Eustache, zurückspulen, vorspulen
In Dominik Grafs Artikelsammlung Schläft ein Lied in allen Dingen sofort seinen Text über die Wiederentdeckung «des fast vergessenen französischen Regisseurs Jean Eustache» gelesen, ein Wunsch, der nun auch schon wieder fünf Jahre nicht erfüllt worden ist. Noch immer gibt es die Filme Eustaches nicht auf DVD. Im Internet: spärliche Hinweise auf japanische Ausgaben (französisch mit japanischen Untertiteln) und auf eine Eustache-DVD, die einer französischen Zeitschrift beigelegen hat, Links zu einem seit Dezember 2005 nicht mehr aktualisierten Weblog von Eustaches Sohn Boris, in dem er für 2006 eine DVD-Box ankündigt, die offenkundig nie erschienen ist. Bei Rapidshare: Rips von den japanischen Eustache-DVDs, mit englischen Untertiteln, die sich lesen, als wären sie aus einer Übersetzungsmaschine gekommen. Egal. Endlich kann ich mir Une sale histoire (Eine schmutzige Geschichte) ansehen, jenen seltsamen Film, in dem zweimal dieselbe Geschichte inszeniert wird: Ein Mann sitzt in einer Pariser Wohnung auf einem Sofa und erzählt ein paar Bekannten, wie er, es ist schon Jahre her, in der Toilette eines Cafés durch ein ingeniös angebrachtes Guckloch Frauen beobachtet hat, genauer: ihr Geschlecht. Die Übersetzungsmaschine hat daraus «device of sex» gemacht, so wie sie aus «trou» ständig «cave» macht, eine Höhle statt eines Lochs. Es ist seltsam, sich Sale histoire so anzusehen, aber es geht nicht anders, wenn das eigene Französisch nicht für Eustache-Redefluten reicht. Und vielleicht, denkt man, haben auch Übersetzungsmaschinen ein Unbewusstes, dass aus Gucklöchern Höhlen macht, etwas mit einer Rückwand also, die den Blick behindert, von dem Eustaches Mann erzählt, und möglicherweise hat es auch etwas zu bedeuten, wenn sexe ein Instrument, ein Apparat wird.
Eustaches Die Mutter und die Hure (immerhin auf Video erhältlich) habe ich zum ersten Mal in den frühen 80er Jahren gesehen, im Fernsehen. Nie vorher und seitdem nie wieder hat mich ein Film so sehr getroffen. Dass es so war, wird nicht nur an ihm gelegen haben und nicht nur an mir, wie ich damals gewesen bin. Sondern auch daran, dass man damals, wenn man nicht gerade Filmemacher oder Kinovorführer war, Filme noch nicht vor- und zurückspielen konnte. Es gab, jedenfalls für meinesgleichen, noch keine Videorecorder, man bekam bloß die Chance, ganze Filme zu sehen, und das bedeutete: man musste die Zeit mitmachen, die der Film sich nahm. Vielleicht mochte ich Eustache deswegen so sehr, er brachte einen dazu, seine Zeit mitzumachen, es dauert ja immer ein wenig, ehe man sich ergibt. In Die Mutter und die Hure legte Jean-Pierre Léaud zum Beispiel eine Schallplatte auf und dann sah man ein Deep Purple-Stück dabei zu, wie die Schallplatte sich drehte, mehr war das lange nicht, man sah und hörte ein paar Leuten dabei zu, was sie taten, miteinander besprachen und voreinander versteckten, nichts Aufregendes, nur Luftiges. Doch dann kam Eustache nach mehr als drei Stunden auf den Gedanken, die Zeit, die bis dahin verstrichen war, durchzustreichen: Françoise Lebrun hielt eine lange ausufernd verzweifelnde Rede darüber, wie sehr einen das Luftige kaputt macht. Man kann sich diesen Monolog auf Youtube ansehen oder, wenn man wie ich das Video hat, zu ihr vorspulen, und jedes Mal erwischt man sich wieder mit dieser Scham, dieser Ratlosigkeit, dieser Zerknirschtheit über das Leben, das man selbst führt. Und dennoch: Ohne den Anlauf, den Eustache in seinem Film bis zu dieser Rede genommen hat, ist es nicht dasselbe. Eine Schande, dass es ihn immer noch nicht auf DVD gibt. Vielleicht aber auch nicht: Man könnte versucht sein, vorzuspulen. Am nächsten kommen die Filme dem Leben wahrscheinlich dann, wenn man sie nur einmal sehen und hinterher nur noch eine Erinnerung an sie haben kann.
Eustaches Sale Histoire: ein Film über das Kino, das ewige Vor- und Zurückspulen. Zweimal (das ist wichtig) erzählt ein Mann davon, wie er an einem Ort getrennt von der Straße wie unter Zwang immer wieder etwas ansieht, das durch sein Guckloch anders aussieht als überall sonst; von den Unbequemlichkeiten, die er auf sich nimmt; von seinem ständigen Warten darauf, etwas zu sehen zu bekommen; vom Versumpfen, Versacken im Sehen, vom Weitermachenmüssen, vom Entschluss (es konnte ja doch nicht so weitergehen), damit wieder aufzuhören. Aber was macht man, wenn man aufgehört hat, zum Sehen ins Kino zu gehen? Darüber erzählen?