essay

Krise als Status Quo Quincunx, oder: Räume, Blicke, Körper im Kino zu Zeiten von Corona

Von Alejandro Bachmann

«Dr. Rudolph zeigte mir ein Gruppenphoto, das in dem schmalen Korridor jenseits des Speisesaals in einem prächtigen Holzrahmen an der Wand hing. Auf dem Foto waren etwa fünfzehn bis zwanzig junge Männer auf einem Fußballfeld zu sehen. Einige Meter weiter hing ein ähnliches Bild mit jungen Frauen. Beide Gruppen waren in einem Muster angeordnet, das als Quincunx bekannt ist, also in etwa so:

 

 

Dieses überall in der Natur und der Kunst vorkommende Design wirkte auf mich sehr beruhigend und beängstigend. Wie Baumreihen standen die jungen Männer da, nichts konnte sie umwerfen. Ihnen gehörte die Zukunft, kein Zweifel. Auffallend war, dass der Abstand zwischen ihnen immer exakt gleich war, außerdem hatten sie alle die gleiche Kleidung an, ein weißes Hemd, dazu schwarze Hosen und das – vermutlich zur Hose passende – Jackett hatten sie sich mit der rechten Hand über die Schulter gehängt.»

Diese Passage aus Clemens J. Setz’ Roman Indigo (2012) fiel mir als eine der ersten Kunsterfahrungen der letzten Jahre ein, nachdem in Wien erst langsam, dann immer schneller jene Maßnahmen getroffen wurden, die zur Zeit unter den Begriffen «Social Distancing» und/oder «Lockdown» subsumiert werden. Setz’ Erzählung handelt von Kindern, die mit ihrer Geburt von einer Aura umgeben sind, die es nur unter starker Übelkeit, Schwindel bis hin zu Erbrechen und starken Schmerzen und Krämpfen – und damit quasi gar nicht – erlaubt, sich ihnen anzunähern. «Ihnen gehörte die Zukunft, kein Zweifel».

Dass es vor allem dieses Buch war, dessen Erfahrung angesichts der neuen Gegenwart wieder an die Oberfläche schwappte, schien mir unmittelbar nachvollziehbar und war zugleich etwas irritierend. Einerseits, weil das Kino einen weit größeren Anteil meiner ästhetischen Sozialisation ausmacht als die Literatur: Warum also kam mir zuerst ein Roman in den Sinn? Andererseits, weil die Corona-Krise mir in gewisser Weise sofort eine Affinität zum Kino zu haben schien, will heißen, dass mir das Kino sofort in besonderer Weise in der Lage schien, darüber nachzudenken: Denn das Daheimbleiben, Abstandhalten, nach Symptomen bei sich selbst und anderen Ausschauhalten bedeutet – etwas abstrakter formuliert – nichts anderes als die Neukonfiguration oder Umorganisation von Räumen, Blicken und Körpern. (Das dem so ist, macht bereits das überraschend aggressive Auftauchen der Skype-Alternative Zoom just in diesem Moment deutlich, die ihren Namen nicht zufällig dieser Kameraoperation entlehnt: Die simulierte Annäherung/Entfernung bei tatsächlich gleichbleibender körperlich-räumlicher Distanz).

Ein Grund könnte sein, dass die ersten Filme, die vielen vermutlich in so einem Moment einfallen, Katastrophenfilme wie Outbreak (1995) oder Contagion (2011) sind. Deren Erzählungen berichten auf den ersten Blick quasi eins zu eins von der gegenwärtigen Realität, zumindest scheint das so. Dieser Spur nachzugehen, wie es auch einige Texte direkt nach Einsetzen des Lockdowns getan haben, erwies sich aber schnell als äußerst unbefriedigend, gerade weil diese Filme nicht – oder nur in sehr geringem Maße – von dieser neuen Situation der Körper, Räume und Blicke zu berichten wussten. Der Fokus liegt in ihnen eher auf den Dimensionen des Spektakels, die das Virus auszulösen im Stande ist oder den Abläufen des politisch-wissenschaftlichen, nationalen oder internationalen Apparats, die zu seiner Eindämmung führen sollen. Die Filme erzählen vor allem eine Geschichte, jene vom Kampf gegen und Sieg über das Virus, aber nicht allzu viel über die veränderte Situation der Blicke, Körper und Räume. (Und nur zur Sicherheit sei hier dennoch die große Bewunderung für Contagionhervorgehoben, jenes Procedural von Steven Soderbergh, das mich endgültig zu einem Begeisterten seines Kinos machte – so gesehen eine sehr starke, beglückende Kinoerinnerung im Zusammenhang mit Corona). Setz dagegen beschreibt vor allem Situationen – zwischen Eltern und ihren Indigo-Kindern, zwischen Lehrer*innen und Indigo-Schüler*innen, wobei er die sich begegnenden Perspektiven ineinander verschachtelt. Daraus ergeben sich nicht nur prägnante Bilder wie jenes oben zitierte, sondern auch ein unheimlicher Einblick in die aus dieser erzwungenen Distanzsituation entstandene psychologische Konstitution und ihre Auswirkungen auf das soziale Miteinander.

