dokumentarfilm

Formen einer Komplizenschaft Einige Beobachtungen zu den Dokumentarfilmen von Sabine Herpich

Von Alejandro Bachmann

© Sabine Herpich

 

Sabine Herpich macht Dokumentarfilme. Beim Schreiben über ihre bisher sieben Filme zieht es mich sehr schnell zu solchen Sätzen – klaren, einfachen Hauptsätzen. Die schnörkellose Präzision ihrer Filme legt das nahe. Sie sind unaufgeregt. Sie verzichten auf expressive formale Markierungen. Sie stellen ihre Form nicht aus: Sie wird (fast) nie vordergründig, dreht sich nicht um sich selbst. Dennoch sind Herpichs Filme gekennzeichnet von einem großen Bewusstsein für die Form. Jeder Einstellung, jedem Schnitt, der ganzen Konstruktion merkt man es an. Die Form aber dient ihrem Gegenstand, sie vermittelt ihn. Und der Gegenstand von Herpichs Filmen stellt – etwas abstrakter gesprochen – immer auch die Frage nach der Form. Ihre dokumentarischen Arbeiten lassen sich jenen zwei Genres der Gattung Dokumentarfilm zuteilen, die die Frage der Form, des Formens, des Geformt-werdens in besonderer Weise ins Zentrum rücken: dem Institutionen-Film und dem Künstler*innen-Porträt. Wie formen Institutionen Leben, Alltag, Individuen? Wie formen Künstler*innen Wachs, Leder, Farbe oder eben bewegte Bilder? Wie wird Gesellschaft gemacht? Wie wird Kunst gemacht? Und wie macht man darüber Dokumentarfilme?

Sabine Herpich macht Dokumentarfilme. Den Eindruck bekommt man bereits bei ihrer ersten Arbeit Wertingen (2011), die eigentlich ein Spielfilm ist. Aber man möchte sagen (auch weil man es jetzt eben schon besser weiß): Eigentlich macht Sabine Herpich Dokumentarfilme. Christian fährt von Berlin nach Wertingen, um dort Franziska zu besuchen. Sie möchte ihn nicht sehen. Also läuft er zwei Tage in der schwäbischen Provinz umher. Und diese ist es, die sich aus dem Bildhintergrund heraus nach vorne drängt. Die Provinz und die Menschen, die dort leben, sind der eigentliche Fokus des Films: die Modeboutique Schneider, das Café Madlon, der Gasthof zum Hirsch, das Ofenmuseum, der Dorfplatz – die Orte, Strukturen, Atmosphären, die Dialekte, Umgangsformen und Alltäglichkeiten. Auch hierin beschreibt Herpich vor allem die spezifische Form eines Lebens. Es ist nicht Christians Form. Aber er lässt sich darauf ein. Er begegnet dem Unbekannten mit Neugier: Das ist eine dem Dokumentarfilmmachen zuträgliche Haltung.

Neukölln-Aktiv (2012) und Zuwandern (2014) sind Dokumentarfilme. Den ersten hat Herpich gemeinsam mit Gregor Stadlober gedreht. Darin betrachten die beiden über einen längeren Zeitraum eine soziale Initiative der Stadt Berlin, die jungen Menschen ohne Schulabschluss eine «Aktivierungshilfe» sein will. Zuwandern ist eine Zusammenarbeit mit Diana Botescu, die Herpich bei einer Hospitanz im Verein Amoro Foro e. V. kennengelernt hat. Begleitet wird die Roma-Familie Badea, ihr Versuch, sich in Berlin ein Leben aufzubauen, Fuß zu fassen, Routinen einzuüben. Hierin ähneln sich die beiden Filme: Sie blicken auf Menschen am Rand, auf Menschen mit strukturell bedingt eingeschränkten Chancen und beobachten dabei das Wechselspiel von individueller Suche nach einer Form zu leben und institutionellem Druck, dem bestimmte Vorstellungen einer solchen Form zugrunde liegen: Routinen definieren, haben, brechen; Routinen einstudieren, auferlegen, hinterfragen; Routinen ablehnen, kurz: Eine Form des Lebens finden zwischen mir und der Welt.

