Früchte des Zorns Kamera und waffenloses Bewusstsein: William T. Vollmann errichtet mit seinem Doppelprojekt Imperial (Buch und Fotoband) ein Dokumentarmonument für das gefallene Amerika
Die Stadt Mecca in Kalifornien lebt von der Landwirtschaft. «Zitrus, Feigen, Trauben» steht auf einem Schild an einer Stelle, an der der Highway 11 in den Grapefruit Boulevard übergeht. Die wenigen Bewohner von Mecca, die nicht auf den Feldern arbeiten, verlassen während des Tages wegen der Hitze kaum ihre Häuser. Wenn sie es tun, dann kann es vorkommen, dass sie Menschen vom Frachtzug aus Algodones springen sehen. Es sind pollos («Hühner»), illegale Einwanderer aus Mexiko, die es irgendwie geschafft haben, die Grenze zu überqueren, und die sich nun für die Erntearbeit verdingen wollen. Manche sind sogar von noch weiter aus dem Süden gekommen, aus El Salvador zum Beispiel, ihnen gehört zum großen Teil die Arbeit auf den Feldern mit Wassermelonen. Die Salvadoraner, so sagt man in der Gegend, sind noch gefügiger, sie haben keine Rechte und fordern auch keine. Fünfzig Prozent der Erntearbeiter in der Gegend um Mecca sind Schätzungen zufolge illegal, die andere Hälfte sind überwiegend legalisierte Zuwanderer aus dem Süden, von der «Southside», wie die Menschen dort sagen: Die USA sind die «Northside», Mexiko ist die «Southside», dazwischen liegt eine Grenze, die einigermaßen zufällig eine Landschaft in zwei Teile, zwei Staaten, zwei Rechtssysteme teilt, und den Bewohnern den entsprechenden Status zuteilt: legal/illegal.
Die Landschaft heißt Imperial, und so heißen auch die beiden Bücher, die William T. Vollmann über Imperial erarbeitet hat – einen Text- und Materialienband mit über 1300 Seiten und einen Bildband mit rund 200 Aufnahmen aus Imperial. Es ist das bisher größte Unterfangen eines Autors, der immer schon ein Reisender, Forscher, Reporter, Erzähler war und der sich hier eine scheinbar einfache Aufgabe stellt: «This book represents my attempt to become a better informed citizen of North America.» Mehr als zehn Jahre hat Vollmann an diesem Projekt gearbeitet, und es finden sich zahlreiche Verschränkungen dieser Dekade des «imperial overstretch» in der amerikanischen Außenpolitik und den historischen Verläufen in der Landschaft Imperial, in der sich die kontinentale Expansion des 19. Jahrhunderts, die am Pazifik mit Städten wie Los Angeles und San Francisco manifeste Erfolge erreicht hat, verläuft. Die Montage von sehr unterschiedlichem Material ergibt dabei im Textband ein höchst originäres Buch: Vollmann erwartet gar nicht, dass es von vorn bis hinten gelesen wird, es entspricht eher einer voluminösen Zeitung, in der unterschiedliche Formate Platz haben, von der klassischen Reportage über das Porträt bis zu detaillierten Abhandlungen über Bewässerungsmethoden und deren Auswirkungen auf die Versalzung der Salton Sea, des größten Binnengewässers in der Gegend.
Dass Imperial noch zum Einzugsgebiet des Colorado River gehört, war mir vorher zum Beispiel nicht klar, und zeigt, wie sehr dieser eine Fluss den ganzen amerikanischen Westen prägt. Vollmann spricht bevorzugt von «delineations», er zieht Linien und verfertigt daraus eine Skizze, und zu diesen Skizzen gibt es in Imperial zahlreiche «subdelineations» persönlicher oder historischer Natur. Der geografische Raum wird durch einen Zeitvektor durchkreuzt, der im späten 19. Jahrhundert seinen Ausgang nimmt, und der mit der Biografie von Vollmann eine weitere Dimension bekommt. Denn die Landschaften sind für ihn immer auch «lovescapes», er schreibt in zum Teil schmerzhafter Aufrichtigkeit, wenn auch immer diskret, von der Trennung von einer Lebensgefährtin während dieser zehn Jahre, und er unterschlägt nicht, dass er auf seinen Fahrten immer wieder Prostituierte aufsucht, die in seinem Gesamtwerk ohnehin von zentraler Bedeutung sind. (Michael Glawogger, Regisseur von Megacities und Workingman’s Death, hat jahrelang versucht, Vollmanns Prostituierten-Roman Butterfly Stories zu verfilmen – mehr dazu hier).
