Stefan Hayn Der Text als Zeuge
Stefan Hayn arbeitet seit 30 Jahren an den Grenzen und Übergängen zwischen Kino, Malerei und Sprache. Sein neuer Film Pain, Vengeance? beschäftigt sich mit Passagen aus dem Werk von Robert Antelme. Ein Gespräch über die französische Sprache, deutsche Vergangenheitsbewältigung und eine Kindheit in Franken
Ein Gespräch mit Stefan Hayn gleicht in mancherlei Hinsicht seinen Filmen. Wir haben uns über Skype verabredet, obwohl wir in Berlin eigentlich fast Nachbarn sind. Drei Sitzungen schaffen wir im Mai. Er redet frei und antwortet offen, aber er hat auch immer wieder Textpassagen bereit, aus denen er ausführlicher zitiert. Ein Gespräch für eine Filmzeitschrift ist zugleich eine Paraphrase und eine Übersetzung seiner Arbeiten. Und wie er bei den Texten, mit denen er sich in seinen Filmen beschäftigt, alle Facetten zwischen Originalsprache, Originalaussprache, Fremdsprache, Übersetzung, Druckbild, Inszenierung durcharbeitet, so müsste es auch zu dem Gespräch in diesem Heft im Idealfall so etwas wie eine Tonspur geben, eine Spur, die von dem notwendigerweise ungenügenden mündlichen Gespräch zu dem Text führt, der nun veröffentlicht wird – eine Übergangsform zwischen Transkription und Redaktion, in der dann auch Zitate eine wichtige Funktion einnehmen.
Das filmische Werk von Stefan Hayn begann vielleicht nicht ganz ungefähr in der Zeit der Wende und der Wiedervereinigung, also in einer Zeit, in der sich, jedenfalls nach einer möglichen Lesart, eine historische Wunde schloss, die der Faschismus hinterlassen hatte. Die deutsch-französische Freundschaft, die zum Kern einer wie immer einseitig ökonomisiert gedachten europäischen Integration wurde, hat Hayn mit eigenen Akzenten bereichert: durch intensive Auseinandersetzung vor allem mit Robert Antelme, der gleich nach dem Krieg über eine Vergangenheitsbewältigung zu schreiben begann, zu der ein Begriff erst geprägt werden müsste. Wenn ich in diesen Wochen Merkel und Macron zu Europa sprechen höre, dann sehe ich auch immer den «Brotdiebstahl» zwischen Menschen, die in Deutschland aller Rechte und schließlich auch des letzten Notwendigsten zum Leben beraubt wurden, sodass sie es einander selbst rauben mussten. Diese Szene, und der Verzicht auf blutige Rache dafür (vengeance), sind europäische Gründungsmomente.
Das filmische Werk von Stefan Hayn ist auf keinen Begriff und keinen Punkt zu bringen. Er wusste schon von «Identitätspolitiken» (und unterlief sie), als sich die daraus erwachsende akademische Bewegung im deutschsprachigen Raum erst abzuzeichnen begann; er ging als Zeichner und Maler einen Weg unabhängig von den Moden, von denen das «Comeback» dieser Kunstform gerade auch in der Berliner Republik so euphorisch geprägt war; er arbeitet dokumentarisch und konzeptuell, geschichtspolitisch und selbstreflexiv, und hat sich mit seinen «Prozessen» oft viele Jahre Zeit gelassen. Die Zeit ist reif für eine Würdigung dieses Wegs, zu der dieses Gespräch nur ein Anfang sein kann.
Stefan, Dein neuer Film Pain, Vengeance? (Brot, Rache?) wird im Untertitel als «lecture filmée» ausgewiesen, als eine «gefilmte Lektüre». Was ist darunter zu verstehen?
«Lecture» ist der Akt des Lesens, zu dem auch das laut Aussprechen eines solchen Textes gehört, es kann aber auch im Sinn von Lesart verstanden werden. Der Blick auf etwas, die Perspektivierung von etwas – von Lebenssituationen, Arbeitsverhältnissen, auch von gesellschaftspolitischen Kodierungen oder bereits künstlerisch ausformulierten Darstellungen derselben – sind Gegenstand auch der früheren Filme.
Die Lektüre manifestiert sich wiederum in einem filmischen Text.
Ja, eher in einem Bild. Sie wird sichtbar als eine heutige Lesart, die von unterschiedlich weit vom Text und von seiner Erzählung entfernten Personen mitgetragen, verkörpert, mitgeprägt wird. Verschiedene Perspektiven, die bei Antelme im Text schon angelegt sind, werden im Film als quasi personifizierte explizit und treffen aufeinander – sich ergänzend und auch konfrontativ. Das anschaubar zu machen und einen erzählerischen Raum zu öffnen, in dem Zuschauer*innen auch mit persönlichen Erfahrungen darauf reagieren und sich ihr eigenes Bild machen können, versucht der Film.
Der Autor Robert Antelme firmiert in Deinem Werk schon länger zentral. Wann bist Du auf das Buch L’espèce humaine (Das Menschengeschlecht oder Die Gattung Mensch) gestoßen?
