Twister
Immer noch Lockdown in Deutschland, die Kinos sind zu. Auch die Überlegung, uns für 500 Euro einen Beamer zu kaufen, hat bislang zu keinem Ergebnis geführt. Irgendwas am «Heimkino» lässt mich zu sehr an selbstgebaute Heimtrainer denken. Ein gutes Rennrad auseinandergeschraubt und im Hobbykeller aufgebockt – und niemand verschwendet auch nur einen Gedanken daran, wie sich ein derart malträtiertes Fahrrad wohl fühlt.
Also gucken D. und ich, wie unzählige andere hängengebliebene Langzeitstudenten a. k. a. Vertreter der globalen Geisteselite die neue Doku von Adam Curtis auf BBC. Curtis geht tief in den Backstagebereich unserer Gegenwart. Dazu kombiniert er großartige Archivaufnahmen mit extrem guter Musik: Anders als das malträtierte Rennrad wollte das Genre Dokumentarfilm nämlich immer schon einmal wissen, wie es sich anfühlt, in ein Musikvideo verwandelt zu werden. Und wie bei einem Musikvideo tanzt meist eine einzige Gestalt durch das Scheinwerferlicht, die als alleiniger, bislang unentdeckter Auslöser welterschütternder Entwicklungen herhalten muss. Anstatt Ursachenforschung im herkömmlichen Sinne zu betreiben, breitet Curtis über das historische Geschehen jene übelriechende Plastikplane aus, die ihr vielleicht noch von Kindergeburtstagen kennt: Twister. Auf der sind bunte Felder aufgedruckt und eine Drehscheibe sagt euch, wo genau ihr eure Hände und Füße platzieren müsst. Das Spiel endet, sobald ein Spieler umfällt, aber bis dahin hat man sich mit drei anderen aufgekratzten Präpubertierenden in ein unübersichtliches Knäuel verwandelt, bei dem alles mit allem in Berührung steht.
Die Themen und Großbefunde wuchern wie immer bei Curtis: die Einsamkeit der Menschen im Spätkapitalismus, die Massenüberwachung, der Klimawandel, machtbesessene Psychologen, multinationale Unternehmen, der Goldstandard, die Rasterfahndung, das Erdöl – nichts bleibt unerwähnt. So kommt ein ideengeschichtlicher Gruselporno dabei heraus, der die Nähe zu Verschwörungstheorien nicht etwa scheut, sondern sucht. Und sich auch auf deren Metaebene gemütlich einrichtet.
Curtis’ Vorgängerprojekt HyperNormalisation eroberte sich 2016 in Windeseile Kultstatus. Can’t Get You Out of My Head ist vor allem anstrengend. Oder kommt es mir nur viel anstrengender vor? Man bekommt da etwas geliefert, was man im Lockdown vielleicht noch mehr vermisst (und fürchtet) als sonst: den Einblick in ein anders strukturiertes Gehirn. So anders strukturiert, dass das eigene Gehirn gleich zu einem andern laufen will, um sich über das eben Gesehene auszutauschen. Was hältst du davon, weißt du da mehr drüber? Keine vier Deadlines würden mich dazu bringen, Adam Curtis allein zu schauen.
Vielleicht muss man es nur Cowatching-Space nennen und Kino ist wieder cool. Die unterbeschäftigten Freiberufler würden sich verabreden, einen Saal mieten und sich gemeinsam – auf großer Leinwand, mit geilem Sound und Popcorn – ihre Dosis Adam-Curtis-Armageddon verabreichen. Und dann und wann drückt jemand die Stopptaste und fragt in die Runde, ob das jetzt irgendwer «geballert» hat. Der Einzug des Egoshooters in die Erkenntnistheorie – haben wir nicht alle heimlich darauf gewartet?