Erdklumpen und Eisenteile
Der Subjektivismus von Vollmann ist die Kehrseite einer intensiven Reflexion auf die methodischen Aporien seiner Arbeit: Denn er will auf etwas hinaus, was über Text und Bild hinausgeht, was mehr ist und weniger zugleich, zugleich Objekt und Affektion: «It may well be that since this southeast corner of California is so peculiar, enigmatic, sad, beautiful and perfect as it stands, delineation of any sort should be forgone in favor of the recording of ‹pure› perceptions, for instance by means of a camera alone; or, failing that, by reliance upon word-pictures: a cityscape of whithered palms, white tiles, glaring parking lots, and portico-shaded loungers who watch the boxcars groan by; a cropscape of a rich green basil field, whose fragrance rises up as massively resonant as an organ-chord.» Diese Passage erinnert nicht nur von ferne an James Agees Versuch schreibender Selbstabschaffung seiner selbst als schreibender Berichterstatter über amerikanische Baumwollpächter in den dreißiger Jahren in Let Us Now Praise Famous Men, in dem der Text es mit Fotografien von Walker Evans aufnehmen muss: «If I could do it, I’d do no writing at all here. It would be photographs; the rest would be fragments of cloth, bits of cotton, lumps of earth, records of speech, pieces of wood and iron, phials of odors, plates of food and of excrement. Booksellers would consider it quite a novelty; critics would murmur, yes, but it is art; and I could trust a majority of you to use it as you would a parlor game. A piece of the body torn out by the roots might be more to the point.» Bis hin in die Musik als Metapher für den synästhetischen Zusammenklang der Sinneseindrücke – Vollmann schreibt von einem Orgelakkord, Agee verwendet immer wieder den Vergleich mit einer Sinfonie – gibt es hier Parallelen in der Beschreibung eines Versuchs totaler Beschreibung, der über die Beschränkungen von Text und Fotografie hinausgeht. Die Kunst hat tatsächlich eine Menge von diesen Strategien übernommen, «lumps of earth» und «plates of excrement» sind längst museumsreif, aber auch darin kommt Vollmann mit Agee überein, dass ihm an Kunst gerade nicht gelegen ist.
Let Us Now Praise Famous Men war das Projekt zweier Intellektueller von der Ostküste, die 1936 nach Alabama gingen, um das wirkliche Amerika zu finden: das Leben der bitterarmen Menschen, die Baumwollfelder bewirtschaften, die ihnen nicht einmal gehören – sie waren «sharecroppers», Pächter, die in einfachen Holzhäusern lebten. Die Fotografien, die Walker Evans von diesen Menschen gemacht hat, meistens unverwandt in die Kamera blickend, sind berühmt geworden, auf den dazugehörigen Text von Agee wird deutlich seltener Bezug genommen. William T. Vollmann hat in Imperial beide Funktionen selbst übernommen: er hat geschrieben und fotografiert, auf beiden Ebenen lassen sich klare Bezüge herstellen. Die Frontalität vieler Porträts ist schon bei Walker Evans natürlich eine Konvention, die den sozialen Status der abgebildeten Menschen kommentiert – sie betreten zum ersten Mal ein Bild, zu dessen technischen Voraussetzungen sie keinen Zugang haben. Agee, der nachts mit seinen Notizen unter dem offenen Himmel sitzt und mit seiner Journalistenrolle hadert, hat da schon eher die Produktionsmittel einer Subsistenz, die der der Bauern entspricht, aber auch er hängt mit seinem Produkt von den Medien in New York ab (der Auftrag zu der Reportage erging ursprünglich von dem Wirtschaftsmagazin Fortune), und, schlimmer noch, an einem kulturellen Milieu.
Vollmann scheint an manchen Stellen des Bildbands von Imperial Walker Evans fast zu zitieren, zum Beispiel dort, wo zurückgebliebene Kleidungsstücke auf der amerikanischen Seite des All-American Canals auf pollos verweisen, die es geschafft haben, die Grenze zu überschreiten. Das Bild ist eine Metonymie, wie die zerrissenen Schuhe, die bei Walker Evans auf die Härten des Arbeitstages, aber auch auf die Ruhe des Feierabends in einer Gegend fern zivilisatorischer Ablenkungen verweisen. Bei Vollmann reichen die Implikationen des Bildes noch weiter, denn er erklärt in der Legende, dass es unweit von Pilot Knob aufgenommen wurde, wo 1901 die Bewässerung des Imperial-Tals begann. Das Bild führt hinüber in den Text, und aus dem Text treten immer wieder Figuren heraus vor die Kamera von Vollmann, so zum Beispiel die namenlose Reinigungskraft in einem Fastfoodrestaurant in Calexico, einen Block nördlich der Grenze zu «Southside». Ob sie legal oder illegal in den USA ist, bleibt offen, denn über sie verlautet im Buch nichts Näheres.
Hühner und Coyoten
Die Doppelstadt Calexico/Mexicali, durch die die Grenze verläuft, ist so etwas wie das Nadelöhr des Projekts Imperial, hier verdichten sich die Ungleichheiten, hier lassen sich die «delineations» der vielen Versuche, die andere Seite zu erreichen, de facto in den Stadtplan eintragen. Vollmann bezieht einen guten Teil seiner unerschöpflichen Neugierde auch aus dem zwiespältigen Umstand, dass er ohne Probleme die Seite wechseln kann – ihm steht die Grenze in beide Richtungen offen, er sitzt mit pollos und coyotes (Schleusern) in Mexiko in einer Kneipe und sieht wenig später amerikanischen Polizisten dabei zu, wie sie diese in nicht wenigen individuell bekannten Personen beobachten und aufgreifen.
