The Carnivore Gaze Ein Blick auf Tiere und Menschen, der von sich selbst kein Bewusstsein hat
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Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit (Yulia Lokshina, 2020)
© jip film & verleih
Weite Teile des Kinos sind von Fleischessenden für Fleischessende gemacht. Das ist nicht ganz überraschend, da dies der Normalverteilung von Carnivoren in der Gesamtbevölkerung entspricht. Was damit aber einhergeht, ist ein Blick auf Tiere und Menschen, der von sich selbst kein Bewusstsein hat: der Blick des Fleischessers, the carnivore gaze. Er prägt das Kino mit seinen Setzungen und Auslassungen, er verleiht Narrativen Sinn und macht Psychologien plausibel. Wenn auch nur für Fleischesser. Wer sich gegen den Fleischkonsum entscheidet, für den fallen bestimmte Erzählungen auseinander, funktionieren Identifikationsangebote nicht – macht sich mithin der carnivore gaze bemerkbar. Wie er das genau tut, sollen Anmerkungen zu zwei Dokumentarfilmen und einem Spielfilm zeigen.
In ihrem Dokumentarfilm Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit, der im Mai 2020 Premiere beim DOK.fest München hatte und im Oktober in die Kinos kam, kombiniert Yulia Lokshina eigene Recherchen zu den Missständen in deutschen Großschlachtbetrieben mit Beobachtungen von den Theaterproben einer Münchener Schulklasse zu Bertolt Brechts Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Eine Freundin, Carnivorin, sagt, ihr würde das Leid der Tiere in dem Film nicht greifbar gemacht. Ich, Vegetarierin, stutze über den Einwand. Warum sollte das – nochmals – in diesem Film verhandelt werden?
Brechts Stück entstand 1929/30, wurde jedoch erst 1959 uraufgeführt. Es bezieht sich in weiten Teilen auf Upton Sinclairs Roman The Jungle (1905/06) über das Elend in den Schlachthöfen und Konservenfabriken der Chicagoer Fleischindustrie. Der filmeigene Referenzrahmen macht damit klar, dass in ihm Dinge verhandelt werden, die schon vor 115 Jahren skandalisiert wurden – oder besser gesagt: die schon seit 115 Jahren skandalisiert werden. Mit der Ebene der Theaterproben historisiert Lokshina ihre aktuellen Recherchen und stellt klar: Was sie herausgefunden hat, kann man in seinen Grundzügen schon seit sehr Langem wissen. Indem Lokshina auf diese Perspektivierung hinarbeitet statt Bilder von Bolzenschussgeräten und Kükenschreddern zu zeigen, vermeidet ihr Film die grundlegenden Redundanzen, die der carnivore Blick bzw. die carnivore Anlage von Filmen produzieren. Denn wenn die Gewalt, die Tieren und Menschen in Schlachthöfen widerfährt, letztlich als irrelevant für das eigene Verhalten bewertet wird, bleibt sie folgenlos – sowohl individualethisch als auch, aufs Kino bezogen, narrativ. Die Erzählnadel springt immer wieder auf den Anfang zurück, das Leid wird in Form einer Stilfrage immer wieder zur Disposition gestellt. Es muss noch mal, muss noch mal anders dargestellt werden, obwohl klar ist, dass auch die nächste, neue Darstellung folgenlos bleiben wird.
Auch das verdeutlichen letztlich die von Lokshina begleiteten Theaterproben, bei denen sich die Schülerinnen und Schüler mit Brechts Sprache schmerzhaft abmühen und die kunstpädagogischen Fähigkeiten ihres Lehrers schnell an ihre Grenzen kommen: So lange es immer wieder und nur um die Darstellungsweise geht, kann das Sujet als Leerstelle unangetastet bleiben.
In seinem Dokumentarfilm Sonnensystem, der 2011 auf der Duisburger Filmwoche gezeigt wird, verfolgt Thomas Heise das Leben der indigenen Gemeinschaft der Kollas in den Bergen Nordargentiniens. Dabei zeigt er, wie die Dorfbewohner eine Kuh schlachten, indem sie ihr zunächst mit einem Messer in die Kehle stechen und ihr Blut einfangen. In der Folge wird das Tier von seiner Unterseite her aufgeschlitzt und mit der Häutung an den Beinen begonnen. Fettschichten werden abgeschnitten, Knochen abgetragen und Sehnen von einzelnen Organen gelöst. Am Ende wird die Haut der Kuh genutzt, um sie wie eine Decke um die übrig gebliebenen Mägen zu schlagen und diese abzutransportieren.
