Hinter den Dingen
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Fahre mit der Bahn, wegen des Virus bin ich im Zug fast alleine. Ein luxuriöses und sanftes Gefährt schießt mich mit fast 200 Stundenkilometern durch Mitteldeutschland. Draußen ist Winter, deutsche Wirklichkeit, wegen Lockdowns ohne Menschen, fast wie in Ulrich Köhlers In my Room. Ich habe einen Job angenommen, der mir ein Alibi für die Reise verschafft. Weil ich noch viel zu euphorisch bin, endlich wieder unterwegs zu sein, verschiebe ich das Lesen auf später und ich schaue aus dem Fenster. Irgendetwas Interessantes in einiger Entfernung holt mich aus dem Impressionismus raus, ich knipse es – aber bis ich das iPhone in der Hand habe und auslöse, ist es schon längst vorbei. Klar, wie soll das auch gehen, aber ich schaue nach. Die Kamera ist ja gleichzeitig das Display, der Projektionsraum. Auf die Leinwand hat irgendeine «automatique» etwas geschrieben, das mir jetzt viel aufregender und geheimnisvoller erscheint als das, was ich ja schon gesehen hatte, als ich den Entschluss fasste, es zu fotografieren. Ich kann spekulieren, aber nicht kontrollieren, was ich da aufzeichne, eine Art dokumentarisches Roulette. Plötzlich blicke ich hinter die Dinge, so kommt es mir vor. Das geht fast nur mit diesem Ding, dem Smartphone. Und es geht auf eine andere Weise, als es mit der klassischen Kamera geht, ich sehe und interpretiere die Welt anders, schneller, dichter, bin diskursiver mit mir selbst. Die meisten Bilder, die ich mit dem iPhone mache, hätte ich mit meiner Lumix GH4 oder gar der analogen Canon A1 nicht gemacht. Aber nicht, weil diese Apparate schwerfälliger sind, ich sie nicht immer dabeihabe oder das Filmmaterial kostbarer ist, sondern weil ich hier viel leichtsinniger und intuitiver bin. Ich gestalte und spekuliere zwar auch in gewissem Sinne, aber weniger, dafür ist der Apparat ohne Sucher nicht gemacht, man kann ihn ja eigentlich nicht ernst nehmen. Ich tippe ein wenig, und dadurch gerät etwas ins Bild, das mich mehr interessiert als die Anwendung dessen, was ich etwa über Bildgestaltung gelernt und eintrainiert habe. Auf das, was sich dort abbildet, schaue ich dann vielleicht auf eine Weise, die jener ähnelt, in der David Hemmings in Antonionis Blow-Up Fotos betrachtet, die er in einem Londoner Park von einem Liebespaar gemacht hat und die er dann vergrößert, weil er gaubt, im Hintergrund Spuren eines Verbrechens zu entdecken. Oder wie der Mensch, der auf den Google Street View Aufnahmen der Rue de Temple in Rolle plötzlich Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville entdeckt, wie sie sich auf dem Weg nach Hause befinden. (Von Robert Luxemburg ist ein schöner Clip auf Youtube zu finden, in dem er das wieder fiktionalisiert.) Bei mir ist es nur eine Straßenüberführung, bei der ich die Dächer zweier Autos entdecke oder einen Lastwagen, die in diesem Moment da entlangfuhren. Oder ein Blick in die Rückseiten der Reihenhäuser eines Vorortes. Ein Realitätsflash, aber dann das Morgenlicht, das die Industrielandschaft bei Bitterfeld im Sfumato der Bewegungsunschärfe mit einer überraschenden Zartheit berührt. Ein Bild mit Betonmischern, die gerade beladen werden, erinnert mich an die Bruegelsche Winterlandschaft mit den heimkehrenden Jägern aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien. Und ich denke plötzlich: Einer der Jäger bin ich.
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