, eine verbotene Zone, etwas ganz Anderes. Aber es gibt in Parasite zwischendurch einmal einen Blick auf das gesamte Anwesen von oben und von draußen, und da kann man dann doch sehen, dass es sich in Wahrheit um eine ganz normale, luxuriöse Abschottung von einer Millionenstadt inmitten derselben handelt.

Der Junge, dem das Zelt zugedacht ist, laboriert an einem Trauma. Ihm ist einmal ein Geist erschienen, seither suchen die Eltern (er ein schwerreicher Unternehmer, sie eine Hausfrau) nach Therapien. In diese Lücke stößt eine Familie, von deren Heim das erste Bild in Parasite erzählt: eine Unterschichtfamilie, die tatsächlich halb unter der Erde, jedenfalls unter Straßenniveau wohnt. Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Pointe dieser Wohnung ist die Toilette, zu der man hinaufsteigen muss, sie befindet sich auf einer Art Podest, alles deutet auf bauliches Stückwerk und notdürftige Lösungen für räumliche Herausforderungen hin.

Vom Tipi einmal abgesehen, gibt es zwischen Midsommar und Parasite sicher deutlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Bong Joon-ho ist spätestens seit The Host (2006) einer der bekanntesten Vertreter des koreanischen Kinos und auch kommerziell eine bedeutende Nummer. Ari Aster hingegen hat mit Midsommar erst seinen dritten Film am Start. 2018 wurde er mit Hereditary bekannt.

In beiden Fällen könnte man von Autorengenrekino sprechen, beide Filme sind auf eine faszinierende Weise sowohl perfekte Ausprägungen wie auch Kommentierungen von Genreformeln. Midsommar gewinnt seine Besonderheit aus dem eigentlich kaum verdächtigen Schauplatz: Skandinavien ist aber natürlich eine perfekte Wahl für ein paganes Mysterium, das hinter die europäische Zivilisation zurückführen kann. Man könnte an Bergmans Jungfrauenquelle (1960) denken, oder an die nächtliche Sekte in Tarkovskis Andrei Rublev (1969), mit ihren Andeutungen sexueller Freiheit in der unerschlossenen Natur fernab der Klöster. Auf eine grobschlächtigere Weise versuchte sich kürzlich auch der Netflix-Schocker The Ritual an einer Konfrontation mit einem archaischen Kult, auf den ein paar Wandersmänner treffen, die schon bald von ihrem Treck abkommen. Midsommar ist ein Horrorfilm, der die Grenze zwischen Natur und Kultur neu zu ziehen versucht, und der dafür passenderweise auch einen Schwarzen Anthropologen mitführt. Er passt perfekt in die Sonnenwelt mit den weißen Gewändern und den grünen Wiesen und den großen Freiluftmahlzeiten.

 

Parasite (Bong Joon Ho, 2019)

© Barunson E&A

 

Parasite hingegen ist eine lupenreine Klassensatire. Das Haus ist zugleich gebaute Sozialstruktur und Ausdruck der Ängste, die diese Abschottung nicht loswird. Denn so aseptisch die Innenräume sind, so sehr sich alles den rationalen Geometrien fügt, so wenig lässt sich der Keller vollständig beherrschen. In diesem Fall kommt zum Keller noch ein (geheimes) Untergeschoss hinzu, für das man den berühmten Titel von Nestroy variieren könnte: Zu ebener Erde und im minus zweiten Stock. Von dort kam einst der Geist nach oben, den der Junge niemals hätte sehen dürfen.

Sowohl in Parasite wie in Midsommar kann man schön verfolgen, wie sich eine Geschichte aus einer relativ einfachen Grundidee heraus allmählich entfaltet. In beiden Fällen fand ich vor allem diesen Aspekt interessant: Was heißt es, eine Geschichte zu Ende zu denken? Was lernt man schließlich über den Anfang, in dem so vieles oder sogar alles schon angelegt sein muss? Parasite macht diese Frage selbst virulent, weil der Titel im Grunde schon das Programm enthält. Ein Parasit ist eine Lebensform, die einen Wirt benötigt, die also nicht bei oder mit sich selbst (über)lebt, sondern auf ‹fremdem› Terrain. Bong Joon-ho erzählt das als Komödie.

Die Familie aus dem Slum führt einen Delegierten bei der Familie in dem Haus ein, der Sohn der Armen wird Englischlehrer bei der Tochter der Reichen. Der Geniestreich besteht dann darin, die (arme) Schwester auch im Haus unterzubringen. Sie gibt sich als Kunsttherapeutin aus, ein paar Internetrecherchen reichen aus, um ihr das nötige Vokabular beizubringen. Sie ist von nun an für den kleinen Jungen zuständig, der das Ehrfurcht gebietende Haus als einziger auch als Spielplatz begreift. Der Vater (als Chauffeur) und die Mutter (als Haushälterin) komplettieren eine Parallelaktion, die folgerichtig zu einer kompletten Übernahme des Hauses auf Probe führt: Die Reichen fahren auf ein Camping-Wochenende, es versteht sich mehr oder weniger von selbst, dass sie zu früh zurückkommen.

