Veränderlichkeit der Zustände Über die Dokumentarserie Décolonisations von Karim Miské und Marc Ball
Eine seiner späteren Reisen führte Ernst Jünger 1966 in die portugiesische «Überseeprovinz» Angola. Immer wieder streut er Splitter aus Geschichte und Tagesgeschehen in seine Tagebuchaufzeichnungen Siebzig verweht ein, nur um dann schnittig den Bogen zu den ganz großen Fragen von Mensch und mythischer Form, Natur und Erdgeschichte zu schlagen.
Nach seiner Ankunft in Luanda, der größten Stadt Angolas, zieht Jünger ins Landesinnere weiter und ist bei deutschen Siedlern zu Gast, darunter auch Veteranen des Vernichtungsfeldzugs, den wilhelminische Kolonialstreitkräfte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen das Volk der Herero in Deutsch-Südwestafrika führten. Dass die Bundesrepublik sechzig Jahre und vier Regime später nach wie vor für die Pensionen der alten Kämpfer aufkommt, erstaunt sogar Jünger und lässt ihn milde auf das wundersame Wirken der Bürokratie blicken. 1904 hatte der preußische General Lothar von Trotha den Befehl gegeben, jeden Herero auf dem Gebiet des heutigen Namibia «mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh» zu erschießen. Auch mit der Familie Trotha – der General selbst verstarb 1924 – macht Jünger während seiner Visite in Angola Bekanntschaft.
Die ländlichen Anwesen, auf denen der Schriftsteller und seine Frau Liselotte unterkommen, sind großzügig ausgestattet, werden zumeist als landwirtschaftliche Betriebe geführt und locken mit einem imposanten Blick auf die Weite der sie umgebenden Wildnis. Tagsüber erkundet er die Gegend und geht auf subtile Käferjagden, abends findet sich die Gesellschaft zu üppigen Gastmahlen zusammen. Nach ein paar Gin Tonics überlässt man sich unter freiem afrikanischen Himmel den Erinnerungen an die «alten ostelbischen Sitze» und «pommerschen Güter». Schwarze Hausangestellte servieren «auf leichten Sohlen» alles «vom Antilopensteak bis zur Omelette surprise». Jünger ist ihnen zugetan, denn sie «staunen wie Kinder, sind leicht zu erheitern und dankbar, wenn man sich ihnen in dieser Absicht zuwendet».
Und doch liegt ein Unbehagen über dieser scheinbar unbeschwerten Szenerie. Die portugiesischen Offiziellen haben der schwarzen Bevölkerung das Tragen von Waffen untersagt. Die weißen Siedler haben sämtliche Fenster in den Herrenhäusern vergittern lassen. Es wird peinlich genau darauf geachtet, die Whisky- und Waffenschränke verschlossen zu halten, um die Hausburschen nicht auf falsche Ideen zu bringen. Gehen die Gutsbesitzer zu Bett, liegt die Maschinenpistole stets griffbereit. Die schwarzen Angestellten leben abgesondert von den weißen Siedlern und ihren Familien. «Schwarze werden im Busch begraben. Weiße nicht ohne Totenschein.»
Abend für Abend kreisen die Tischgespräche um einen ominösen Aufstand. Die Leser erfahren, dass auf allen Seiten, aber insbesondere unter der einheimischen Bevölkerung Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen getötet wurden. Jünger spürt, dass der Schrecken darüber seinen Gastgebern noch tief in den Knochen sitzt. Beim Blättern in einer von der portugiesischen Regierung finanzierten Broschüre stößt er auf «Abbildungen zerstörter Farmen und grauenvoll geschändeter Leichname». Jenseits von diffuser weißer Angst und makabren Details wird der Aufstand in diesen Tagebuchaufzeichnungen allerdings genauso wenig fassbar wie politische Umwälzungen in Jüngers allegorischen Romanen. Wie kam es zu der Revolte? Was hatte es damit auf sich? Ernst Jünger, der so beredt die Musterung von Insektenflügeln erörtern kann, hüllt sich weitgehend in Schweigen.