Darin wäre vielleicht auch das Nahverhältnis dieser Filme zu den vier folgenden zu finden, die dennoch auch eine neue Richtung andeuten: David (2016), die präzise Miniatur eines bildhauenden Schuhmachers/schuhmachenden Bildhauers, leitet eine Reihe von Künstler*innen-Porträts ein, die Ein Bild von Aleksander Gudalo (2018) aufnimmt und mit dem Kurzfilm Ulrike Damm schreibt (2020) ihren vorläufigen Endpunkt findet. Die Filme interessieren sich für künstlerische Arbeit, die vielleicht einerseits im Erforschen neuer Zugänge ihren Sinn findet, sich aber andererseits vor allem auch durch Arbeits- und Körperroutinen auszeichnet. Sabine Herpich interessiert sich für diese Routinen.

Der zuletzt entstandene lange Film Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist (2020) gehört in diese Reihe und greift zugleich auf das frühere Interesse am Wechselspiel Individuum/Institution zurück, um beides zueinander zu führen: Das Kunstmachen als Formgeben, das In-der-Institution-Sein als Geformtwerden. Die ersten Einstellungen des Films formulieren dieses Ineinander bestechend einfach. Nach einigen Nahen und Halbnahen, die Adolf Beutler und Till Kalischer bei der Arbeit an ihren Werken zeigen, folgt eine Totale, in der Suzy van Zehlendorf gemeinsam mit der Leiterin der Kunstwerkstatt Mosaik Gemälde für eine Ausstellung aussucht: Die anfänglich intime Arbeit zwischen Künstler*in und Material wird hier eingebunden in einen institutionellen Rahmen. Diesen Rahmen beschreibt der Film vielschichtig. Er verfällt nicht der romantischen Verklärung des individuellen Genies, das von den Institutionen der Kunst domestiziert wird. Er beschreibt die Institution durchaus wohlwollend, sie unterstützt, sie ermöglicht, manchmal tröstet sie auch einfach nur. Der Film zeigt aber doch auch die Macht, die eben diesen Rahmungen inne ist: im Sammeln, der Bewertung und Besprechung und Auswahl von Bildern; in den Vorschlägen (und Vorgaben) beim Herstellen der Bilder; in den diskursiven Rahmungen, die die Bilder spätestens dann bekommen, wenn sie als «Art brut» oder «Outsider Art» auf den Markt kommen.

Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist denkt das Herstellen von Kunst in einem doppelten Sinne: als eine Kategorien der Gesellschaft aushebelnde und genau darin potenziell progressive Form des individuellen Ausdrucks und als gesellschaftliche Praxis, die eingebunden ist in institutionell gewachsene Strukturen, diskursive Rahmungen, Vorstellungen des Marktes. Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist: Der Schnabel ist gewachsen, wie es ihm möglich war.

In den Arbeiten David, Ein Bild von Aleksander Gudalo und Ulrike Damm schreibt fokussiert Herpich viel stärker «nur» die künstlerische Arbeit. Das Außen einer Gesellschaft oder Institution ist in diesen Filmen lediglich in Andeutungen vorhanden (und darin aber auch bedeutsam). Gemein ist allen drei Filmen, dass sie das Herstellen eines Werkes chronologisch mitverfolgen: eine Skulptur (und parallel dazu ein paar Schuhe, die die Regisseurin später tragen wird) von David Laugomer, ein Gemälde von Aleksander Gudalo, ein Schriftbild von Ulrike Damm. Während die Filme in ihrer Struktur verschieden sind und das Kunstschaffen ganz unterschiedlich setzen – als Teil des Alltags, als schritthaften Prozess investierter Zeit, als Übersetzung von einem Medium in das andere –, ist ihnen eine Art des Blicks auf den Prozess des Materialformens, Farbeauftragens, Schreibens gemein. Herpich, die eigentlich Schnitt studiert hat, führt die Kamera in ihren Filmen immer selbst: «Für mich ist das eins geworden, den Film zu machen und mein Blick».

Man kann diesen Blick in allen Filmen erkennen. Er zeichnet sich durch eine große Ruhe aus, er artikuliert immer eine Entscheidung (hier und nicht da, dies und nicht das), gerade indem er ausstrahlt, zur Ruhe gekommen zu sein. Das wiederum bedeutet nicht, dass er sich nicht bewegt, wohl aber, dass auch den Bewegungen diese Ruhe innewohnt. Man kommt hier an eine Grenze der Beschreibung durch Worte, man müsste es sich ansehen. Vielleicht könnte man von einer Spannung sprechen, die speziell in den Blicken auf den künstlerischen Prozess sichtbar wird, und die damit zu tun hat, wie die Kadrage ein Verhältnis zwischen Pinsel/Wachs/Stift & Leinwand/Skulptur/Papier & Hand/Arm/Körper herstellt, wie sie diese Elemente zärtlich und doch bestimmt in das Bild einspannt, um so den Formgebungsprozess als Zusammenspiel von Materialien und Körpern, die auf einem Medium eine Spur hinterlassen, sichtbar zu machen.