In dem Wort Parasite steckt auch die grundlegende Spannung eines parasitären Verhältnisses: Finden Wirt und Gast zu einem auskömmlichen Verhältnis, oder setzt sich eine der beiden «Parteien» durch? Darunter lauert die eigentlich noch wichtigere Frage: Wird der Parasit entdeckt? Denn es gehört zu dem Verhältnis dazu, dass es zumindest für eine Weile unentdeckt bleiben kann – erst wenn der Parasit zu gefräßig wird, macht er sich bemerkbar; richtet er Schaden an, muss er bekämpft werden. Bong Joon-ho kreuzt die biologische Metaphorik sehr geschickt mit einer architektonischen, denn es stellt sich bald heraus, dass der «Geist», den der Junge gesehen hat, aus einer Kammer kommt, die noch unterhalb des Kellers einen eigentlich nicht mehr vorgesehenen Raum der Subalternität ergibt. Bei diesem Raum bleibt auf eine charakteristische Weise unklar, ob er von dem offensichtlich zutiefst ambivalenten Architekten als eine Art Konzession an den Festungscharakter seines Gebäudes mit geplant war (Festungen brauchen in der Regel einen Tunnel als Notausgang), oder ob er sich quasi im Lauf der Zeit von selbst (also «natürlich») gebildet hat, als ein Symptom der strengen Hierarchie, auf der das Haus beruht. Für Bong Joon-ho bringt diese Raumanordnung jedenfalls die Möglichkeit, eine der zwei besten Einstellungen des Films zu drehen: Mit einem Blick aus dem ersten Keller die Treppe hinunter in den zweiten, wird dieser zu einem Bildausschnitt im Bild zu einer kleinen Szene tief unten, die einen grotesken Überlebenskampf erkennen lässt, der nur gelegentlich durch dieses Bild wogt, überwiegend aber hinter (unter) schweren Mauern stattfindet. Es ist die schonungslose Überlebenskonkurrenz der Subalternen, auf die Parasite hier stößt, denn im Kellerkeller findet die eingedrungene Familie ihre Vorgänger. Sie sind immer noch lebendig.

Das wäre alles allein schon sehr unterhaltsam und für eine Sozialsatire auch gut radikal. Aber die deutliche Pointe von Parasite liegt am Ende darin, dass nicht die reiche Familie sich als Wirt erweist, sondern dass es letztendlich das Gebäude selbst ist, das sich als (selbstzerstörerisch konzipierter) Wirt zeigt: die versteinerte Struktur eines Wunsches nach Befriedung der Wohlstandskonkurrenz, der es sich verdankt. Das Panoramafenster auf den Garten ist dabei der Schlüssel: zu dem ersehnten Zustand (distanzierte Kontemplation) und zu dessen Störung (in dem Tipi schläft der Junge, der von den Geistern träumt, die von unten kommen). Die vielleicht härteste Pointe von Parasite ist übrigens, dass die Betonwände so dick nicht sein können, dass sie das eigentliche Stigma der Armen zurückhalten könnten: Sie riechen nicht gut. Sie riechen, wie Menschen riechen, an deren Fenstersims täglich Besoffene urinieren. Die Seife, die das wegkriegt, gibt es nicht.

 

Midsommar

© Square Peg | A24

 

In Midsommar sind die Hierarchien weniger deutlich, aber sie sind der Geschichte tief eingeschrieben. Natürlich ist das Verhältnis zwischen Einheimischen und Gästen implizit abgestuft. Die Gemeinschaft hat sich eine Lebensform gegeben, die den Nordamerikanern wie eine Parodie von Pionieridyllik erscheinen muss (man könnte an die Amischen denken, zu denen Harrison Ford in Witness von außen kommt). Die Nächte im Gemeinschaftsquartier beschränken die Intimität, die Beschränkung auf ein gemeinsames Buch reduziert die Intellektualität. Die Rituale rund um die Sommersonnenwende enthüllen schließlich sehr allmählich, und auf großartig grässliche Weise, ihren inneren Sinn: Es geht vor allem um Demographie, oder – auf eine lustige Weise «natürlich» verfremdete – Biopolitik. Die Gemeinschaft hat eine Form dafür entwickelt, wie sie ihre Alten loswird, und sie hat eine Form dafür entwickelt, wie sie ihren Genpool auffrischt – indem sie den unsympathischsten von den Gästen zum Samenspender ernennt (ihm ist danach ein Schicksal beschieden, das wie eine höhnische Quersumme aus Little Big Man und dem in einem Pferdekadaver überlebenden Leo DiCaprio aus The Revenant erscheinen mag). Das Indianerzelt (denn ein solches ist es tatsächlich, es handelt sich offensichtlich um eine kuriose Form von Appropriation, die auf den Hipsterregisseur zurückverweist, der hier zwischen den Codes und «Kulturen» souverän hin und her springt) ist in Midsommar also fast alles von dem, was in Geschichten von Männern, die sie Pferd nannten, oder von anderen, die unter die «Primitiven» fielen, als neue Behausung und Beheimatung erscheinen konnte: Schwitzhütte, Begattungsort, Todeszelle.