Im Zusammenhang mit der Begegnung mit Dr. Ursula Bohn und dem mit ihr 1995 realisierten Zeitzeuginnen- oder Oral history-Film Am Israel Chai begann ich, verschiedene Berichte über die nationalsozialistischen Konzentrationslager zu lesen, darunter Primo Levi, Imre Kertész, Jean Améry oder Ruth Klüger. Das Buch von Antelme fiel mir auf als ein sehr feinsinniger Bericht, der speziell die zwischenmenschlichen Verhältnisse innerhalb der Lager-Männergesellschaft in den Blick nimmt; die Lager waren ja nach Geschlechtern getrennte Sphären. Es herrschte offensichtlich eine seltsame Mischung aus erzwungener, fast intimer Vertrautheit unter den Gefangenen und der gleichzeitigen Zerstörung jeder Privat- oder Intimsphäre. Antelmes Buch beginnt mit dem Satz «Je suis allé pisser» (Ich bin pinkeln gegangen) in Buchenwald, an der Latrine des sogenannten «Kleinen Lagers» im Sommer 1944, und endet am 30. April 1945 in Dachau, im Gespräch mit einem – wie Antelme selbst – sterbenskranken russischen Mitgefangenen. Antelme sagt zu ihm auf Deutsch: «Wir sind frei…». «Ja», antwortet der andere. Erstaunlich war für mich, dass ich die äußere Handlung des Buches auch nach mehrfachem Lesen immer wieder vergaß; die Atmosphäre und der Tonfall, in dem Antelme darüber spricht, war aber nah und erinnerbar.
In Pain, Vengeance? geht es unter anderem um eine Passage, die nicht in allen Ausgaben von L’espèce humaine enthalten ist.
Robert Antelme ließ diese zweiteilige Passage zum Brotdiebstahl unter den Gefangenen aus der offiziellen Gallimard-Ausgabe von 1957 streichen, damit «der Autor des Brotraubs nicht wiedererkannt werde», wie er in einer vorangestellten Redaktionsnotiz bei der Wiederveröffentlichung, die seine zweite Frau Monique Antelme nach seinem Tod veranlasst hat, zitiert wird. Im Film trifft die Brotraub-Erzählung, in der der Erzähler vom Bestohlenen zum Zeugen eines Diebstahls und schließlich zum Ankläger und Verteidiger einer intern fragwürdigen Lagermoral mit Todesfolge für einen Mithäftling wird, auf einen quasi journalistischen Text mit dem Titel Vengeance? (Rache?), den der Autor noch vor L’espèce humaine geschrieben und im November 1945 in der Deportiertenzeitschrift Les Vivants veröffentlicht hat. Anlässlich von Presseberichten über Misshandlungen von deutschen Kriegsgefangenen in französischen Kriegsgefangenenlagern stellt er eine Reflexion über Vergeltung und Rache an – aber eben aus der Perspektive des gerade erst aus deutschen Konzentrationslagern Geretteten. Antelme war von der Ausbildung her Jurist. Jean-Luc Nancy hat später in einem Nachwort zu Vengeance? geschrieben, dass die Verwerfung von Blutrache – ohne je gänzlich zu gelingen – Grundlage jeder Rechtsordnung sei. Das Zusammendenken der beiden Texte durch die direkte Konfrontation im Film eröffnet meiner Ansicht nach eine Möglichkeit, sich mit Antelmes Werk, das ja von vielen, so auch von dem Philosophen Giorgio Agamben, als wichtiger Referenzpunkt genannt wird, genauer zu befassen.
Gibt es in Deiner Biografie Momente, die das intensive Interesse für Antelme verstärkt haben?
Die Filme sind die Antwort. Ich bin skeptisch bei solchen Fragen. Auch wenn ich an anderer Stelle versucht habe auszuführen, dass es durchaus eine Notwendigkeit zum Sprechen auch jenseits der Kunst gibt. Mein Vater war im August 1944 mit siebzehn Jahren zum «Reichsarbeitsdienst» eingezogen worden, er kam an die Ost-Front und blieb nach der Gefangennahme bis 1948 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, unter anderem im Ural-Gebiet. Was er erlebt hatte in den Lagersituationen, war vollkommen unaussprechlich, in der Familie nicht ansprechbar, und Therapien, um so etwas aufzuarbeiten, gab es nicht. Ich erinnere mich, dass es vor allem in Konfliktsituationen in der Luft lag: aggressive Aus- und emotionale Zusammenbrüche – dies hier erwähnt, ohne Täter- und Opferrollen während des Nationalsozialismus unzulässig in eins zu setzen; wobei es sich für die kindliche Erfahrung in der nächsten Generation aber eben doch auch noch anders darstellt. Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt hat in ihrem neuen Roman Bis wieder einer weint diesen Fragenkomplex sehr berührend und intelligent bearbeitet. Mein Vater erkrankte schwer mit 47 Jahren und ist dann nach drei letzten, in meiner Herkunftsfamilie noch glücklichen Jahren mit 50 verstorben.
In Deinem Film STRAUB hast Du auch bereits Passagen von Antelme verwendet.