In den ersten Einstellungen von Ulrike Damm schreibt etwa wird das deutlich: Wie die linke Hand der sitzenden Schriftstellerin nach hinten greift, einen Stift aufnimmt, dann den ganzen Körper über den nun aufgestützten Arm dieser Hand in eine kniende Position über dem ausgerollten Papier dreht, dabei den Stift in die andere, rechte Hand übergibt, diese ein, zwei Mal über dem Blatt ohne Kontakt dazu das Ziehen einer Linie andeutet und erst dann zu schreiben beginnt. Es ist diese erste Einstellung, die mein Sehinstrumentarium für das Instrumentarium der Künstlerin, für den Prozess der künstlerischen Arbeit justiert, mich dafür empfänglich macht. Ich sehe anschließend einen Körper in Aktion, ich sehe, wann eine Hand nur mit dem Ballen oder mit der ganzen Fläche auf dem Papier liegt, wann sie stützt, wann sie verwischt und wann sie mitmalt.

Diese genauen, unaufgeregten, meist lange gehaltenen Einstellungen bilden so etwas wie das Zentrum von Herpichs Filmen über künstlerisches Schaffen. Zugleich sind sie eingelassen in eine Montage, deren Verfahren als Auffalten von Räumen und – parallel dazu – Gedanken zu beschreiben wäre. Zu Beginn von David sehen wir zwei Hände beim Kneten und Formen eines Materials, im Hintergrund sind unscharf Regale mit Schuhen und Hinweise auf eine Werkstatt zu erkennen. Ein Schwenk nach oben zeigt uns nun sein Gesicht. Nach dem eingeblendeten Titel, weiß auf schwarzem Hintergrund, sehen wir bereits die ersten Ranken jener Möbiusband-artigen Skulpturen, deren Entstehung wir an einem Exemplar den Film über folgen werden.

David sitzt nun an einem schweren Arbeitstisch, zu den Schuhen im Hintergrund sind in seinem Rücken nun weitere Skulpturen in das Feld des Sichtbaren gerückt. Als nächstes zeigt uns die Kamera unter dem Tisch einen Eimer, in dem das Rohmaterial für die Skulpturen aufbewahrt wird und nach dem David greift. Mit dem ersten 180°-Sprung der Betrachter*innenposition sehen wir nun das Ausmaß der Gegenwart dieser Skulpturen in der engen Werkstatt des Protagonisten. So wie Herpich in diesen ersten sieben Minuten nach und nach kleinteilig und bedacht Fragmente hinzufügt, indem sie den filmischen Raum auffaltet, entfaltet sich auch die Biografie Davids in seinen Erzählungen: seine Geburt im Kibbuz, sein Wehrdienst in Israel, seine Karriere als Sportler, usw. Mit jeder Einstellung wie mit jedem Wort geht etwas weiter auf: ein Raum, eine Weise zu arbeiten, eine Weise gelebt zu haben.

In ähnlicher Weise faltet Herpich in Ulrike Damm schreibt den Raum der Zionskirche auf, der das künstlerische Schaffen umgibt. Auch hier gibt es die individuelle künstlerische Arbeit, auch hier aber ist sie eingebunden in einen Raum, ein Leben, größere Strukturen. Die Statuen Davids, die sich aus Tausenden kleinen Wachskügelchen zusammensetzen, entsprechen ein wenig Herpichs langsam und behutsam aufgefalteten Porträts künstlerischer Arbeit: In einzelnen, sehr kleinen ­Raum-, Zeit- und Informationsfragmenten fügt sich ein Bild nur sehr langsam, entfaltet sich in der Zeit und durch die Montage.

Herpich betont dieses Schritt-für-Schritt-zueinander-Fügen: durch die Länge der Einstellungen, die ihre Eigenständigkeit bewahren und dadurch ihr Ende und den Beginn des nächsten Bildes hervorheben. Dass Herpich in Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist die Information, dass Adolf Beutler der Euthanasie der Nazis entkommen ist, fast ganz an das Ende ihres Filmes platziert, lese ich in dieser Weise: Die Information ist zu groß, zu mächtig, würde an einer anderen Stelle des Films soviel semantische Aufladung erfahren, dass das kleinteilige Entfalten Beutlers und seiner Arbeitsweise im Film nicht mehr in dieser Weise sichtbar wäre.