Nicht nur bei Jünger, der trotz seines Willens zur Abtrünnigkeit darin ganz der Konvention verhaftet blieb, waren die Kolonisierten treue Untergebene oder amorphe Bedrohung und sonst nichts. Um diesem so verbreiteten wie verzerrten Blick etwas entgegenzusetzen, nimmt Karim Miskés und Marc Balls Décolonisations konsequent ihre Sichtweise ein. Ein mögliches Missverständnis sollte gleich aus dem Weg geräumt werden: Die UNESCO hat die dreiteilige Dokumentarserie, die im Januar 2020 auf Arte ausgestrahlt wurde, unlängst mit einem Preis geehrt. Es gibt Kränze, die fangen Staub, sobald sie einem geflochten werden. Nichtsdestotrotz wäre es ein Fehler, zu glauben, dass, nur weil der Film nun auch von höchstoffizieller Stelle mit dem Prädikat kulturell wertvoll versehen wurde, sich hier jemand in gefälligem Amuse-Bouche-Antirassismus oder gediegener Humanitätsduselei ergeht. Der maßgebliche Affekt, der die Doku durchzieht, ist nicht Empörung, die betroffen macht und die Zuschauer, ganz gerührt von der eigenen Empathie, in den Sessel sinken lässt. Zwar ließe sich, das deutet die Serie in verstörenden Archivbildern an, die Geschichte der europäischen Landnahme durchaus als beinahe unaufhörliche Abfolge von Massakern an der lokalen Bevölkerung erzählen. Doch Tempo und Rhythmus von Décolonisations entstehen vielmehr aus der Begeisterung über die historisch verbürgte Veränderlichkeit der Zustände, die sich als Tatendrang entlädt.
Anhand von rund zwanzig Protagonisten entfalten die Regisseure Karim Miské und Marc Ball eine lange Geschichte der Entkolonisierung, die sich vom indischen Sepoy-Aufstand im Jahr 1857 bis zur juristischen Aufarbeitung der während des Mau-Mau-Krieges in Kenia begangenen britischen Kolonialverbrechen im Jahr 2013 erstreckt. Schon das ist bemerkenswert, da die Entkolonisierung für gewöhnlich eine lediglich dreißigjährige Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, in der die Überseebesitzungen der europäischen Kolonialstaaten ihr politisches Selbstbestimmungsrecht geltend machten und die Unabhängigkeit erlangten. Die Annahme, die hier zugrunde liegt, ist eine andere: Die Ausdehnung des europäischen Machtbereichs in Afrika und Asien stieß von Anfang an auf Widerstand. Das Insistieren auf Entkolonisierung, oft unter Gefährdung des eigenen Lebens, ist so alt wie die Kolonialisierung selbst.
Nicht nur chronologisch wird der Rahmen weit gesteckt. Der Entkolonisierungsbegriff, den die Macher – zu denen als Dritter im Bunde der französische Historiker Pierre Singaravélou gehört – in Anschlag bringen, umfasst sportliche Erfolge wie den barfüßig errungenen Sieg des bengalischen Fußballvereins Mohun Bagan gegen die favorisierten britischen Garnisonsteams im Jahr 1911. Er beinhaltet das wissenschaftliche Aufbegehren gegen den rassistischen Status quo, etwa wenn der Haitianer Anténor Firmin im späten 19. Jahrhundert die Datensätze der Schädelvermessung, die dem weißen Überlegenheitsdenken einen gelehrten Anstrich geben sollte, nach allen Regeln der Kunst demontiert. Frauen – von der kenianischen Aktivistin Mary Nyanjiru bis zur indischen Premierministerin Indira Gandhi – nehmen durchweg eine herausgehobene Rolle ein.
Nur brav den in der Serie zurückgelegten historischen Parcours abzugehen, würde der Radikalität dieser quellengesättigten Agitpop-Wundertüte indes nicht gerecht. Ein so gewaltiges und vermintes Gelände lässt sich in weniger als drei Stunden ohnehin nicht einmal in Siebenmeilenstiefeln abschreiten. Harte visuelle Schnitte und narrative Sprünge halten die lose Konstellation kurzer, in sich relativ abgeschlossener Porträts zusammen, auch wenn sich zwischen den einzelnen Begebenheiten immer wieder verschlungene Verbindungen auftun. Dieser Episodendokumentarfilm hat sich so manches bei den abrupten Schauplatz- und Perspektivwechseln des hyperlink cinema abgeschaut, um die passende Form für seine biografischen Momentaufnahmen zu finden.