Schlachtungen, genauer gesagt: Hausschlachtungen, gehören meiner Beobachtung nach zu den Standardsituationen des Dokumentarfilms. Seitdem ich die Duisburger Filmwoche besuche, wurde dort trotz knappen Kontingents von durchschnittlich 25 Filmen und wechselnden Auswahlkommissionen in fast jedem Jahr eine Schlachtung gezeigt. Eine Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Sonnensystem von Thomas Heise, 2011 (geschlachtetes Tier: Rind); Preis des Goldes von Sven Zellner, 2012 (Ziege); Mansfeld von Mario Schneider, 2012 (Schwein); Portrait of a Lone Farmer von Jide Tom Akinleminu, 2014 (Huhn); De Corpore Mortis von Rudolf Domke, 2015 (Rind); Holz Erde Fleisch von Sigmund Steiner, 2016 (Schaf); Safari von Ulrich Seidl, 2016 (Giraffe); Seestück von Volker Koepp, 2018 (Fische); Fleischwochen von Joachim Inseni, 2019 (Schwein).
Die häufige Darstellung von Schlachtungen lässt sich zum einen mit der starken emotionalen Wirkung der Bilder erklären. Der oftmals minutiös eingefangenen Tötung eines Tiers zu folgen, gehört zu den gewaltvollsten, dabei rechtlich unbedenklichen Filmerlebnissen, die der Dokumentarfilm zu bieten hat. Da die Schlachtung im Dokumentarfilm etwas tatsächlich Vollzogenes zeigt, lassen sich, wie der Historiker Jonathan Burt bemerkt, zudem Parallelen zu einem anderen Filmgenre ziehen: dem Porno, denn beim vollzogenen Geschlechtsakt fallen das Figurative und das Reale ähnlich in eins wie bei der Tötung eines Tieres. Die pornografischen Qualitäten von Bewegtbildern, in denen reale Tiere sterben, hat auch der Filmwissenschaftler und Regisseur Derek Bousé vermerkt. Mit Bezug auf den «klassischen» Tierfilm schreibt er: «(…) kill scenes [tödliche Angriffe eines Tieres auf ein anderes] have remained wildlife films’ Chef guarantator of authenticity, just as the obligatory ‹cum-shot› has in xxx-rated adult films».
Jenseits ihrer direkt-affektiven Wirkung haben die vielen Schlachtbilder eine wichtige narrative Funktion, die vom Tier wegführt. Gemeinhin gilt der Tötungsakt als konstitutiv für das Verhältnis von Mensch und Tier. Bei den aufgeführten Filmen sollen die Schlachtdarstellungen hingegen die Unterschiede zwischen zwei Gruppen von Menschen markieren – zwischen denen, die (immer noch) Tiere töten (den Indigenen, den Dorfbewohnern, den blue collar workers, den Großeltern oder Eltern), und denen, die es nicht (mehr) tun (den Weggezogenen, den Städtern, den white collar workers, den Kindern oder Enkeln).
Diese Spaltung in zwei Gruppen wird in der Hauptzahl der Dokumentarfilme als Symptom von Entfremdung gewertet – hauptsächlich zwischen den zwei Menschengruppen, nebensächlich zwischen den nicht-tötenden Menschen und den Tieren. Die Denkfigur der Entfremdung und ihre Implikationen für die Art, wie wir auf Tiere schauen, hat John Berger 1980 in seinem einflussreichen Aufsatz «Why Look at Animals?» ausgeführt. Beginnend im 19. Jahrhundert habe sich in Westeuropa und Nordamerika, so Berger, jede Tradition aufgelöst, die vormals zwischen Mensch und Tier vermittelte. Familiäre Verhältnisse, wie sie Bauern einst mit ihren Tieren pflegten, seien dadurch nachgerade unverständlich geworden. «A peasant becomes fond of his pig and is glad to salt away its pork. What is significant, and is so difficult for the urban stranger to understand, is that the two statements in that sentence are connected by an and and not by a but.»
Wie Jonathan Burt zeigt, sind wesentliche Argumentationsstränge von Berger jedoch nicht haltbar. Vor allem hält seine Charakterisierung des 19. Jahrhunderts nicht stand. Diesen Zeitraum kann man durch die zunehmend industrialisierte Tiertötung und Kadaververarbeitung unbenommen eine bedeutende Umbruchszeit nennen und wie Berger eine physische und kulturelle Verdrängung von Tieren aus dem Alltag vieler Menschen konstatieren. Gleichzeitig setzt jedoch auch eine gegenläufige Entwicklung ein: Tierwohl- und Tierrechtsbewegungen gewinnen massiv an gesellschaftlicher Unterstützung und folglich an politischer Durchsetzungskraft. Das heißt, die Marginalisierung von Tieren, die Berger für die vergangenen zwei Jahrhunderte bedauernd konstatiert, gestaltet sich ambivalenter als es zunächst scheint: Entfremdung von Tieren und Empathie mit ihnen bedingen sich mitunter gegenseitig.
Das zeigt sich auch daran, wie im selben von Berger markierten Zeitraum die Sichtbarkeit von Schlachtungen und Vivisektionen im Dienste des Tierwohls zunehmend reguliert wird. In seiner Monografie Animals in Film führt Burt exemplarisch drei Gesetzesinitiativen an, die in dieser Zeit in Großbritannien eingebracht wurden: 1857 wurde durchgesetzt, dass Kinder unter 14 Jahren nicht mehr Zeugen von Tötungen in Schlachthäusern werden sollten. 1876 wurden öffentliche Vorlesungen und Vorträge, bei denen Versuche an Tieren oder Vivisektionen durchgeführt wurden, verboten. 1911 wurde das Alter von Kindern, die Schlachtungen beiwohnen dürfen, auf 16 Jahre hochgesetzt. Außerdem wurde verfügt, dass auch Tiere nicht dem Anblick der Schlachtung von anderen Tieren ausgesetzt werden sollten. Besonders letzteres ist bemerkenswert, da es den tierischen Blick als zumindest teilweise autonom versteht.