Ja, «verwendet» klingt ein bisschen nach dem appropriation-Vorwurf, der ja schnell kommt, wenn man Bezüge auf bekannte Werke herstellt. In den L’espèce humaine-Passagen, die im Film STRAUB zitiert und parallel montiert werden mit Passagen aus Danièle Huillets Arbeitsjournal-Text zu den Dreh- und Montagearbeiten am Straub-Huillet Film Moses und Aron, geht es um die Konfrontation zwischen den ‹politischen› und den ‹kriminellen› Häftlingen im Außenlager Bad Gandersheim, wo Antelme ja am längsten interniert war. In diesem niedersächsischen ‹Außenkommando› von Buchenwald war es so, dass deutsche und zum Teil auch französische ‹Kriminelle› die Kapo- und Stubendienst-Posten besetzten und damit Mittlerpositionen zwischen der SS und den Gefangenen einnahmen. Das hatte extreme Konflikte, ja, man muss sagen: Kämpfe zur Folge, zwischen denjenigen, die, wie Antelme, als Gegner des Nationalsozialismus dorthin deportiert worden waren und in der vollkommen rechtlosen Lagersituation versuchten, noch eine gewisse Solidarität untereinander aufrecht zu erhalten, und den Berufsverbrechern und Kleinkriminellen, die diese Haltung mit ihren Deals mit der SS permanent untergruben. An einer Stelle heißt es in dem in STRAUB zitierten Text: «On ne pouvait plus parler des droit commun, ils ne pouvaient plus parler de la résistance, sans que la bagarre se déclanche. On devenait d’une susceptibilité extrême pour tout ce qui concernait l’origine de sa présence ici.» (Wir konnten nicht mehr über die Kriminellen sprechen, sie konnten nicht mehr über die Résistance sprechen, ohne dass sofort die Prügelei losging. Jeder wurde immer empfindlicher gegenüber allem, was den Grund seiner Anwesenheit hier betraf.)
In der Brotraub-Erzählung des neuen Films Pain, Vengeance? geht es jetzt um die Konfrontation unter den ‹politischen›, also gewissermaßen unter den moralisch aufrechten Häftlingen; und dann aber auch um die innermenschliche Frage des möglicherweise Schuldig-Geworden-Seins, die bei Überlebenden auftaucht. Du zeigst die Brotdiebstahl-Sequenzen in einer Darstellung mit verteilten Rollen in einer Kirche in Bad Gandersheim. Es ist mehr als eine szenische Lesung, könnte man von reenactment sprechen?
An dem Begriff hängt natürlich die ganze Repräsentationsdebatte, ob und wie Konzentrationslager-Erfahrungen nachempfunden und bildnerisch-theatralisch sozusagen ‹vergegenwärtigt› werden können oder dürfen; wobei Gandersheim ein Arbeitslager, kein Vernichtungslager war. Wie gesagt, wir haben bei den Proben die Personifizierungen, die in Antelmes mehrperspektivischer Erzählung bereits angelegt sind, durch die Textverteilung herausgearbeitet: Wer spricht wann was? Den Brotraub-Text auf Französisch sprechen in Deutschland und Österreich aufgewachsene Nicht-Französischmuttersprachler unterschiedlicher Generationen; ich wollte keine Franzosen bitten, sich in die speziell perfide Kirchenkonzentrationslager-Situation in Bad Gandersheim zu begeben. Der dadurch bedingte deutsche Akzent ist also kein Zufall. Den Vengeance?-Artikel – bis auf wenige Sätze, die ebenfalls mit deutschem Akzent gesprochen werden – spricht Guillaume Lefèvre, ein junger Franzose, der Antelme als Schullektüre kennengelernt hat und in dessen Familie man sich, wie in vielen französischen Familien, an die Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Besatzern erinnert; sowie die Amerikanerin Lydia Kann, die in Paris die Résistance- und Deportationsgeschichte ihrer jüdisch-polnisch-französischen Eltern und Großeltern recherchierte. Und zum Ort: Ich war 2012 für die Antelme-Teile im Film Straub nach Bad Gandersheim gefahren, zur Recherche und dann auch zum Drehen. Die museal ausstaffierte Brunshausener Klosterkirche, die ich damals besichtigt hatte, und die seit der Säkularisation nicht mehr genutzt worden war, wurde im Oktober 1944 zur Behausung für die aus Buchenwald eintreffenden Deportierten umfunktioniert, solange, bis diese die Baracken direkt neben der Ernst-Heinkel-Flugzeugfabrik, in der sie arbeiten mussten, gebaut hatten. Nach dem Krieg stand die Kirche dann wieder leer. In den 90er Jahren wurde ein Kirchenschatz gefunden und dann in der später renovierten Kirche ausgestellt: Reliquien, Kultgegenstände und Textilien. Freundlicherweise durften wir vor den sehr kostbaren, in Vitrinen ausgestellten bestickten Stoffen, die von den Nonnen und Kanonissen über die Jahrhunderte angefertigt und gesammelt wurden, drehen – vom 8. bis 11. Dezember 2017, es war eiskalt.
Eine der Rollen wird von Thomas Heise gespielt. Wie kam das?