Ihr Pendant hat die Mehrstimmigkeit dieser Vorgehensweise in den historischen Methoden. Pierre Singaravélou hat sich in den letzten zehn Jahren gemeinsam mit seinem Mentor Patrick Boucheron als einer der produktivsten Verfechter einer französischen Spielart der Globalgeschichte erwiesen, die regelmäßig dicke Bände vorlegt, hinter denen jedoch nicht länger die Autoritätsfigur des einen Doyens steht, der seine enzyklopädischen Kenntnisse weitschweifend ausbreitet und allzu oft nur die üblichen Stationen der nationalen Selbstfindung abklappert. Solchen gewaltigen, alles abdeckenden Historiengemälden wird stattdessen ein Mosaik gegenübergestellt, das sich aus höchst unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzt und sich gleichermaßen an Gayatri Spivaks ursprünglich 1988 erschienenem Essay Can the Subaltern Speak? (der erst seit 2009 auf Französisch vorliegt) und der französischen Annales-Tradition orientiert, wie sie Lucien Febvre oder Fernand Braudel verkörpern.
Die französische global history versteht sich als durch und durch kollektives Unterfangen: Dutzende, bisweilen sogar mehr als einhundert Geschichtswissenschaftler umreißen in denkbar knappen Kapiteln bekannte und, mehr noch, längst vergessene Vorkommnisse und Entwicklungen. Die Kürze ist kein Manko, sondern hat System, denn diese Geschichtsschreibung misstraut dem großen Bogen, der mehr verdeckt, als er zu erkennen gibt. Sie bekennt sich beherzt zum Bruchstück- und Episodenhaften, auf das sich Fernsehserien so meisterlich verstehen. Historische Bücher zu lesen, wie man Netflix guckt – was in manchen Ohren wie eine Horrorvorstellung klingt, ist ein Ansporn für die neue akademische Generation der wie Singaravélou nach 1975 Geborenen.
Freilich stehen auch diese Historiker vor einem gewaltigen Problem: Ein unablässiger Wortschwall hat die europäische Expansion auf Schritt und Tritt begleitet und in den Archiven Berge an Material aufgetürmt. Etwas Geschwätzigeres und Bildgeileres als ein Kolonialreich ist schwerlich vorstellbar. Dieses archivarische Übergewicht, obwohl erdrückend, bietet nichtsdestotrotz etliche Angriffspunkte für gewiefte Guerilla-Aktionen. Gerade jene Artefakte westlicher Populärkultur, die unser Bild auf die außereuropäische Welt prägten, warten nur darauf, in Beschlag genommen und neuen Zwecken zugeführt zu werden. Décolonisations breitet die reiche Beute dieser entwendenden Aneignung augenzwinkernd vor uns aus.
So aussichtslos es erscheinen mag, den Ritt der Walküren aus dem Zusammenhang zu reißen, in den ihn Apocalypse Now gestellt hat, Décolonisations versucht es wenigstens – mit verblüffendem Effekt: Während Francis Ford Coppola Wagners Orchestervorspiel als Soundtrack zum amerikanischen Bombardement eines vietnamesischen Dorfes verwendet, untermalen Miské, Ball und Singaravélou damit den Sieg der vietnamesischen Streitkräfte bei Điên Biên Ph’u, der 1954 das Ende der französischen Vorherrschaft in Indochina besiegelte. Bebildert wird das Ganze nicht von Hollywood, sondern von dem sowjetischen Filmemacher Roman Karmen, der die Schlacht auf Geheiß von Ho Chi Minh nachspielen ließ – ein mit allen propagandistischen Wassern gewaschenes visuelles Gegenarchiv.
Zudem birgt selbst das historische Filmmaterial, das die Kolonialmächte hinterlassen haben, zahlreiche Überraschungen. Genaues Hinsehen lohnt sich: Auf Staatsbesuch in Belgien hält sich der kongolesische Politiker Patrice Lumumba im April 1956 peinlich genau an das Protokoll, zieht den Hut vor der Statue König Leopolds II., der sich den Kongo 1885 als Privateigentum unter den Nagel gerissen hatte und ein menschenverachtendes Zwangsarbeitsregime errichten ließ. Für einen kurzen Moment dreht Lumumba sein Gesicht schweigend in die Kamera des belgischen Fernsehens, als wollte er die vierte Wand durchbrechen und signalisieren: Diesen Kotau mache ich zum letzten Mal. Mit dieser – im Vergleich zum kolonialen Pomp, der ihn umgibt – unendlich sparsamen Geste stellt er die geschichtspolitische Scharade, die hier zur Erbauung der Metropole aufgeführt wird, in ihrer schäbigen Symbolik bloß.