Den klassischen Western entlehnt Ari Aster die semantische Natur: Die vielleicht schockierendste Szene des ganzen Films kommt früh, sie spielt an einer Klippe, zu deren Füßen sich ein Opferstein befindet. Mit einem Sprung in die Tiefe, bei dem sie den Stein mehr oder weniger genau treffen (was mehr oder weniger unterschiedliche Deformierungen der zermanschten Körper ergibt), geben Mitglieder der Gemeinschaft die Richtung der Regeneration vor. Aster macht unverhohlen deutlich, dass es sich hier um eine Form von (klarerweise unbegriffener) Parodie auf Natürlichkeit handelt: Das Rad von Geburt und Tod, die Zyklen der Erneuerung, werden bei den alten Schweden mit einer Opferlogik verbunden, die der Natur ihr Wirken nur zutraut, wenn es gelegentlich schockierend und zeichenhaft verstärkt wird.

Hermann Hesse hat an das Ende seines späten Romans Das Glasperlenspiel eine kurze Geschichte über einen «Regenmacher» gestellt, die mit einer angemessen vagen Zeitangabe beginnt: «Es war vor manchen tausend Jahren». Dieser Regenmacher soll uns nahebringen, wie sich ein mythisches Zeitalter von innen ausnehmen mochte, und wie sich die Menschen damals abmühten, «kultische Harmonie» in einen Kosmos zu bekommen, von dem sie gerade einmal den Mondzyklus begriffen hatten. An Hesses ehrenwerten Versuch musste ich denken, als ich den Assoziationen über das Zelt in Midsommar und Parasite folgte. Denn der Regenmacher ist letztlich mimetischer Fake, er vermittelt eine Perspektive, die nur als erzählerischer Übersprung im Kitsch enden kann.

 

Parasite

© Barunson E&A

 

Midsommar und Parasite gehen hingegen beide hoch bewusst mit dem mythischen Repertoire um. In beiden Fällen ist das Zelt eine symbolische Szene, in der eine soziale Frage kulturell gelöst werden soll. In Midsommar hat die soziale Frage mit der wahnhaften Vorstellung eines natürlichen Gleichgewichts und einer choreografierten Evolution zu tun. Die Sommersonnenwendler haben sich eine Erneuerungslogik geschaffen, für die sie mit dem Zelt ausgerechnet eine Bevölkerungsgruppe zum Zeichen machen, die dafür am wenigsten geeignet ist: die indigenen Amerikaner, die aus ihrer weitgehenden Ausrottung nur noch die Illusion einer natürlichen Lebensform in die Vorstellungswelten der Weißen hinüberretten konnten. In Parasite hat sie soziale Frage mit der Verteilung von Raum zu tun: Kann eine Musterfamilie eine zweite beherbergen, kann der Klassengegensatz also dadurch aufgehoben werden, dass dessen Antagonisten denselben Raum einnehmen?

Das Tipi wird in beiden Filmen zu einer Kippfigur für die unentscheidbare Frage, die wir auf die Anfänge der Menschheit projizieren. Sind die Menschen ursprünglich zum Zusammenleben geschaffen, oder für den Kriegszustand? Beide Filme sind nicht so dumm, diese Frage beantworten zu wollen. Sie lassen aber mit ihren perfekt zu einem jeweils höchst konsequenten Ende erzählten Geschichten etwas erkennen, was uns in der Gegenwart als eine Entstellung der Ursprungsmythologien gelegentlich im politischen Diskurs begegnet. Sozialpolitik und Identitätspolitik sind natürlich keineswegs voneinander zu trennen, auch wenn Mark Lilla oder Sigmar Gabriel zwischendurch aus taktischen Gründen ab und zu die eine gegen die andere priorisieren wollen. Die eine ist immer die Szene der anderen, und zwei große Autorengenrefilme führen uns in diesem Herbst mitten hinein in das Abenteuer einer Politik, die sich als Mythos (der Menschenpark in Schweden) und Moderne (die Reichenfestung in Seoul oder, das Wort bekommt hier eine schneidende Bedeutung: die Immobilie) immer neu konfiguriert, damit aber mehr als hinreichend Inspiration für revolutionäres Handeln erzeugt. Howgh.

 

Midsommar (Ari Aster) USA 2019 | Kinostart am 26. September || Parasite (Bong Joon-ho) KR 2019 | Kinostart am 17. Oktober 2019