Thomas Heise hat mich bei einer Festival-Aufführung auf die in STRAUB zitierten Antelme-Passagen angesprochen. Er wies darauf hin, dass es jenseits der geläufigen BRD-Übersetzung von 1987 durch Eugen Helmlé 1949 schon im Aufbau-Verlag eine für sein Empfinden stärkere Übersetzung gab. Das wusste ich, ich kannte die Übersetzung von Roland Schacht. Aber es ist natürlich wirklich bemerkenswert, dass das Buch so früh in der DDR veröffentlicht wurde und in der Familie Heise eine Wichtigkeit hatte, noch bevor es in Frankreich von Gallimard veröffentlicht worden ist. Antelme hatte es 1947 mit Marguerite Duras und Dionys Mascolo wenig erfolgreich im Selbstverlag herausgebracht. Ich habe Thomas Heise dann später gefragt, ob er beim Brotraub die Rolle des René übernehmen möchte, der nur wenig sagt, aber sehr pointierte Sachen. Netterweise war er dabei. Gebeten mitzumachen habe ich auch den Autor Stefan Ripplinger, der das Buch Philisterburg von Jacques Decour übersetzt hat, der im Film genannt wird, sowie die bildenden Künstler Fabian Ginsberg, Bruno Siegrist und Till Megerle, deren Sichtweisen mir für den Film wichtig erschienen.
Woher kommt Deine Nähe zur französischen Sprache?
Anfangs war’s Schulfranzösisch. Die künstlerisch-geistigen Traditionen des Nachbarlands haben mich interessiert, die Malerei. Der Kunstlehrer am Gymnasium hat glücklicherweise schon früh Cézanne gepredigt. Und für diesen neuen Film ist relevant, dass er im Rahmen eines Kulturaustauschstipendiums an der Cité Internationale des Arts in Paris entstehen konnte. Dort unterrichtet eine Französischlehrerin zweimal wöchentlich die Stipendiat*innen aus aller Welt mit völlig unterschiedlichen Vorkenntnissen. Sie hat immer darauf abgehoben, dass es nicht nur um Vokabeln und Grammatik geht, sondern darum, andere historische Entwicklungen, Kulturvorstellungen und Nähe- und Distanzverhältnisse abzubilden.
Cézanne ist für viele Künstler ein ästhetischer Bezugspunkt, nicht zuletzt für die Straubs. Was bedeutet er Dir?
Du weißt, dass ich von 1998 bis 2004 seinen Sur-le-motif-Pleinairismus in Malerei heute auf die Werbe- und Wahlplakate in der Berliner Stadtlandschaft angewandt habe, um die damals neue neoliberale Propaganda – inzwischen mit breitem Konsens als solche verurteilt – anschaubar zu machen. Es geht sicher um die Frage des Sehens und was ein Bild vermag. Welches Potential es haben kann, auch als filmisches Bild, das ja nicht einfach die Cadrage ist, sondern sich in der Zeit und beim Betrachter herstellt, wie die Malerei auch. Heinz Emigholz hat in einer Diskussion zu seinen Architekturfilmen neulich nochmals genau beschrieben, was für ihn beim Bildermachen passiert, wenn sich verschiedene Zeitlichkeiten und damit Seh- und gestalterisch-bildnerische Anstrengungen und Leidenschaften überkreuzen. An diesem Punkt würde ich auch das geistig Interaktive ansetzen. Da stellt sich eine Potentialität her. Cézannes Erbe ist vielleicht dort ganz gut aufgehoben, wo Distanz gewahrt bleibt. Bridget Riley hat ihn ähnlich wie Straub-Huillet ‹rückwärts› in Richtung Venezianer für sich erschlossen.
Was wäre die Potentialität der Brotgeschichte?
Anders aufs umgebende Jetzt zu schauen. Als die Männer da in diese komische Museumsarchitektur reingesetzt waren, musste ich an Obdachlose denken – «das nackte Leben», wie Agamben schreibt.
Wie würdest Du Antelmes Weltanschauung charakterisieren?
Sie kommt von der christlichen Tradition her, er ist in der katholisch geprägten Stadt Sartène auf Korsika aufgewachsen und geht in den Texten des Films – expliziter und kritischer noch in einem Text mit dem Titel Pauvre-Prolétaire-Déporté – auf dieses problematische Erbe ein. Er war sehr jung, um die 30, als er seine wenigen Texte schrieb, kannte aber durch die politische und die Lektoratsarbeit bei Gallimard sehr genau die zeitgenössischenDiskussionen. Merleau-Ponty, Camus werden zitiert in Vengeance?. Kurz nach Duras und Mascolo ist auch er in die französische KP eingetreten; sie wurden rausgeworfen, weil sie sich über die stalinistische Linie und den sozialistischen Realismus mokiert hatten, was ihn schwer traf. Ohne auf eine Schriftstellerkarriere abzuzielen, hatte er eine große Sensibilität. Der Film Pain, Vengeance? versucht ja auch ein Spektrum heutiger und auch vergangener Formen der Erinnerungspolitik vor allem in Deutschland abzubilden, ausgehend von Antelmes im Vengeance?-Artikel formulierter, früher Kritik an der Instrumentalisierung der Opfer und der Erinnerung an sie, an ihrer rhetorischen Vereinnahmung.
Man hört im Film am 29. April 2018 den damaligen bayerischen Kultusminister in der Gedenkstätte Dachau bei einer Ansprache …
… in der meiner Ansicht nach ein problematisches «Wir» und «Nie Wieder» beschworen wird. Jetzt, vor kurzem hat der amtierende deutsche Außenminister Heiko Maas beim 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen gesagt, dass jeder, der sich an den Namen eines Opfers erinnere, selbst zum Zeugen werde. Hier wird das jüdische Erinnerungsgebot mit den christlichen Erlösungsvorstellungen kurzgeschlossen, würden die Autoren des Buches Gefühlte Opfer – Illusionen der Vergangenheitsbewältigung Ulrike Jureit und Christian Schneider wahrscheinlich dazu sagen. Auf deren Argumentation baut auch der Autor Max Czollek in seiner Polemik Desintegriert Euch! auf, wenn er das «deutsche Erinnerungstheater» scharf kritisiert. In der Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz allerdings scheint diese Kritik berücksichtigt und die bekannte 1985er Rede seines Vorgängers Richard von Weizsäcker korrigiert oder zumindest aktualisiert.
