modernes ereignis

coin toss

Der amerikanische ehemalige Soldat James Martin aus Pittsburgh war eine von drei Personen, die im Februar als Ehren-Kapitäne für den Münzwurf zu Beginn des Endspiels der National Football League ausgewählt wurden. Das als Super Bowl geläufige Finale ist eines der größten Sportereignisse der Welt. Mit dem «coin toss» wird darüber entschieden, welches Team sich aussuchen kann, ob es mit Offense oder Defense beginnen möchte, ein Vorgang, der vom Fußball bis zum Schach in Abwandlungen geläufig ist. Die Auswirkungen des Münzwurfs auf das Spiel sind gering, gleichwohl wird auch dieser Moment mit allen erdenklichen statistischen Erwägungen aufgeladen. Zu Ehren der drei Kapitäne sprach die junge afroamerikanische Dichterin Amanda Gorman, die davor schon bei der Inauguration von Joe Biden als 46. Präsident der USA aufgetreten war. Sie kam zu dieser Rolle durch ein Casting: In allen Fällen ging es darum, das Volk, das Publikum, die Gesellschaft in einem bestimmten öffentlichen Moment durch sorgfältig (also auch im Fall der «honorary captains» keineswegs zufällig) ausgewählte Personen vertreten zu sehen. Wenige Wochen später schrieb in den Niederlanden die Journalistin und Aktivistin Janice Deul einen Artikel, in dem sie die Wahl der Übersetzerin*des Übersetzers von Amanda Gormans Gedichten in ihre Landes- und Muttersprache hinterfragte: Marieke Lucas Rijneveld ist «weiß, non-binär, hat keine Erfahrung auf dem Gebiet». Der Verlag hatte sich etwas überlegt (eine junge Dichterin von einer jungen Dichterin übersetzen zu lassen), dabei aber nicht weit genug gedacht. In Deutschland wird Amanda Gorman unter anderem von Kübra Gümüsay übersetzt, zu deren identitätspolitischen Merkmalen zählen: Deutschtürkin, Muslimin, Kopftuchträgerin, Feministin (die Aufzählung ist klarerweise unvollständig). Der Fall der Übersetzung der Texte von Amanda Gorman aus der weltweiten Verkehrssprache Englisch in andere Sprachen ist von höchstem Interesse, weil er zwei Aspekte der gegenwärtigen politischen Diskussionen zusammenbringt. Anliegen werden in zunehmend stärkerer Differenzierung standpunkttheoretisch vorgetragen, die Dynamiken der sozialen Netzwerke verstärken einen Effekt, der traditionelle Logiken repräsentativer Politik verkompliziert: Volksparteien, Koalitionsbildungen, Massenmobilisierungen, Interessensverknüpfungen, Solidaritätsallianzen. Ironischerweise verdankt Amanda Gorman, die nun von Janice Deul und anderen als Inbegriff eines streng partikularen Identitäts- und Politikkonzepts genommen wird, ihre Bekanntheit einem Ereignis, das vor diesem Hintergrund wie ein Relikt einer älteren politischen Ordnung wirken muss: dem Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl, in der 150 Millionen Menschen eine Wahl (keinen «coin toss», statistisch aber nicht allzu weit davon entfernt) zwischen zwei Männern mit äußerst allgemeinem Programm treffen. Die Ehren-Kapitänin von Team Biden sprach bei der Super Bowl übrigens für und über zwei Männer und eine Frau, um nur einen Aspekt des Castings der «honorary captains» hervorzuheben.