filmwissenschaft

Streifenhörnchen & Störsignal

Von Lukas Foerster

Für mich war das Schlüsselerlebnis The Chewin’ Bruin (1940). In Robert Clampetts «Looney Tunes»-Kurztrickfilm schwadroniert ein alter Jagdhund, auf Drängen Porky Pigs, über seine Jugend. Todesmutig hatte er sich, das behauptet zumindest die Rückblende, aus der der Film hauptsächlich besteht, jenem Bären in den Weg gestellt, dessen ausgestopfter Kopf nun seine Wohnstube ziert. Noch bevor es zum Showdown mit dem Ungetüm kommt, stößt der Hund allerdings auf eine Gruppe von Streifenhörnchen. Sieben niedliche Tierchen, die sich auf einer schneebedeckten Wiese vergnügen. Der Hund beobachtet sie, eine simulierte Kamerafahrt nähert sich den Geschöpfen – und plötzlich scheint eines der sieben kurz aufzublinken.

Warum blinkt das Streifenhörnchen? Weil es für einen Moment aufhört, zu existieren. Für zwei Momente, genauer gesagt: auf zwei konsekutiven Frames sind auf der Wiese nur noch sechs Tiere zu sehen. Das siebte Streifenhörnchen, das kleinste von allen, wird nicht positiv, sondern negativ markiert, wobei der Film weder vorher noch hinterher eine Erklärung für die temporäre Abwesenheit liefert. Das Blinken des Streifenhörnchens hat keinen narrativen Grund und es hinterlässt in der Welt des Films keine Spuren. Ein Moment reiner Kontingenz, der freilich unweigerlich die – in einem tongue-in-cheek-Cartoon freilich ohnehin nur relative – diegetische Schließung der filmischen Fiktion suspendiert und auf die technisch-künstlerische Gemachtheit von The Chewin’ Bruin verweist. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zwar, aber im Kino genügt manchmal die geringste Irritation, um die Welt aus den Angeln zu heben.

Um das Rätsel des blinkenden Streifenhörnchens zu lösen, musste ich genau das tun, was Hannah Franks Studie Frame by Frame. A Materialist Aesthetics of Animated Cartoons bereits in ihrem Titel fordert: den Bilderfluss anhalten und den Film als das betrachten, was er auf technologischer Ebene von Anfang an ist – als eine Reihung distinkter Einzelkader. Diese klassisch antiillusionistische Analysegeste ist für Frank freilich nur der erste Schritt – und nicht einmal der entscheidende. Der zentrale Coup von Frame by Frame besteht vielmehr darin, dass im Verlauf des Buches nicht nur Filme in ihre Einzelbilder aufgelöst, sondern außerdem jedes einzelne Einzelbild seinerseits als eine Schichtung distinkter Bilder und auch Arbeitsprozesse beschrieben werden.

Ich muss gestehen, dass ich mir die Trickfilmabteilungen der Hollywoodstudios bislang gerne als Orte der relativen Freiheit vorgestellt habe; als einigermaßen geschützte Nischen innerhalb der Unterhaltungsindustrie, in der eine Handvoll Nerds, den Zwängen des Star- und Genresystems und auch der Millionenbudgets einigermaßen enthoben, ihrem Spieltrieb und gelegentlich auch ihren anarchischen und sexuellen Fantasien freien Lauf lassen dürfen. Mir war zwar klar, dass die Cartoons der Warner Brothers und ihrer Konkurrenten in standardisierten, arbeitsteiligen Verfahren hergestellt wurden, aber erst Franks Buch hat mir klargemacht, dass meine romantisierende Perspektive (von der ich, wenn ich einen Clampett- oder Tex-Avery-Film anschaue, gleichwohl trotzdem nicht ganz loskomme) die industriehistorische Realität nicht einfach nur verfälscht, sondern komplett auf den Kopf stellt.

Denn mit Blick auf die Mehrzahl seiner Produkte ist die Rede von Hollywood als einer «Traumfabrik» ja höchstens metaphorisch schlüssig. Die Produktionswirklichkeit in den Studios lässt sich, dem immensen Kapitalbedarf zum Trotz, eher mit mittelständischen Handwerksbetrieben vergleichen. Nicht starre, exakt reglementierte und wiederholbare Verfahren, sondern vergleichsweise flexible Heuristiken, Erfahrungswerte und interpersonelle Dynamiken sind im Realfilm die «materielle», produktionstechnische Basis des filmischen Bildes. In der goldenen Ära des Zeichentrickkurzfilms nähert sich die Filmproduktion hingegen tatsächlich der fordistisch organisierten Fließbandarbeit an.