Im Pain, Vengeance? sieht man auch das DDR-staatstragende Buchenwald-Mahnmal. Und an anderer Stelle sprechen Schüler*innen einer 10. Klasse in Bad Gandersheim bei der lokalen Gedenkfeier, einer sagt: «Als ich den Textauszug aus Robert Antelmes Menschengeschlecht gelesen hatte, versuchte ich mich hineinzuversetzen und aus seiner Sicht zu schreiben – ich, ein 16-jähriger Jugendlicher 2018, der diese Zeit nicht miterlebt hat.»
Wichtig scheint mir, um auf die Frage nach Antelmes Weltanschauung zurückzukommen, dass er im Artikel Vengeance? und auch in der Brotdiebstahl-Erzählung betont – mit Freud vielleicht, wobei ich nicht weiß, ob er mit dessen Psychoanalyse vertraut war: «Les crimes du nazisme ne se qualifient pas, mais appartiennent à un genre possible de l’humanité.» (Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ohne Beispiel, aber sie gehören zu einer möglichen Ausformung des Menschseins.)
Kannst Du Deine Kindheit und Jugend ein wenig beschreiben?
Ich bin in Franken, Tauber-Franken aufgewachsen. Die Gegend ist geprägt von den Umbrüchen im 16. Jahrhundert: Reformation, Bauernkrieg, später dann Dreißigjähriger Krieg. Die Riemenschneider-Altäre, die die Bildvorstellungen mitgeprägt haben, stehen in den Kirchen, in Rothenburg oder in Creglingen – dort nicht weit entfernt vom jüdischen Friedhof mit den Gräbern der Pogrom-Opfer vom März 1933, die man im Film Als Landwirt sieht. Die großen Krisen der frühen Neuzeit im Zuge der Durchsetzung der christlichen Religion haben alle Lebensbereiche betroffen. Das ist der Hintergrund einiger der Filme: Das heiße Eisen nach dem Hans Sachs-Stück, Nie wieder klug nach Otfried Preußlers Neuerzählung der Schildbürgerparabel von 1598/99, Das Festspiel oder ganz am Anfang auch Pissen.
In welchem Zusammenhang entstanden Deine ersten Filme Schwulenfilm, Tuntenfilm und Pissen?
Auf dem Weg vom Einzelbild zum Film, oder besser gesagt: vom Bild zur Erzählung. Ich habe nach Jahren des Zeichnens, Malens 1988 an der Kunstakademie Siebdrucke gemacht, auf denen – wie auf dem Filmplakat von Malerei heute sichtbar – der Satz steht, mit dem im Schwulenfilm die motivlosen Einzelbilder abgestempelt wurden: «Dieses Bild ist von einem Schwulen». Von heute aus würde ich sagen, dass da der Endpunkt einer bestimmten Bilderidentitätspolitik markiert wird: Es ist nichts anderes mehr zu sehen außer dieser identitären Zuschreibung. Und der zweite Film, der Tuntenfilm, ist gewissermaßen die Rückseite davon: Alles ist da, verfügbar, aber jedes Bild ‹sagt› mit einem Augenzwinkern: Ich bin nicht das, was du siehst. Wie es Manfred Hermes in einem Text geschrieben hat, lautete das Emanzipationsprogramm, Negativzuschreibungen als positiv gewendete Selbstbeschreibungen anzunehmen. «Tunte», «Tuntenfilm» heißt es fortlaufend in allen möglichen Schrifttypen und vor ganz unterschiedlichen Hintergründen. Bei Antelme gibt es einen erschreckenden Absatz, der nach den Passagen kommt, die im Film STRAUB zitiert werden: «Es war ein Zustand des Körpers, der seine Umsetzung in den gemeinsten Wörtern fand. Schwuler war eines der häufigsten. Mit diesem Wort sollte alles gesagt sein. (…) Schlamm und Schlaffheit der Sprache. Münder, aus denen nichts Geordnetes mehr herauskam, nichts, das stark genug war zu bleiben. (…) Die Sätze folgten aufeinander, widersprachen sich, waren wie ein Auswurf des Elends; gesprochene Galle. Alles kam auf einmal darin vor: der Schweinehund, die verlassene Frau, die Suppe, der Rotwein, die Tränen der Alten, der Schwule… Derselbe Mund sagte sie alle hintereinander. Es kam ganz von allein, der Kerl leerte sich aus. Es hörte nur nachts auf. So muss die Hölle sein, ein Ort, an dem alles, was gesagt wird, alles, was sich Ausdruck verschafft, in gleicher Weise ausgekotzt wird, wie in der Kotze eines Betrunkenen. Aber es gab auch die Ecke der Stillen.»
Kanntest Du diese Stelle schon, als du mit dem Filmemachen angefangen hast?
Nein, ich kannte das Buch von Antelme damals noch nicht.