Das Projekt Imperial wird vor diesem Hintergrund als Versuch einer prinzipielleren Grenzüberschreitung lesbar: Ein Autor versucht, so weit als möglich seine privilegierte Existenz aufs Spiel zu setzen, er geht Risiken ein, die ihn potenziell selbst zu einem pollo werden ließen. Vollmann hat sich in dieser Hinsicht schon einen Namen gemacht, viele seiner Bücher beruhen auf gefährlichen Recherchen und Reisen, auch dasjenige, das als erstes ins Deutsche übertragen wurde: In Afghanistan Picture Show oder Wie ich versuchte, die Welt zu retten bezeichnet Vollmann sich selbst konsequent nur als «der junge Mann» und bringt ungeschönt die Hilflosigkeit eines Berichterstatters in einem Land zu Tage, dem er kulturell wie physisch nicht gewachsen ist – und politisch sowieso nicht. Schon hier findet sich das Motiv des Seitenwechsels, und schon hier in einer widersprüchlichen Form: «1. Das Leid, von dem er umgeben war, ließ sich durch nichts rechtfertigen. Das stellte ihn ganz deutlich auf die Seite der Afghanen. 2. Seine Vorstellung, er könne irgendwie von Nutzen sein, ließ sich nicht aufrechterhalten.»
Inzwischen sind mit Huren für Gloria und Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild zwei weitere Vollmann-Titel in deutscher Sprache erhältlich, beide mit zentralen Motiven aus seinem Kosmos – das Unterwegssein, das Leben von der Hand in den Mund, die Mythologie der 30er Jahre, die nur noch in Spuren romantische Suche nach der einen Frau in Gestalt zahlloser (käuflicher) Gespielinnen. Bei Agee war die Grundgeste noch die eines engagierten Intellektuellen, der sich selbst in eine unmögliche Unmittelbarkeit aufheben wollte, die ihn aus dieser Rolle befreien hätte können. Vollmanns Grundgeste ist das Überqueren dieser Grenzen in beide Richtungen – er zieht aus und kehrt zurück, er sammelt und zerstreut. Er unterstellt Agee (in seinem Buch Poor People) «an elitist expression of egalitarian longings», und wirft Walker Evans eine Flucht in die «tell-all taciturnity of photography» vor.
Es ist vermutlich unausweichlich, dass ein Riesenprojekt wie Imperial auch blinde Flecken hat. Die Spannung zwischen dem «tell-all» des Buches und der «taciturnity» (Schweigsamkeit) des Bildbandes ist aber die gleiche wie in Let Us Now Praise Famous Men. Es haben sich nur die Bedingungen geändert. Agee schrieb unter den Bedingungen eines New Deals, während Vollmann in jeder Hinsicht in das in den Grundfesten erschütterte Amerika der letzten dreißig Jahre gehört. Gerade in Imperial wird deutlich, dass die Grundfigur der amerikanischen Geschichte nicht länger die einer Landnahme und des daraus erwachsenden Fortschritts ist, sondern die des «boom cycles», an dessen Ende Geisterstädte und erschöpfte Landschaften stehen. Vollmann ist der Mann, der wie früher Clint Eastwood in diese Städte kommt, ein Fremder ohne Namen, mit einer geschärften Wahrnehmung, wie sie Agee der Kamera und dem Beobachter gleichermaßen zugeschrieben hat: «the camera seems to me, next to unassisted and weaponloss consciousness, the central instrument of our time». Gerade darin bleibt Vollmann gegen den eigenen Reflex dem Vorgänger verpflichtet, dass er seinBewusstsein «entwaffnet» und «hilflos» macht (ich übersetze das «unassisted» so) und es auf diese Weise schärft für jegliches Detail. Zum Beispiel dieses aus der Stadt Indio: «In the real estate guide, a color photo of a little ranch-style homestead with boarded-up windows advises us to cash in on someone’s misfortune: HUD Repo in Indio. Four bedrooms, two baths, air-conditioning. Very central location, mature trees, excellent terms. This one won’t last!» Von der Stadt Indio nach Mecca sind es nur ein paar Kilometer, die Bedingungen sind da wie dort dieselben – es sind die eines Bonanza-Kapitalismus›, in dem es nicht mehr um Investition geht, sondern um das «cashing in on someone’s misfortunes». Wie in einer ekstatischen Rede verrät dieselbe Immobilienanzeige auch schon, wie es mit Imperial, mit Amerika weitergehen wird: «This one won’t last!»
William T. Vollman: Imperial (Viking 2009) | Imperial. Photographs (powerHouse Books 2009) | The Atlas (Viking 1996) | Butterfly Stories, (Grove Press 1994)
James Agee: Let Us Now Praise Famous Men (Library of America 2005)