Wenn Décolonisations nicht vorrangig an das moralische Empfinden, sondern an die ästhetische Wahrnehmung andockt, trägt dazu nicht zuletzt der Sprecher aus dem Off bei, der die Zuschauer duzt, die Fäden der Erzählung in der Hand hält und im Namen eines postkolonialen Wir das Wort führt. In der deutschen Fassung gibt sich der Schauspieler Sebastian Koswki redlich Mühe, kommt dabei aber nicht wirklich über das gravitätische Timbre eines Vorlesers hinaus. Jedes Mal, wenn die Narration zum emphatischen Wir der Entkolonisierung wechselt, herrscht kurz Unsicherheit, ob Koswki nun ein Zitat vorträgt. Zu groß ist die Lücke, die zwischen dem Register der Erklärung und dem inneren Beteiligtsein klafft.
Derartige Verwirrung ist im französischen Original gänzlich ausgeschlossen. Der Schauspieler Reda Kateb überzeugt als aparter Conférencier genauso wie als revolutionärer Einpeitscher. Hinzu kommt die Übersetzung: Umgangssprachliche Wendungen im Französischen mutieren zu bildungssprachlichen Floskeln im Deutschen. Aus «notre putain d’oppression» wird «unsere elende Unterdrückung», aus «La victoire, wallaye, ça fait du bien», einem erleichterten Ausruf mit arabischem Einsprengsel – etwa: «Mein Gott, tut dieser Sieg gut!» – wird die schläfrig zu Protokoll gegebene Erkenntnis: «Die Freiheit fühlt sich wirklich gut an.» Darüber hinaus mündet die im Film dargestellte Geschichte in die Biografie Katebs ein, der sich damit unausgesprochen selbst in dem Geschehen verortet, über das er berichtet. Das betrifft nicht nur den geopolitischen Weltlauf, sondern reicht bis in die Verwandtschaftsverhältnisse hinein. Der algerische Schriftsteller Kateb Yacine, der im Mai 1945 Zeuge des von französischen Ordnungshütern verübten Massakers von Sétif wurde und diese Erfahrung in seinem Roman Nedschma (1956) verarbeitet hat, ist sein Großonkel.
Drohen die Verlautbarungen des Sprechers in allzu schlichte Wahrheiten umzuschlagen, sind die Bilder zur Stelle, um den Text gerade dort auszuhebeln, wo er am plakativsten scheint. Gleich zwei Verfilmungen des Lebens von Lakshmibai bekommt man zu sehen, eine bunter und überbordender als die andere. In einer davon, dem Blockbuster Manikarnika: The Queen of Jhansi (2019), wird die indische Herrscherin, die sich 1858 nach anfänglichem Zögern an die Spitze der Rebellion gegen die britische Ostindienkompanie stellte, von der Bollywood-Berühmtheit Kangana Ranaut gespielt, die öffentlichkeitswirksam Premierminister Modi und seinem ultranationalistischen Kurs huldigt. Solche weltanschaulichen Falltüren baut Décolonisations immer wieder ein, damit man sich beim Galopp durch die Emanzipationsgeschichte nicht in falschen Sicherheiten wiegt. So geht aus der grundsätzlichen Parteinahme nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, eine Verengung der Perspektive hervor, sondern ihre reflexive Erweiterung. Erzählung, Bild und Musik illustrieren einander weniger, als dass sie sich gegenseitig anstacheln und konterkarieren, so dass ein Element das andere hervor- und vorantreibt.
Die aktuellen Debatten über die Nachwirkungen des Kolonialismus sind erstaunlich schnell in einen gewissen Trott verfallen. So wird Vertretern des postkolonialen Denkens regelmäßig vorgehalten, die Hauptrollen der Weltgeschichte nach einem Schema zu besetzen, das, da es unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit rassistische Vorurteile zementiere – nur diesmal unter umgekehrten Vorzeichen, mit Weißen, die sich so lange als Zeremonienmeister der Zivilisation gefielen, in der Rolle des Bösewichts und People of Colour, die bis zur Unfehlbarkeit überhöht oder aber auf die Opferrolle festgelegt werden. Mit anderen Worten: Auf den Plan tritt der Vorwurf der Essentialisierung, den diese Doku jedoch lässig ins Leere laufen lässt.