Magst Du über Deine Sexualität etwas sagen?
Wie schon gesagt: Die Filme sind die Antwort, sie erzählen und zeigen alles, was wichtig ist zu wissen. Ich habe mit Männern Liebesbeziehungen gelebt und mit meiner Frau, wir sind Eltern von zwei Kindern. Die sogenannte sexuelle Orientierung hat meiner Ansicht nach vor allem mit dem sehr persönlichen Lebensweg und den davon abhängigen hochindividuellen Gefühlen jeder und jedes Einzelnen zu tun.
Du hast in Berlin Kunst studiert, und später in Ludwigsburg Film. Wie kam es zu dieser Abfolge?
Nach dem Zivildienst in einem Altenpflegeheim kam ich an die Universität der Künste in Berlin, wo Mitte/Ende der 80er Jahre eine neoexpressive Malerei, die Neuen Wilden, en vogue waren. Es gab relativ traditionell Malerei- und Bildhauereiklassen. Film kostete viel Geld und tauchte ‹nur› im ‹kleinen› Super-8-Maßstab in einem Experimentalfilmseminar auf, das Christoph Janetzko damals dankenswerterweise mit viel Elan leitete. Rebecca Horn übernahm die einzige Multimediaklasse. Ich wurde mit den Super-8-Filmen in der Klasse aufgenommen. Und im Kino Arsenal konnte man sich relativ schnell in ein, zwei Jahren einen Überblick über die Filmgeschichte verschaffen. Durch all das ging’s dann los, dass ich das Filmemachen als ernsten Entschluss verfolgte. Ich bekam eine erste Filmförderung für den sehr aufwendig gemachten Kostüm-Kurzspielfilm Fontvella’s Box: vier Wochen Drehzeit, vergleichsweise großes Team und immer mit dem Licht-LKW unterwegs. Der Film beerbt ein bisschen das surrealistische Kino: Buñuel, Cocteau und dessen Fortsetzung im New American Cinema. Bildnerisch und auch psychoanalytisch, würde ich heute sagen, vertieft er die Fragen, um die es in den ersten Super-8-Filmen geht: Am Ende kracht einiges zusammen, und zumindest der Off-Erzähler verspricht eine Fortsetzung nach dem großen Absturz. Es war der Abschluss an der Kunsthochschule und mein Meisterschülerfilm. Dann wurde schnell klar, dass für einen tieferen Einstieg ins Filmemachen doch anderes notwendig ist: Handwerkliches, aber auch Netzwerkwissen, würde man heute sagen. So kam der Entschluss, mich noch an einer Filmhochschule zu bewerben. Die Filmakademie in Ludwigsburg war 1992 eröffnet worden und mit einem sehr anderen Programm, dezidiert gegen die ‹Autorenfilm-Euphorie› der anderen Filmhochschulen, angetreten. Man wollte arbeitsteilig und berufsorientiert ausbilden, «Teamwork» war das Stichwort. Das traf hart auf die Berliner Erfahrungen, war aber im Nachhinein produktiv. Im Kunststudium hatte mich oft der unausgesprochene Fokus auf die Ausformung einer Künstler-Identität gestört.
1993 hast Du einen Film gemacht, den ich bisher nicht kenne: Klassenkampf in Amerika.
Es ist die zeitpolitisch-konkrete Rückseite von Fontvella’s Box, ein Wessi-Blick auf die Wende-Zeit. Der Film ist noch nicht digitalisiert. Er besteht aus fünf sehr heterogenen, disparat aneinander stoßenden Teilen; zwei davon beziehen sich auf Jean-Luc Godard und das «Vaterland»-Verhältnis, das er in Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos beschreibt.
Noch ein Wort zu Pissen, der mit Schwulenfilm und Tuntenfilm zusammengehört, aber ganz anders ist.
Wenn ich nochmals mit Agamben spreche, dann zeigt sich hier auch – weniger drastisch und auch ein bisschen lustiger – wie das «nackte Leben» auf die Vergesellschaftung trifft, die hier nicht richtig zu funktionieren scheint: «kindliche Schamerlebnisse und schwule Initiation werden gegeneinander zugespitzt», schrieb Jörg Heiser. Pissen wurde unmittelbar im Zusammenhang mit den ersten beiden Filmen gedreht, sehr spontan. Hier beginnt die Erzählung, die sich in die Bilder einschreibt, sich gegen sie durchsetzen muss. Gemusterte, untertitelhafte Tafeln, ähnlich wie die Einzelframes im Tuntenfilm, trennen die Stationen der «Sauberkeitserziehung», wie man das in den 60er Jahren noch genannt hat, was laut Simone de Beauvoir maßgeblich die Geschlechtszugehörigkeit regelt.
Du spielst Dich selbst als Kleinkind. Ist das auch kathartisch gedacht?
Vielleicht ist dies auch eine Art von reenactment. Menschen, die zwanzig Jahre älter sind, spielen frühkindliche Situationen, Eltern-Kind-Situationen nach. Das hatte auch etwas Lustvolles; klar hat es auch Spaß gemacht, nochmals überall hinzugehen: in den Kindergarten, die Grundschule. Es hatte sich etwas gelöst, war nicht mehr angstbesetzt und dadurch zeigbar. Die Öffnung, sie muss vorher geschehen, nicht im Film, das ist wichtig. Ich habe mich immer auch um Explizitheit bemüh in den Filmen, angreifbare Explizitheit, aber unter Einhaltung der ‹ästhetischen Grenze›, der Kunst-Leben-Grenze.