Frank stellt den Blick auf klassische Cartoons neu ein, indem sie ihn entlang der vier entscheidenden Arbeitsschritte des – in seiner Reinform von den 1920er bis in die 1950er Jahre dominanten – cel-animation-Verfahren organisiert. Die Cartoon-Bilder, die auf der Leinwand erscheinen, werden zunächst im Animation Department auf Papier skizziert, anschließend im Ink Department auf eine Reihe transparenter Cellulosenitrat- (später Celluloseacetat-)Folien übertragen, dann im Painting Department eingefärbt und schließlich vom Camera Department abfotografiert. Gleichzeitig, und erst das rechtfertigt den Vergleich mit moderner Industriearbeit, handelt es sich um einen Prozess der analytischen Zergliederung mitsamt anschließender Resynthetisierung. In den Animation-, Ink- und Painting-Departments werden nicht die kompletten Bildkader bearbeitet, die später auf der Leinwand erscheinen, sondern lediglich einzelne Bildelemente – der zumeist starre Bildhintergrund einerseits, die diversen beweglichen Vordergrundelemente andererseits. Erst im Camera Department werden die Bilder wieder zusammengesetzt, indem mehrere Schichten Cellulosenitrat übereinander gelegt und von oben abfotografiert werden.

Bemerkenswert ist an dieser Anordnung – wiederum: insbesondere im Abgleich mit den Langfilmen, die teils in denselben Studios produzierten werden – die scheinbar glasklare Trennung von Kreativ- und Nichtkreativarbeit. Im Realfilm hat ein großer Personenkreis vor und hinter der Kamera unmittelbar Einfluss auf die künstlerische Gestaltung, insbesondere auch die diversen Below-the-Line-Gewerke; selbst noch Beleuchtungsassistent_innen sind nicht einfach nur ausführende Organe, insofern sie ständig Entscheidungen zu treffen haben, die sichtbare Spuren im filmischen Bild hinterlassen. Im Trickfilm hingegen ist (zumindest wenn man, was auch Franks Buch tut, von der Tonspur absieht) alle Kreativität im Animation Department konzentriert, und selbst innerhalb desselben gibt es eine glasklare Hackordnung: Lediglich die entscheidenden, expressiven Aspekte eines Bewegungsablaufs werden vom Head Animator gezeichnet, alles andere erledigen die sogenannten In-Betweeners, bevor die Clean-up-Artists überschüssige Linien, Hilfszeichnungen, Kommentare und so weiter entfernen. In den Ink- und Painting-Departments, in denen fast ausschließlich ungelernte, schlecht bezahlte Frauen angestellt sind, soll idealerweise bloße Kopier- beziehungsweise Ausfüllarbeit geleistet werden, und auch das Camera Department darf seinem Beitrag keinerlei künstlerisches Eigengewicht beimessen.

Frank zeigt in ihrer Studie eindrücklich, was alles sichtbar wird, wenn man genau das trotzdem tut, wenn man die Bilder also darauf befragt, was diejenigen mit ihnen anstellen, die nicht konzeptuell, sehr wohl aber materiell an ihrer Produktion beteiligt sind. Entstanden ist der Entwurf einer Ästhetik des Fehlers und des Störsignals. Denn während das, was an den Filmen im konventionellen Sinne gelingt – die überraschende visuelle Pointe, die filigrane Rasanz, die rauschhaften Farbexplosionen – bis zu einem gewissen Grad tatsächlich der Imaginationskraft des Head Animators beziehungsweise Regisseurs entspringt, verweist zumindest ein Teil dessen, was diesem Funktionieren, stets nur punktuell, dazwischen kommt, auf die dieser Imaginationskraft nachgeschaltete Assembly Line. Das kann eine verwischte Linie sein, ein ungenauer Farbauftrag, oder etwa auch der Überrest des Entwurfs einer ganz anderen Zeichnung. Wenn der Animationsfilm seiner inneren Logik zufolge Welt und Wahrnehmung verformt, dann interessiert sich Frank für die produktionstechnische Verformung dieser Verformung.

Aus akribischen Sichtungen Hunderter klassischer Cartoons hat Frank für ihr Buch Dutzende Beispiele diverser Fehlleistungen zusammengetragen. Ihr politischer Einsatz zielt dabei weniger darauf ab, den Geniekult zu untergraben und die unsichtbaren Zeichner_innen und Kamerahandwerker_innen als «eigentliche Schöpfer» der Cartoons zu idealisieren, als darauf, Arbeit sichtbar zu machen, bis hin zu Verweisen auf Arbeitskämpfe in der Branche, insbesondere einen Streik von Disney-Mitarbeiter_innen im Jahr 1941. Dass dieser Konflikt in den Filmen keine direkten, eindeutig lesbaren Spuren hinterlassen hat, ist gerade der Punkt. Die Artefakte, die Frank in den Filmen findet, verweisen auf etwas und auf jemanden; doch auf was und auf wen genau, das lässt sich in den allermeisten Fällen nicht bestimmen.