Nach und nach, im Verstreichen der Tage, das mir auch ermöglichte, ein wenig zu begreifen, was diese Neuausrichtung der Körper, Blicke und Räume tatsächlich bedeutet (wie sie sich also anfühlt – in der Wohnung, auf der Straße, zwischen mir und anderen in den stark reduzierten persönlichen aber auch zufälligen Begegnungen ) und ein wenig auch im aktiven Versuch, wartend zu provozieren, welche Filme und Filmmomente nun nach oben schwappen, formierten sich die ersten Konturen eines Bildes, welche Kinoerfahrungen der Vergangenheit mir in der neuen Gegenwart als besonders relevant erschienen. Ohne Frage wird es ein Kino nach Corona geben. Es wäre albern, jetzt zu versuchen, es zu beschreiben. Aber ein Blick zurück könnte zumindest sichtbar machen, wann das Kino uns bereits von der inneren Verfasstheit erzählt hat, die die gesellschaftspolitischen Maßnahmen rund um das Virus hervorbringt.

Kurt Krens 31/75 Asyl wäre beispielsweise so ein Film. Der achtminütige statische Blick aus dem Fenster auf eine Landschaft im Saarland, besser: auf die immer selbe Landschaft zu verschiedenen Zeiten, die durch eine spezielle Konstruktion einer Kameramaske und eine Mehrfachbelichtung des immer selben Filmstreifens zugleich überlagernd und nebeneinander ein Gefühl von Ewigkeit (tatsächlich dauerte der Drehprozess 21 Tage) und Stasis, vom Eingesperrtsein innen und dem Weiterlaufen der Zeit außen vermittelt. Sehnsüchtig distanziert sieht man zu und nimmt doch nicht Teil, im Blick ein körperlich spürbarer Stillstand, im Erblickten die Sehnsucht nach Bewegung und Teilhabe.

Eine weitere Verschiebung der Blicke, der Blickverhältnisse lässt sich wahrnehmen: Überdeutlich und in aller Widerwärtigkeit in den rassistischen Zuordnungen, die den Menschen mit asiatischem Aussehen dieser Tage entgegengebracht werden. Aber so sehr man das von vorneherein für sich selbst ablehnt, kann man doch feststellen, wie der eigene Blick zumindest ins Paranoide überging – wenn jemand in der Nähe hustet oder niest zu Beginn, mehr und mehr aber wann immer jemand Unbekanntes sich einem nähert, auf der Straße, im Supermarkt, der Apotheke oder im Park, den wenigen Orten, an denen man offiziell noch sein durfte. Aufgetaucht ist dann immer der Moment in Jordan Peeles Get Out (2017), wenn der Protagonist begreift, dass all die weißen Freund*innen, die seine Schwiegereltern eingeladen haben, es auf ihn abgesehen haben, wenn alle Distanzen und Blicke zwischen ihm und denen eine ganz andere Dimension bekommen, sich aus einer vermeintlichen Sicherheit in Unruhe verschieben, auf der Schwelle zwischen Erkennen und Paranoia.