Ist das Filmemachen für Dich therapeutisch?
Ich halte nichts von der «Kino als Couch der Armen»-Behauptung. Eine therapeutische Situation ist etwas ganz anderes: eine nicht-öffentliche, asymmetrische Situation, in der es darum geht, dass sich Vertrauen und Verlässlichkeit herstellt, was ein sehr heikler Prozess ist, der geschützt werden muss. Andererseits ist jedes Bildermachen, auch jedes Anschauen und sich Befassen mit Bildern oder Filmen immer auch Ersatzhandlung; aber eben nicht nur, es führt manchmal ja auch zu echten menschlichen Begegnungen.
Du kanntest Sarah Schumann? Sie starb 2019.
Ich habe sie nicht gut gekannt. Kennengelernt haben wir uns durch die Ausstellung «Was wir zeigen wollen» im Heidelberger Kunstverein, für die die Kurator*innen Susanne Weiß und Barbara Buchmaier malerische Positionen aus unterschiedlichen Generationen zusammengebracht haben. Ich wurde neben Sarah Schumann, Berthold Mathes und Etel Adnan eingeladen, außerdem waren noch die Arbeit von Michaela Melián und der Film von Harun Farocki zu Sarah Schumann zu sehen. Später haben wir Sarah Schumann und ihre Partnerin Silvia Bovenschen mal besucht und interviewt.
Wer war Ursula Bohn, die Du für den Film Am Israel Chai gefilmt hast?
Frau Bohn war eine promovierte Germanistin, Tochter eines Klaviatur-Fabrik-Prokuristen, die seit 1907 in der Neuköllner Friedelstraße lebte und die ich beim ambulanten Hauspflege-Job während des Studiums zufällig kennengelernt habe. Mit ihr war sofort ein sehr interessantes und kritisches Gespräch möglich, was Zeitgeschehen und vor allem auch Nationalsozialismus und die Shoah betraf, da sie die Deportation ihrer beiden jüdischen Freundinnen miterlebte und trotz Freikaufversuchen nicht hatte verhindern können. Die Ärztin Lucie Adelsberger, die ein wichtiges Auschwitz-Buch über ihre Deportation und die Arbeit im sogenannten ‹Zigeunerlager› dort geschrieben hat, das durch Frau Bohns Hilfe in der BRD auf Deutsch erscheinen konnte, und Henny Frankenschwerth, die im Lager ermordet wurde.
War es schwierig, sie zu diesem Film zu bewegen?
Nein. Sie wollte die Geschichte ihrer Freundinnen nicht verloren gehen lassen, sie war 88 und glaubte, nicht mehr viel Zeit und vielleicht auch nicht mehr genug Kraft zu haben zu einer Niederschrift. Wir vereinbarten, dass ich an vier Nachmittagen mit einer Kamera und Mikrofon vorbeikomme. Sie war sehr gut vorbereitet. Und ich hatte mir für jeden Tag eine Kameraposition überlegt. So entstand dieser einfache, elliptisch konstruierte Film, der nicht trickst im Schnitt. Und – vielleicht noch wichtiger – eine mehrjährige Freundschaft bis zu ihrem Tod 2001.
Eine Reihe von Filmen hast Du mit Anja-Christin Remmert gemeinsam gemacht, sie ist die Mutter eurer beiden Kinder.
Ja. Wir haben uns an der Filmakademie in Ludwigsburg kennengelernt, da war schnell Verständnis da, beim Filmemachen und in persönlichen Dingen. Kunst kann eine einsame Angelegenheit sein. Und wenn die Arbeit eine sehr ernsthafte Intensität annimmt, ist das schon lebensbestimmend. Es gibt verschiedene langfristige Zusammenarbeitsbeziehungen: mit Klaus Barm, der die Musik für einige Filme komponiert und fast durchgängig den Ton aufgenommen, bearbeitet und manchmal gemischt hat, und mit der Kamerafrau Bernadette Paassen, die ebenfalls in Ludwigsburg studierte.
Der Film Dreizehn Regeln oder die Schwierigkeit sich auszudrücken ist ein Ort des Übergangs?
Vielleicht merkt man ihm den Wunsch an, der sich dann ja mit der Aquarell-Serie für Malerei heute realisierte, wieder ans malerische Arbeiten anzuschließen. Auch hier treffen zwei unterschiedliche Texte aufeinander, die gewissermaßen Motor und Gerüst auch für die unterschiedlichen Inszenierungsformen und Bilder des Films sind. Dokumentarisch mit Handkamera gefilmt wird eine von verschiedenen Sprecher*innen vorgetragene Polemik des amerikanischen Malers Ad Reinhardt in Reaktion auf den tonangebenden Abstrakten Expressionismus und die aufkommende Pop Art. Der andere Text besteht aus stark gekürzten Auszügen aus dem Theaterstück des argentinischen, in Paris lebenden Autors Copi, das den Titel trägt: L’homosexualité ou la difficulté de s’exprimer (Der Homosexuelle oder Die Schwierigkeit sich auszudrücken). Inhaltlich geht dieser Teil des Films auf die Identitätszuschreibungsproblematik der frühen Filme zurück und den in diesem Zusammenhang von Michel Foucault thematisierten «Geständniszwang». Copis Texte sind drastisch, ausschweifend und oft auf brutale Weise vulgär. Ich hatte 1993 schon ein Drehbuch nach dem Stück geschrieben, von dem ich heute sagen würde: Ganz ok, dass es so nicht realisiert wurde.
