labelportrait

Icarus Films

Von Ekkehard Knörer

 

Bilder einer Super-8-Kamera. Man sieht Menschen in einer Wohnung. Sie sitzen, sie diskutieren, sie sind müde, dann liegen sie auf dem Boden und schlafen. Es könnte eine Party sein. Es gibt keinen Originalton, dafür aber als Voiceover eine Stimme als Legende zu den Bildern. Ich mit meiner Kamera, sagt diese Stimme, filme diese Menschen, die in die Botschaft geflohen sind vor dem Staatsstreich. Ein rechter Staatsstreich, hier sind Kommunisten, Linke versammelt. Sagt die Stimme. Man sieht Großaufnahmen erschöpfter Gesichter, die Stimme nennt Namen. Der Film, Chris Markers L’Ambassade, entstand 1973 und niemand wird bezweifeln, dass hier der von den USA unterstützte Coup gegen Salvador Allende in Chile im Hintergrund steht. Wäre da nicht die letzte Einstellung des Films, in der die Kamera aus dem Fenster blickt und die Seine zeigt, den Eiffelturm und also Paris.

Der Film balanciert, wie so große Teile des Werks von Marker, zwischen konzeptuellem Denkstück, politischem Kino, Essay und Dokumentation. Sehen kann man ihn auf einer DVD des Labels Icarus Films (auf derselben DVD: Markers und Francois Reichenbachs’ Vietnam-Protest-Doku The Sixth Side of the Pentagon. Neun Marker-Filme sind insgesamt bei Icarus verzeichnet). Fundstücke dieser Art machen den Reiz dieses Labels aus, das sich die Verbreitung «innovativer und provokativer Dokumentarfilme» auf die Fahnen geschrieben hat. Dem Anspruch wird es gerecht. Beim Blättern durchs auf der Website gelistete Icarus-Wunderland wird man fündiger und fündiger. Da ist zum Beispiel Kumar Talkies über ein kleines Kino in einem nordindischen Dorf. Ich habe den Film nie gesehen, unvergesslich ist mir aber die Suada, die er bei Einar Schleef aufgelöst hat: in seinen Tagebüchern steigt er nach dem Kinobesuch tief in den Schacht seiner Erinnerung hinab und geht, vergangene Namen heraufrufend, über die Dörfer der Kindheit.

Oder The Ister: David Barisons und Daniel Ross’ wagemutige philosophische Reise von der Schwarzmeer-Mündung der Donau (lat. Name: Ister) zu ihrer (doppelten) Quelle im Schwarzwald, mit Friedrich Hölderlins Ister-Gedicht, Martin Heideggers Deutung und – beides noch einmal kommentierend – Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, Bernard Stiegler und Hans-Jürgen Syberberg im Gepäck. Oder Patricio Guzmáns The Battle of Chile, siehe den Text von Nikolaus Perneczky in diesem Heft. Oder Chantal Akermans Reisefilm D’Est, Zeugnis einer Reise in den Osten, die sie im Moment des Zusammenbruchs des Sowjetreichs unternahm. Oder Peter Lennons Sechziger-Jahre-Irland-Doku The Rocky Road to Dublin, Kamera Raoul Coutard. Das sind aber nur die cinephilen Gipfel des Icarus-Programms. Die Agenda des Labels, das in Brooklyn beheimatet ist, ist unmissverständlich links. Widerstand und Befreiung, Feminismus und Emanzipation, der Kampf gegen Rassismus, Unterdrückung, Gewalt sind die Themen ungezählter Dokumentationen aus aller Welt, die man hier findet. Transsexuelle im Iran. Stadtflucht in Korea. Der Kampf gegen Aids in Malawi. Umweltverschmutzung in einem Fischerdorf in Brasilien.

Ein weiterer Schwerpunkt: Filme über wichtige Denker. Eine Doku zeigt das letzte Interview mit Edward Said. Dazu Porträts von Antonio Negri, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Judith Butler, Jurij Lotman, Pierre Bourdieu. Man muss allerdings aufpassen: Nicht wenige insbesondere der letzteren Filme gibt es nur zu vergleichweise unerschwinglichen Preisen in der Schiene für Schulen und Institutionen. Davon lebt Icarus wohl nicht zuletzt. Dazu gehört auch ein regulärer Kinoverleih. Weit ist der Bildungsbegriff des Labels Icarus. Umfassend das Programm. Lohnend der Websitebesuch.

www.icarusfilms.com