Doch während der Protagonist in diesem Film mit seinem Blick Recht behält, er also nicht nur blickt, sondern eben auch erkennt, erzeugt die Corona-Krise eher das Gegenteil: Der Blick wird machtlos, er heftet sich an Oberflächen, ohne dass das in der unter Spannung stehenden Situation irgendwie weiterhelfen würde: «Hinzusehen ohne zu sehen macht schließlich bei der Oberfläche halt, und Oberflächen stellen sich den Sinnen als potentielle Objekte für vor allem Tastempfindungen dar. Der nicht-sehende Blick ist ein Ersatz für oder die Vorahnung von einer Berührung, ohne festzuhalten, einem Streicheln, ohne einzuengen. […] – die Sichtbarkeit von Oberflächen ist durchsetzt von der Antizipation der Berührbarkeit; es ist die potentielle Berührungslust, die ausgestellt wird, der eine gebieterische und aufdringliche Präsenz verliehen wird – visuell hervorstechend», schreibt Zygmunt Baumann. Vermutlich deshalb waren es vor allem Filme von Claire Denis, die ich erinnerte. Dort hatte ich dieses Verhältnis von Entfremdung und Distanz bei gleichzeitig erhöhter körperlicher Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der anderen als Körper immer wieder gesehen und gespürt: In S’en fout la mort (1990), in Beau Travail (1999), Trouble Everyday (2001), L’Intrus (2005), Filme über Menschen, die Distanz zur Welt eingenommen haben oder einnehmen mussten und darin eine erhöhte Sensibilität für das Viszerale entwickeln: Weit weg und nah dran, in räumlicher Sicherheit und zugleich verschärfter Aufmerksamkeit für die Dimensionen des Körpers, seiner Sinnlichkeit wie seiner Gefahren.

Das Erinnern an diese Filmerfahrungen ist kein cinephiler Zeitvertreib, um in der sich auflösenden Zeiterfahrung des Lockdowns irgendetwas zu tun zu haben. Es entstammt dem Bedürfnis, die gegenwärtige Situation emotional und rational zu verorten und in der Auseinandersetzung mit diesen Filmmomenten einen Umgang mit ihr zu finden, im Nachdenken über die Spannungen zwischen Blick, Körper, Raum im Film die Spannung in der Realität nicht aufzulösen, aber doch mit sich selbst zu verhandeln. Es geht mir darum herauszufinden, was das hier, um uns herum gerade ist und was einem abgeht.

In Ansätzen bietet es mir auch einen Hintergrund, vor dem ich über das Abwandern von ganzen Filmfestivalprogrammen und all der Filme, die fürs Kino gedacht waren, in den digitalen Äther nachdenken kann. Denn die hier genannten Filme (und viele andere) erzählen von dem In-Bewegung-sein der Blicke und Körper, der Blicke auf Körper, die sich einen oder mehrere Räume teilen, von physischen Distanzverhältnissen, die verhandelt werden. Der allzu zügige Entschluss vieler Festivals, die Präsentation von Filmen in den digitalen Raum zu verschieben, der genau diese Spannungen kaum noch hält, weil Distanzen, Blickrichtungen, Körperverhältnisse ins Leere laufen, scheint mir vor diesem Hintergrund als zu schnelles Einlassen auf die neue Situation (ohne dass ich bis jetzt einen besseren Vorschlag beisteuern könnte). Es ist gut für die Filme, gesehen zu werden, es ist gut für Kinos, wenn sie in Krisenzeiten über diese Umwege zu etwas Geld kommen. Wenn diese Praxis aber mit Floskeln wie «Wir haben es uns nicht leicht gemacht» begleitet wird, müsste man vielleicht auch erklären, wie man es sich denn noch leichter hätte machen können. Denn all das, was jenseits des eigenen Blicks auf den Film üblicherweise im Kino in Bewegung geraten kann und essentieller (nicht ausschließlicher) Teil von Filmkultur ist, verschwindet und nimmt – auf eine für mich gruselige Weise – schon vorweg, wie sich eine Welt anfühlt, in der dieses Verhandeln von Blicken, Körpern und Räumen beim Sehen von Filmen endgültig keine Rolle mehr spielt. Wer nun einwenden möchte, gerade das Kino sei doch in der Dispositivtheorie der 70er Jahre als unbeweglicher und starrer Raum beschrieben worden, dem sei das Wiedersehen von Matthias Müllers und Christoph Girardets Play (2003) empfohlen, der die Bewegungen und Blicke, die Reaktionen auf die anderen vor, hinter, neben mir und im ganzen Raum in einer Montage aus Filmszenen verdichtet. Der Unterschied zum einsamen Verweilen vor dem Rechner, dem Fernseher, dem Beamer könnte größer gar nicht sein. Im unendlichen virtuellen ‹Nichtraum› gibt es kein Verhandeln von Nähe und Distanz, von Blicken und Körpern, von Blicken auf Körper. Die Rede von ‹der Krise als Chance›, die das Abwandern der Filme in den digitalen Raum begleitet, ist tatsächlich, in dieser Geschwindigkeit, vielleicht eher eine Bestätigung der ‹Krise als Status Quo› und mit ihr die gemeinsame Erfahrung von Kunst bloß ein Quincunx. g

Dieser Text wurde Anfang April 2020 verfasst