Du kamst damals mit Straub/Huillet in Kontakt.
Bis zur Realisierung 1998 fand die Begegnung mit Jean-Marie Straub und Danièle Huillet am Gießener theaterwissenschaftlichen Institut statt, bei einem sechswöchigen Regie-Seminar, in dem Straub und Huillet mit Studierenden Fragmente aus ihren Filmtexten auf der Bühne inszenierten, begleitet von einer Retrospektive im Frankfurter Filmmuseum. Ich bin hingefahren, durfte als Gasthörer mitmachen. Die Begegnung mit den Straubs, jenseits der bis heute nachwirkenden künstlerischen und vor allem auch persönlich-menschlichen Dimension, hat mir sehr geholfen, eine Form zu finden, die zugespitzten Situationen in Copis Phantasie-Sibirien, in dem sich alle Personen in ihrer sexuellen und Geschlechter-identität ambivalent undurchschaubar verhalten, und missbräuchlich-inzestuöse Verhältnisse die Regel sind, nicht bildnerisch zu affirmieren, sondern durch eine von Von heute auf morgen und anderen Straub-Huillet- Filmen abgeschaute Raumlogik, innerhalb derer die Darsteller*innen auch in ihren Doppel- und Dreifachrollen ‹logisch› aufeinandertreffen und miteinander sprechen konnten, sichtbar und emotional nachvollziehbar zu machen.
Könnte man sagen, dass Du zum Malen zurückgekehrt bist?
Malerei und Film existieren inzwischen nebeneinander als zwei eigenständige Arbeitsfelder, so ähnlich wie bei anderen Künstler*innen das Zeichnen oder die Bildhauerei die Malerei phasenweise ablöst und umgekehrt. Die Pflegeheimzeichnungen, die 1997 in Ein Film über den Arbeiter reproduziert wurden und dann die beschriebene inhaltlich-bildnerische Auseinandersetzung im zeitgleich veröffentlichten Film Dreizehn Regeln oder die Schwierigkeit sich auszudrücken waren der Startpunkt, die Malerei persönlich zurück zu gewinnen und neu zu beleben – einerseits entgegen dokumentarisch-fotografischer Wahrheitsbehauptungen im Filmfeld, andererseits auch entgegen konzeptuell selbstbezüglicher Syllogismen im Malerei-Betrieb. Zuerst malte ich, wie erwähnt, die Sur-le-motif-Pleinairaquarelle, dann die im Atelier in einem ähnlich langen Zeitraum erarbeiteten, aus der Erinnerung geschöpften Ölbilder und Zeichnungscollagen, die im Film STRAUB reproduziert wurden. Da ich für mich den Anspruch formuliere, dass die in einem Film reproduzierte Malerei auch ‹autonom›, also an der Museumswand neben anderen Gemälden existieren muss, entstanden auch Bilder speziell für Ausstellungssituationen.
Wenn ich richtig sehe, gibt es in Deinem Werk immer wieder Langzeitprojekte, dazwischen kleinere, eher für sich stehende Arbeiten wie den Dokumentarfilm Als Landwirt.
Mit dem ‹groß› und ‹klein› ist es ja so eine Sache. Ich würde den Film nicht ‹kleiner› einschätzen als den zeitlich, finanziell und in verschiedener anderer Hinsicht aufwendiger produzierten Vorgängerfilm Malerei heute. Inhaltlich ist dieser Anschluss richtig. Es war wichtig, dass da zufällig – ähnlich wie Jahre vorher bei Frau Bohn – eine sehr intensive persönliche Begegnung mit dem Landwirt Klaus Geißendörfer stattfand, die so stark war, dass die filmisch-bildnerischen Vorgehensweisen neu ausgerichtet werden mussten und auch konnten. Klar schloss der Film auch an die Arbeitsthematik an. Und klar auch, dass ich ihn machen wollte auch als Gegenentwurf zu den damals produzierten, eher dystopisch und in gewissem Sinn aus der Vogelperspektive schauenden und argumentierenden Ernährungs- und (Anti)Globalisierungsfilmen unter anderem von Nikolaus Geyrhalter und Hubert Sauper.
Arbeitest Du an etwas Neuem?
Ich hätte nichts dagegen, längerfristig einen etwas ‹größeren›, episch-erzählerischen Film zu machen. Und dann ist seit 2012 eine neue Malerei- und Zeichnungsserie im Alltag entstanden, zu der ich sagen würde, dass der offene malerische Prozess und das entstandene ‹malerische Material› langsam an einem Punkt ist, es in einer neuen Weise erzählerisch zu kontextualisieren, in einem dritten Malerei-Kino-Film, und auch umgekehrt, dass eine Geschichte da ist, zu der die Bilder ‹zurückgebracht› werden können.
Geht es da auch um das Heranwachsen der Kinder, die man im Film STRAUB ja sieht?
Ja, es hat etwas mit Familienkonstellationen zu tun, und damit, wie etwas von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Das Gespräch führte Bert Rebhandl