Die spezifische Form der Kameraführung, wie auch das, was hier als Auffalten beschrieben wurde, sind sichtbare Spuren eines Nachdenkens über die eigene künstlerische Arbeit. Die Filme von Sabine Herpich suchen nach einer Form, die die konkrete Materialität künstlerischen Arbeitens greifbar macht. Was passiert da zwischen Körper, Geist und Material?

Zugleich wissen diese Filme um die Vereinfachung, die eine solche Idee von Kunst wäre und binden sie daher zurück an die Welt. Über die Länge der Filme ziehen sich in entgegengesetzte Richtungen verlaufende Vektoren zwischen der Welt und ihren Institutionen und den Werken im Zentrum. Am Klarsten formuliert sich das immer dann, wenn Herpich mit den Künstler*innen spricht, während sie arbeiten, dem Work & Talk. Die Vertiefung in das Material scheint nicht selten das Sprechen von der Scheu, vom Zögern und damit der Zensur zu befreien und stellt so Verbindungen her zwischen den Dingen in der Hand und den Gedanken, Erinnerungen, Meinungen auf der Zunge. Die Fragen der Filmemacherin gehen dabei meist so kleinteilig und detailliert vor, wie es als Haltung auch in der Kameraführung und Montage sichtbar wird. Es geht nicht um besonders schlaue, große, umfassende Fragen. Eher geht es um ein Kennenlernen und Vortasten, das langsame Erfassen eines gedanklichen Territoriums (im Gegensatz zu seinem Besetzen mit allumfassenden Theorien).

Am Ende von Ein Bild von Aleksander Gudalo verlässt die Kamera das erste Mal das Atelier des Malers. Zuvor hat sie ihn über die unterschiedlichen Phasen der Arbeit an einem Gemälde begleitet, hat aus dem Fenster gegenüber einigen Monteuren bei der Arbeit zugeschaut, wenn er eine Pause gemacht hat, mit ihm über seine künstlerische Arbeit gesprochen und befindet sich nun mit ihm und seinen Werken in jener Situation – einer Vernissage –, in der die Welt auf seine fertigen Werke trifft. Wir sehen ihn aus einer gewissen Distanz, er spricht mit einem Besucher, seine Lippen bewegen sich. Die Kamera beobachtet ihn weiter, bis er irgendwann die Augen von seinem Gegenüber löst und kurz direkt zu uns, in die Kamera (und damit Sabine Herpich an-) blickt.

In dem Blick möchte ich eine Vertrautheit, eine Andeutung der Kollaboration, eine Komplizenschaft sehen. Er blickt sie an. Sie blickt zurück. Sie teilt nun mit ihm einen Raum und eine Erfahrung, die von der Genese zumindest eines dieser Werke weiß. Weil sie dabei war, weil sie genau hingesehen und nachgefragt hat und eben weil sie in genau diesen Momenten selbst an ihrem Werk gearbeitet hat. Der Blick bringt zum Ausdruck, dass sich zwei Künstler*innen begegnet sind, dass Gudalo in dem Raum zumindest eine Person weiß, die in den fertigen Werken an der Wand die kleinteiligen materiellen und gedanklichen Prozesse sieht, die es abgeschlossen und fertig, im Rahmen institutionalisierter Zurschaustellung kaum noch sichtbar machen kann.

Sabine Herpich macht Dokumentarfilme, die im Blicken auf künstlerische Prozesse ein individuelles Denken als kleinteiliges Handeln und Umgehen mit Materialien zeigen. Möglich ist ihr das, weil Film als zeitbasiertes Medium auch als fertiges Werk noch von Prozessen handeln kann. Real wird das, weil Herpichs Blick auf künstlerische Prozesse und ihr Verhältnis zum fertigen Werk und seiner Institutionalisierung auch der auf die eigene Arbeit innerhalb einer solchen Konstellation ist. Darin stellt sich eine Komplizenschaft des Arbeitens mit den Menschen vor ihrer Kamera her.

 

Der Kinostart von Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist wurde bereits mehrfach verschoben (aktuell ist von August 2021 die Rede). Ulrike Damm schreibt, Ein Bild von Aleksander Gudalo, David und Wertingen sind auf sabineherpich.de in voller Länge zu sehen