Das dynamische Verhältnis von Entfremdung und Empathie, das sich nicht zuletzt in der Regulierung der Sichtbarkeit von Schlachtungen manifestiert, wird im Dokumentarfilm allerdings weitgehend ignoriert. Stattdessen wird immer wieder auf die Wiederherstellung des vermeintlichen Entfremdungsdreiecks «Tier»/«Tiere tötender Mensch»/«Tiere nicht tötender Mensch» hingearbeitet, in dem Vegetarismus/Veganismus als Absage sowohl an die delegierte als auch an die selbst ausgeführte Tiertötung nicht vorkommt. So produziert der carnivore Blick auch hier in letzter Konsequenz Redundanzen und Erkenntnisstillstand.
In seinem Spielfilm Okja von 2017 erzählt Bong Joon-ho von der südkoreanischen Teenagerin Mija (Ahn Seo-hyun) und ihrem halb-wilden Haustier Okja, einem ausgewachsenen «Superschwein». Das fiktive, CGI-generierte Tier, das auf maximalen Fleischgewinn hin gezüchtet ist, wurde Mija und ihrem Großvater vom multinationalen Agrarkonzern Mirando zur Aufzucht übergeben. Als Mirando Okja zum vielversprechendsten Exemplar seiner neu gezüchteten Sorte erklärt und es zur industriellen Zucht und späteren Schlachtung in die USA überführen will, läuft Mija Sturm gegen Mirandos Pläne – erst mit Hilfe von Tierrechtsaktivisten der Animal Liberation Front (ALF), später in Konkurrenz zu ihnen, denn die ALF will Aufnahmen aus den Schlachthöfen von Mirando und hofft, über eine versteckte Kamera an Okjas Körper daran zu kommen. Nur könnte es sein, dass Okja dabei auch geschlachtet wird.
Nachdem sich die anfängliche Kontroverse um den Ankauf durch Netflix gelegt hat, kommt Bongs Film bei der Kritik größtenteils gut an: «an original story that’s about actual ideas» (Esquire), «by turns sweet, raucously funny, scary and sad, and – in the manner of all good science fiction movies – thought-provoking (rogerebert.com), «like a politically radicalised Spielberg» (The Scotsman). Das Lob für Originalität und Radikalität irritiert allerdings, wenn man sich Mija als das moralische Zentrum des Films genauer anschaut. Deren Motivation und Verhalten entsprechen nämlich denen des durchschnittlichen Carnivoren. Wie dieser unterscheidet Mija zwischen Nutz- und Haustieren, die einen essenswert, die anderen schützenswert. Während Mija zu Okja ein enges familiäres Verhältnis aufgebaut hat, geht sie mit dem Riesenschwein fischen und nennt Hühnchen ihr Lieblingsgericht. Weil die Unterscheidung zwischen Nutz- und Haustieren kulturell geprägt ist und der eine nicht dort zubeißen mag, wo es der andere tut (Frosch/Schlange/Pangolin), muss Bong für den globalisierten Filmmarkt ein Fantasietier einsetzen, in diesem Fall eine äußerst putzige Mischung aus Schwein und Nilpferd.
Die Fleischindustrie wird derweil in ihrer rücksichtslosesten Form dargestellt (Mirando/Wiesenhof/Tönnies), auf deren Ablehnung sich auch weite Teile von Fleischessern werden einigen können. Die heiklere Frage, ob es denn okay wäre, wenn Okja zum Beispiel nach Demeter-Richtlinien geschlachtet würde, wird ausgespart. Gleichzeitig kommen auch die Tierrechtler*innen nicht gut weg. Bong und sein Co-Autor Jon Ronson karikieren ihre Verzichtsethik (ein ausgehungerter Aktivist verweigert aus ethischen Gründen das Essen von Tomaten) und schreiben ihnen ein gestörtes Verhältnis zu Gewalt zu (ein Streit in der Gruppe mündet in einer Prügelattacke des Anführers gegen ein einfaches Mitglied). Der Eindruck moralischer Überlegenheit, der Carnivore so häufig an Vegetarier*innen und Veganer*innen stört, wird so im Keim erstickt. Stattdessen stellt der Film eine Art von Äquidistanz von Mija zu Fleischindustrie und Tieraktivismus her, dank derer sie sich stellvertretend für alle Fleischessende von jeder Radikalisierung schadlos halten kann. Das Aktivierungspotenzial, das manche Kritiker*innen in Okja erkannt haben, lässt sich da nur noch schwer beziffern.
Am Ende wartet immer ein Hühnchengericht – für Mija und für weite Teile des Kinos.