filmkritik

Haus der Liebe Die Cahiers du Cinéma wurden in der Quarantäne neu aufgestellt

Von Bert Rebhandl

 

Ein nackter Mann und eine nackte Frau in vollem Lauf in aller Öffentlichkeit – das zeigt das Titelbild der Ausgabe 766 der Cahiers du Cinéma. Es ist die Juniausgabe, von der vor einem Monat noch unklar gewesen war, ob sie erscheinen würde. Denn es hatte einen Aufstand gegeben: Die Redaktion der Cahiers war nach einem Eigentümerwechsel vollständig zurückgetreten. Die Zeitschrift gehört nun einer Gruppe von Industriellen und Medienbesitzern, die in den Augen der Skeptiker eine zu große Nähe zur Filmwirtschaft aufwiesen und der Redaktion womöglich auch verordnen wollten. Nun aber sagt das Editorial des neuen Chefredakteurs Marcos Uzal auch ganz ausdrücklich: Die Cahiers «laufen wieder». Wobei das Titelbild dazu eine subtile Pointe enthält, denn die Öffentlichkeit ist leer. Mathieu Amalric und Omahyra Mota laufen durch eine Welt, oder zumindest einen Bildausschnitt, ohne Menschen. Les Derniers Jours dumonde heißt der Film von Arnaud und Jean-Marie Larrieu aus dem Jahr 2009, eine «unterschätzte» Science-Fiction-Geschichte über ein Ende der Welt, in der Uzal einen «élan vital, enthousiaste et charnel» entdeckt. Einen Elan gegen das Eingesperrtsein: confinement ist in Frankreich der Begriff für die Beschränkungen des öffentlichen Lebens in der Coronakrise. Der Neubeginn der Cahiers fällt nun auch mit den ersten Schritten des deconfinement zusammen. Das Herauskommen von Filmen (sortie) und das Herauskommen der Menschen bedingt sich wechselseitig,

Marcos Uzal ist offenkundig eine gute Wahl für die Position des Nachfolgers von Stéphane Delorme. Er hat für die Libération geschrieben, aber auch für Trafic und Vertigo. Wenn man sich seine Texte aus den ersten Wochen dieses Jahres ansieht, stößt man sofort auf interessante Sachen, zum Beispiel eine Notiz über Fernand Deligny, der auch filmisch mit Autisten gearbeitet hat, und über den es einen Dokumentarfilm von Richard Copans bei Shellacfilms gibt. Le Moindre Geste (1971), einen potentiellen Klassiker des (anti)psychiatrischen Kinos von Deligny, gibt es seit Ende 2019 auf Youtube.

Die alte Redaktion hat sich im April in der Ausgabe 765 mit einem Dossier über die Frage Qu’est-ce que la critique? (Was ist die Kritik?) verabschiedet – das Titelbild dazu kam von Godard, aus seinem Bildbuch. Auf 26 Seiten findet man da einen kollektiven Text, der aus vielen kleinen Einträgen besteht. Ein Leitmotiv findet er in dem Begriff der «Liebe zum Kino». Die Liebe wird durch Kritik sogar steigerbar: «l’art d’aimer l’art d’aimer». Der im November 2019 verstorbene Jean Douchet, der 1987 ein Buch mit dem Titel L’art d’aimer geschrieben hatte, kommt noch einmal zu allen Ehren.

Natürlich kommt ein solches Dossier nicht um den Schlüsselbegriff herum, den die Cahiers zum Teil wohl schon als Hypothek empfinden mussten: die «politique des auteurs». Dass man das Kino in Form von individuellen Einschreibungen lesen kann, wie man das anfangs gegen die Konventionen einer literarisch geprägten Industrie wandte, mag nach den vielen De-und Rekonstruktionen im intellektuellen Leben nicht mehr so selbstverständlich sein, wie es bei einem Hitchcock noch scheinen mochte. Auteurs sind für die Cahiers heute ganz einfach Filmemacher, die eine certaine vision de la mise en scène erkennen lassen, die man lieben und denken kann (on l’aime et on le pense). Das «gemeinsame Haus», das so entsteht, hat Platz für einen Blick, der eher mit Dissonanzen arbeitet (Bruno Dumont, Bertrand Mandico), aber auch bazinianische Positionen sans artifice gehören in dieses Haus (Guillaume Brac, Claire Simon).

Fast schon standhaft könnte man es nennen, wie die Redaktion sich gegen das Spoiler-Verbot (das Wort ist auch im Französischen gebräuchlich) stellt, nicht durch stures Verraten, aber doch zumindest dem Prinzip nach, dass man sich dem Triumph des «story-telling» entgegenstellen möchte, indem man sich von Cliffhangern und Pointen nicht terrorisieren lässt, jedenfalls nicht in einem «primat du sujet», gegen den ja vor allem das Konzept der mise-en-scène erfunden wurde.

Am besten in der «tapisserie» zum Thema Kritik sind die konkreten Beispiele, etwa eine kleine Reflexion über die Frage, ob man zu einem Film auch eine Meinung haben könne, ohne ihn sich anzuschauen. Serge Daney vertat sich auf diese Weise mit Die Kinder vom Bahnhof Zoo, der aber wiederum wohl erst retrospektiv interessant erscheint, als ein Zeugnis eines verschollenen Berlin.

Ein «gemeinsames Haus» ist wohl immer auch unweigerlich eine Blase. Paris ist zweifellos eine Metropole, aber das Dossier ist doch auf eine merkwürdige Weise weltfern. Wohlwollend könnte man sagen: Die Kritik der (nunmehr schon ‹alten›) Cahiers biedert sich keinen (theoretischen oder newszyklischen) Moden an. Man könnte aber auch sagen: Ein neuer ‹Anlauf›, das Pariser Liebesnest ein wenig aufzumischen, ist vielleicht nicht ganz verkehrt.