der demokratische wald

Das Mordwäldchen

Von Ludger Blanke

© Ludger Blanke

 

Die von Baumwurzeln gesprengte breite Steintreppe, die von der Straße Alt-Moabit aus in das verborgene Dreieck des überraschend hübschen Parks herunterführt, ist der einzige noch vorhandene Rest des einstigen Ausstellungsgeländes ULAP neben dem damaligen Lehrter Bahnhof, der sich in etwa auf dem Areal des jetzigen Berliner Hauptbahnhofs befand. Die Treppe wirkt wie ein archäologisches Relikt aus einer anderen Zeit – in einer Gegend, in der sonst kein Stein auf dem anderen gelassen wurde, beim Umbau zu einem unwirtlich neoliberalen Stadtquartier – und gleichzeitig wie ein Requisit aus einem Film von Hayao Miyazaki. Eine Treppe in eine verwunschene Unterwelt.

Denn wenn es nachts irgendwo in Berlin spuken sollte, dann wäre es hier.

1919, nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands durch die SPD-geführte Regierung Ebert, verscharrte man dort 126 Leichen der in den umliegenden Gefängnissen ermordeten Spartakisten, nachdem sie vorher mit Kalk überschüttet worden waren. Die wohl dunkelste Stunde der deutschen Sozialdemokratie. 1927, acht Jahre später, wurde das Massengrab entdeckt, als dort Stromkabel für die Stadtbahntrasse verlegt werden sollten.

Später dann, in einer Nacht Ende April 1945, Berlin war schon von der Roten Armee eingeschlossen, wurden 17 Gefangene aus dem Umkreis des 20. Juli von einem Trupp der Waffen-SS vom Zellengefängnis auf der anderen Straßenseite auf das inzwischen zerbombte Gelände geführt, per Genickschuss ermordet und dann liegengelassen. Ein paar Wochen später, das Nazireich war inzwischen Geschichte, zog man aus den Manteltaschen eines der dort noch liegenden Ermordeten, Albrecht Haushofer, die eng bekritzelten, zusammengefalteten Manuskriptseiten seiner in der Zelle geschriebenen Moabiter Sonette.

1972 dann grub man bei Bauarbeiten neben der Stadtbahntrasse Überreste von zwei Skeletten aus dem Boden. Eines davon, stellte sich später mit Hilfe von DNA-Vergleichen heraus, war das Martin Bormanns, des engen Vertrauten Hitlers, dem zunächst die Flucht aus dem Bunker der Neuen Reichskanzlei gelungen war und von dem bis dahin vermutet wurde, er habe sich nach Südamerika absetzen können. Nachdem ihm am Lehrter Bahnhof offenbar bewusst wurde, dass für ihn dort kein Zug mehr abfahren würde, nahm er sich, wie man heute annimmt, mit Hilfe einer Zyankali-Kapsel das Leben.

Fast durch einen Zufall, weil ich mit dem Rad eine Abkürzung suchte, geriet ich dann über den Durchlass einer breiten Mauer auf das Gelände des ehemaligen Gefängnisses gegenüber. Die Gebäude hinter der alten Gefängnismauer sind verschwunden, nur die Grundrisse werden noch in der Parklandschaft angedeutet.

In der Entfernung sah man den Hauptbahnhof und auf der anderen Seite die oberen Partien der Hotels und der Corporate Buildings, die dort gerade gebaut werden. Ein Windstoß wehte den Lärm von draußen herüber, mir wurde kalt und ich machte mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel.

 

© Ludger Blanke