Bei einigen der offensichtlichen Fehler kann man immerhin einigermaßen valide Spekulationen darüber anstellen, wie sie entstanden sein könnten. Wechselt das Kleidungsstück einer Trickfilmfigur von einem Moment auf den anderen die Farbe, so ist vermutlich eine Unachtsamkeit im Painting Department die Ursache. Eine grundlos «wackelige» Konturlinie derselben Figur verweist hingegen wahrscheinlich auf ein Problem im Ink Department. Das fehlende Streifenhörnchen aus The Chewin’ Bruin wiederum ist möglicherweise im Camera Department unter den Tisch gefallen, unter Umständen wortwörtlich, während die Celluloseschichten unter der Kamera zurechtgelegt wurden (und es fehlt nicht nur auf einem, sondern auf zwei Bildkadern, weil die meisten klassischen Cartoons – eine weitere Rationalisierungsmaßnahme – nicht mit 24, sondern mit 12–16 distinkten Bildern pro Sekunde animiert wurden). Aber welche Painterin, welche Ink-Angestellte, welcher Camera Operator für das jeweilige hypothetische Missgeschick verantwortlich war, lässt sich heute beim besten Willen nicht mehr eruieren. Letzten Endes praktiziert Frame by Frame eine Lektüre des Unlesbaren.

Die zentralen konzeptuellen Stichwortgeber für dieses Projekt sind Walter Benjamins Passagenwerk (das Bild als Archiv seiner Entstehungsgeschichte) und die filmtheoretischen Schriften Sergej Eisensteins (Montage als ein multidimensionales Gestaltungsprinzip, das die Linearität des Filmstreifens überschreitet). Mindestens ebenso ergiebig sind die Bezüge zu den Realismuskonzepten der klassischen Filmtheorie. Der Animationsfilm, der die Rede vom Kino als Fenster zur Welt ad absurdum zu führen scheint, wird selbst zu einem Stück Welt, sobald man ihn nicht als Simulation einer anderen Welt betrachtet, sondern als eine nur zufällig in Serie geschaltete Ansammlung von Dokumenten.

Besonders deutlich wird das in Franks Kapitel über das Camera Department. Wie oben beschrieben, hat die Kamera im Trickfilm noch einmal deutlich unsichtbarer zu sein als in allen anderen Bereichen des Hollywood-Filmschaffens. Eben deshalb gelingt Frame by Frame an dieser Stelle eine entscheidende Blickverschiebung: Was auf dem Filmstreifen und in der Folge auf der Leinwand erscheint, ist eben nicht eine Zeichnung, sondern, genau wie im Realfilm, ein fotografisches Bild. Das, wie jedes andere, auf den exakten Moment seiner Aufnahme und einen konkreten physischen Raum verweist. Streng genommen gibt es, dank der Celluloseschichtungen, in der flächigen Welt der klassischen Trickfilme sogar eine Tiefendimension. Die Hintergründe zum Beispiel befinden sich im profilmischen Raum tatsächlich hinter den übrigen Bildelementen. Wenn man nicht mehr das initiale isolierte künsterische Subjekt am Zeichentisch, sondern die finale Dokumentationsfunktion der Filmkamera als Urszene des Animationsfilms nimmt, geraten automatisch auch eine ganze Reihe anderer Weltverhältnisse in den Blick.

Frank hatte Frame by Frame 2016 an der University of Chicago als ihre PhD Thesis unter dem Titel «Looking at Cartoons: The Art, Labor, and Technology of American Cel Animation» eingereicht und verteidigt. Ein Jahr später starb sie überraschend im Alter von nur 33 Jahren an einer Hirnhautentzündung. Auch die geplanten Überarbeitungen ihres Manuskripts konnte sie nicht mehr durchführen. Daniel Morgans ausführliches Vorwort legt nahe, dass sie ziemlich umfangreich ausgefallen wären; tatsächlich ist die nun vorliegenden Fassung, Franks elegantem Schreibstil zum Trotz, nicht ganz frei von den üblichen Qualifikationsarbeitsrhetoriken, insbesondere was die exzessive und teils etwas repetitive Absicherung in Sekundärliteratur angeht. Dennoch ist Frame by Frame nicht weniger als ein großer Wurf – ein Buch, das den Blick neu ausrichtet, weil es sein Objekt verändert. 

 

Hannah Frank: Frame by Frame. A Materialist Aesthetics of Animated Cartoons (University of California Press 2019)