Décolonisations katapultiert die Zuschauer in eine Heldengalerie, kein Zweifel. Comics nachempfundene Zeichnungen der jeweiligen Hauptfigur leiten die einzelnen Segmente ein und legen zuweilen nahe, dass wir es möglicherweise sogar mit Superhelden zu tun haben. Wer in den letzten Jahren, man denke nur an die HBO-Serie Watchmen, Augen hatte zu sehen, dem leuchtet allerdings sofort ein, dass dieser Status längst nicht mehr – wenn er es denn je tat – mit eindimensionaler Güte einhergeht. Superheld zu sein, verheißt einen höheren Grad an Exponiertheit gegenüber den Weltverhältnissen, die vor allem eins sind: widersprüchlich. Innergesellschaftliche Konflikte, religiöser Zündstoff, faule Kompromisse, Vorteilsnahme, Kumpanei mit den Kolonialherren bis hin zum albtraumhaften Abgleiten gerade erst unabhängig gewordener Staaten in die Autokratie, für das in Décolonisations vornehmlich der Name des Diktators Mobuto steht – nichts davon wird unter den Tisch gekehrt. Wie ließe sich auch anders das Handeln der Akteure plausibel machen?
Obwohl Dekolonisierung und nationale Selbstbestimmung enggeführt werden, gehen sie nicht ineinander auf. Viele der historischen Protagonisten, die zu Wort kommen, scheren sich wenig um Grenzen und machen politisch und existenziell prägende Erfahrungen – nicht immer freiwillig – jenseits ihrer Heimat. Ihre Begegnungen und Bekanntschaften verdichten sich zu einem internationalen Netz aus Mitstreitern und Sympathisanten. Für sie steht außer Frage, dass die Dekolonisierung auf halbem Wege stecken bliebe, würde sie sich nach dem siegreichen Befreiungskampf in die Höhle staatlicher Souveränität verkriechen. Sie schreitet voran im Takt von Veranstaltungen wie dem Brüsseler Kongress gegen koloniale Unterdrückung 1927 oder dem Ersten Panafrikanischen Kulturfestival in Algier 1969, das – den Archivaufnahmen nach zu urteilen – eine berauschende, bewusstseinserweiternde Veranstaltung gewesen sein muss, die Woodstock zur Dorfdisco zurechtstutzt. Den Kolonialismus überwinden heißt, eine neue internationale Ordnung zu begründen, was regionale Bündnisse genauso einschließt wie weltumspannende Initiativen. Dass die Globalisierung ein Elitenprojekt sei, kommt Journalisten inzwischen vielleicht allzu leichtfertig über die Lippen. Nicht zuletzt deshalb setzen die Macher von Décolonisations einen willkommenen Kontrapunkt, wenn sie herausstellen, was bisweilen aus dem Blick gerät: Historisch betrachtet waren transnationale Verflechtungen häufig eine Ressource der Ausgebeuteten.
Dass eine neue Weltordnung im Zeichen der Gleichberechtigung aller Menschen mehr als ein frommer Wunsch sein könnte, wollte Ernst Jünger in Siebzig verweht nicht recht glauben. Sein Einwand: Solche Forderungen geben sich meist friedlich, entspringen aber dem Geist des Ressentiments und nehmen die nächste Welle von Gewalt schon vorweg. Bleibt die Frage, wie sich Jünger die gewaltigen Umwälzungen im globalen Ordnungsgefüge überhaupt erklärte. Den Kolonialismus hielt er wie so vieles auf Distanz. Er war Realist genug, um zu erkennen, dass die europäische Vormachtstellung in Asien und Afrika sich im unwiderruflichen Niedergang befand.
Gleichwohl war Afrika für Jünger weder geschichtsträchtig noch geschichtsmächtig. «Was hier historisch ist, ist kolonial.» Das «Geschichtslose» dieses Terrains zehrte an ihm. Die angolanische Revolte im Jahr 1961, die den Auftakt zu einem Krieg gegen das portugiesische Imperium bildete, das unter dem Druck des Widerstands in Angola, Mozambique und Guinea-Bissau erst 1975 zerbrach, schien ihm viel «zu raffiniert», als dass sie allein das Werk der «Einheimischen» hätte sein können. Wenn ein Land nach dem anderen das koloniale Joch abgeschüttelt und ganze Erdteile in Aufruhr versetzt hat, dann war damit Jünger zufolge kein geschichtlicher, sondern ein anthropologischer Tatbestand benannt: «Das dunkle Afrika» bleibe «ein Kontinent, in dem die Furcht regiert». Décolonisations rückt das Augenmerk nicht nur auf all das, was Jünger, der Mann mit dem stereoskopischen Blick, übersieht, sondern lässt solches Durchblickertum auf die überzeitliche Verfasstheit großer Teile der Menschheit auf unwiderstehliche Weise historisch werden und astronomisch alt aussehen.
Décolonisations ist aktuell nicht mehr in der arte Mediathek, aber weiterhin via YouTube streambar