Verschränkt in Zeit und Ort Eine unendliche Verschlusssache: Über Zustand und Gelände von Ute Adamczewski
Eine unbewegte Einstellung auf einen leeren Platz vor einer geschlossenen Gartenwirtschaft, in der Mitte ein großer Baum, der Blick geht weit über den hochgelegenen Platz hinaus. Aus dem Off verliest eine Frauenstimme das Schriftstück von 1933, mit dem die Schließung der Gastwirtschaft verfügt wird, weil sich dort regimekritische Umtriebe ereignet hätten. Die Kamera schwenkt über den Platz, die Stimme verliest nun einen Antrag der Mitglieder der «Kantine Rosenheim» auf Rücknahme der Schließung, da die nunmehr der NSDAP zugehörigen Mitglieder sich der marxistischen Personen entledigt hätten. Die Kamera nimmt nun Schüler ins Bild, die Inschriften lesen.
In dieser ersten Sequenz ist bereits das formale Prinzip von Ute Adamczewskis Zustand und Gelände angelegt: Einstellungen von Orten werden mit Lesungen historischer Dokumente wie Anordnungen, Briefe, Tagebücher und Memoiren historisch semantisiert. Die Off-Stimme verschränkt die Bilder der Gegenwart mit ihrer NS-Geschichte. Es sind Orte in Sachsen, die seit 1933 von den Nazis als Lager umfunktioniert oder konstruiert worden waren. Jene Lager, mit deren Einrichtung die Herrschaft der Nationalsozialisten in hohem Tempo sich der politischen Opposition entledigte. In der ersten Welle von lokalen und regionalen Lagereinrichtungen wurden vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten gefangen gehalten, gefoltert und oft auch getötet. Mit der rasant durchgeführten politischen, sozialen und physischen Ausschaltung der Opposition sicherten sich die Nazis unter lebhafter Beteiligung ihrer Sturmtruppen von SA und SS die vollständige Übernahme der Macht. Insofern spielten diese früh eingerichteten Lager eine zentrale Rolle für die komplette Machtübernahme. In der damaligen Industrieregion Sachsen waren Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftler gut organisiert, sie hatten Vereinslokale, Sportstätten und Verbandshäuser, die nun in sogenannte «Schutzhaftlager» umfunktioniert wurden, mit denen der NS-Staat sich vor seinen politischen Feinden ‹schützen› wollte.
Die kommentarlosen Zitate bleiben hängen, die Einstellungen lenken keineswegs ab. In einem innerstädtischen KZ stören die nächtlichen Schreie der von den besoffenen Sturmtruppen Gefolterten die Nachtruhe. Bewohner des Marktplatzes protestieren und verlangen die Verlegung des KZs. Der örtliche NSDAP-Frauenverband schafft Abhilfe durch die Anfertigung eines großen Daunenkissens, das man den Gefolterten zur Schalldämpfung aufs Gesicht drücken soll. Deprimierende Dokumente dieser Art belegen die eifrige Komplizenschaft weiter Teile der ortsansässigen Bevölkerung, aber auch die Ausweglosigkeit, gegen eine Gewaltherrschaft zu agieren, wenn diese systematischen Terror verbreitet – und zwar gerade vor aller Augen.
Aber die Reichweite des Films zielt weiter als auf die historische Relokalisierung des Beginns der Nazi-Herrschaft in Städten, Städtchen und Dörfern. Die historische Zeit umfasst die Zustände vor der NS-Zeit, über den NS und die DDR bis schließlich in die Gegenwart brutaler Überfälle von Skinheads und Neonazis. Die Geschichte der Mahnmale, Zeitzeugenaussagen, literarischen Texte, Kamerafahrten und stillen Einstellungen verdichten Gelände und historische Zustände zu einem Zeitbild, das die historische Linearität zu einem in sich quasi aufgequollenen Zustand verdickt. Diese innere Bildschichtung entsteht häufig, indem durch belegte Fensterscheiben gefilmt wird, die durch den Staub der Vergangenheit die Gegenwart in die Ferne der Bildtiefe entrücken: Durch eine Fensterscheibe hindurch, auf der sich die Straße und die gegenüberliegenden Häuser spiegeln, wird über einen engen Hausflur hinweg der Blick in die offene Tür einer Turnhalle gelenkt, an der sich eine Gruppe Jugendlicher mal vor- und mal rückwärts bewegt. In dieser inneren Montage des Bildes entsteht eine visuelle Metapher: einer Zeit, die sich nicht mehr nach vorne in eine Zukunft öffnen kann, sondern die eingesponnen und verwoben scheint in eine zerdehnte Vergangenheit. Es ist die Stärke dieses Films, dass er statt eines zeithistorischen und politischen Kommentars sich ganz auf die Erzeugung solcher visueller Metaphern verlässt, die quasi kontrapunktisch die Situationsbeschreibungen vor Ort im Gelände verdichten. Dabei gelingen nicht alle Metaphern so vielschichtig wie die oben beschriebene. Eine andere ergibt sich wie zufällig – und bleibt eher banal – aus einer Sequenz, die einen Weihnachtsmarkt zeigt, auf dem ein klassisch kostümierter Weihnachtsmann ein Kind auf die Bühne bringt, von der Mutter am Rande etwas ängstlich beobachtet. Am Ende bleibt die Kamera auf den Stiefeln haften, die sofort überschrieben werden mit der militärischen, gewaltbetonten Funktion, die das Schuhwerk in der Ikonografie von Gewaltherrschaft zugewiesen bekommen hat. An diesen beiden Polen der Skala des Gelingens politischer Bildmetaphern im Essayfilm lässt sich vielleicht Brisanz und Grenze des ästhetischen Verfahrens Adamczewskis diskutieren. Es liegt in einer medialen Inversion: Während die Sprache überwiegend auf ihre Aussagefunktion hin eingesetzt wird, was durch die betont neutrale Stimmgebung der Sprecherin betont wird, bekommt die bildliche Semantisierung das gesamte Potential einer vielschichtigen Bedeutungserzeugung zugemutet, die in der kommentierenden Metaphorik von Geschichtsbildern eingelagert wird.
Im Gesamteindruck verdichtet sich ZustandundGelände zu einem Portrait einer Situation im doppelten Wortsinn von örtlicher und zeitlicher Qualität. Eine Situation, in der alle Handlungen bereits verleimt sind in einer Geschichte, die nicht mehr auflösbar erscheint, in der physische Gewalt Einzelner und staatliche, terroristische Gewalt dermaßen verschränkt sind, dass sie nicht mehr voneinander lösbar scheinen. In der Tat ist dieser Eindruck nicht nur das Ergebnis der visuellen Thesen eines Essayfilms, sondern behält noch die Wucht des Realen aus dem Dokumentarfilm. Die Nahtstellen, die hier zwischen Sprache und Bild verlaufen, erweisen sich als subtile Verweise auf eine Ohnmachtserfahrung. Die Geschichte Sachsens erscheint als eine Kippfigur, in der politisches Handeln zwischen niedergeschlagenem Widerstand und staatlich sanktioniertem oder zumindest verschwiegenem Terror als eine unendliche Verschlusssache erscheint, die in den vertrackten Spiegelungen leerer Scheiben sich verfangen hat. So luzide der Film die Auslöschung der Opposition in den Schutzhaftlagern der frühen NS-Jahre zeigt, so opak mutet er an, wenn es um die Folgeerscheinungen wie die Neonazis und Rechtsextremen in Sachsen geht. In den meist eher menschenleeren Einstellungen nistet sich die NS-Geschichte ein, und wenn schließlich Menschen auf öffentlichen Plätzen der Gegenwart gezeigt werden, dann bleiben sie sprachlos, aus der Ferne beobachtet.
Ein Film, der zum Denken veranlasst, nicht nur über die dargestellten Zustände, sondern auch über die Poetiken des Essay- und Dokumentarfilms, über die stille Aufladung der Bilder zu komplexen Metapherngefügen und die Entladung der menschlichen Stimme zum Berichterstatter. Was bringt ein Film im Zuschauer zur Sprache, wen lässt er sprechen, zu wem, warum?