Lektürenotizen Zu Büchern von Jakob Arnoldi, Samuel Weber, Don Delillo, Thomas Bernhard / Siegfried Unseld und dem Film L’an 01 von Doillon/Resnais
Don DeLillo: Players (1971)
«Ich bin im falschen Turm», stellt Pammy fest. Im Südturm nämlich, nicht im Nordturm, in dem sie arbeitet. World Trade Center, New York. Players heißt Don DeLillos Roman, 1977 erschienen. Pammy arbeitet für ein Unternehmen, das den Namen «Grief Management Council» trägt: Kommerzielles Kummerverstehen. Players ist ein Roman über Tod, Trauer, Terrorismus. Über Alltagsroutine, übers Fremdgehen, über den Stillstand des Lebens, die Suche nach Kicks. Auch, vielleicht vor allem sogar, ein Börsenroman. Lyle, Pammys Ehemann, arbeitet an einer feinen Adresse: Wall Street 11, US-Börse. Zu Beginn des Romans ereignet sich ein terroristischer Anschlag auf dem Parkett: Ein Börsenhändler ist tot, sein Mörder ist «nur bis zum bond room gekommen». Eigentlich sollte eine Bombe hochgehen, möglicherweise wird sie es nach dem Ende des Buchs auch noch tun.
Die Börse, das Geld, das System: «Das fließt alles über dieses Parkett, Ströme unsichtbaren Lebens. Das ist das Zentrum ihrer Existenz. Das elektronische System. Die Willen und elektrischen Ladungen. Die grünen Ziffern auf der Tafel. (…) Das ist alles in dem System enthalten, bip-bip-bip-bip, der Fluss elektrischer Strömung, der Gelder, Plural, auf der ganzen Welt vereint.» Lyle ist ein Mann, der aussteigen will aus dem System. (Möglicherweise.) Er schließt sich den Terroristen an. Oft sitzt er vor dem Fernseher, starrt hinein, schaltet alle halbe Minute in ein anderes Programm. «Die einzig brauchbare Doktrin ist kalkulierter Wahnsinn.» Noch ein Satz: «Was übrigblieb, dachte er, war kaum noch als Geld zu identifizieren.» Aber auch der Terror ist vielleicht eher virtuell, Konspiration eines Autors, der vieles im Vagen lässt. Räume, Ströme, ständige Aggregatszustandswechsel.
Einmal, mitten im Buch, sitzen Pammy und Lyle mit ein paar Gästen auf dem Dach ihres Hauses und blicken nach Downtown. Pammy, scherzt ihr Mann, will immer ihren Arbeitsplatz, das World Trade Center, im Blick haben. Dann kommt ein seltsamer Dialogsatz von einem der Gäste, Jack wahrscheinlich: «Dieses Flugzeug da sieht aus, als würde es gleich irgendwo gegenfliegen.» Ekkehard Knörer
Samuel Weber: Geld ist Zeit. Gedanken zu Kredit und Krise (Diaphanes 2009)
Das Ende seines Essays Geld ist Zeit hat Samuel Weber mit einer Zeit- und Ortsangabe versehen: Paris, den 6. Dezember 2008. Seine «Gedanken zu Kredit und Krise» sind offenkundig von aktuellen Geschehnissen am Finanzmarkt inspiriert. Die Fragestellung, die er verfolgt, ist aber älter: Es ist die seines soziologischen Namensvetters nach den protestantischen Wurzeln des Kapitalismus. Mit modernen Finanzinstrumenten, so scheint es, hat das erst einmal wenig zu tun. Samuel Weber beginnt mit Benjamin Franklin und dessen Warnung: Vergiss nicht, dass Zeit Geld ist. Aber Geld ist eben auch Zeit, auch das wusste Franklin. Geld ist wesentlich ein Versprechen auf etwas Zukünftiges, Kredit und Verschuldung sind insofern seine irreduzible Funktion. Weber sieht hier das Individuum der Reformation am Werk, für das es Heil und Erlösung allein durch den Glauben geben kann. So geht es mäandernd und analogisierend weiter: Staat und Geld sind die weltlichen Erben der christlichen Erlösungsfunktion; in der Berechnung von zukünftigen Marktwerten scheint die Hoffnung auf religiöse Transzendenz durch; produktive Arbeit ist die säkulare Erbin der göttlichen Schöpfungskraft und die amerikanische Konsumideologie selbst eine Form von Religion. Verschuldung ist im Grunde ein religiöser Akt, denn sie stellt die Vorbedingung der Einlösung/Erlösung («redemption») dar. Ob damit die zeitliche Struktur des spätkapitalistischen Konsums aber richtig beschrieben ist? Eher häuft man doch Kreditkartenschulden an, um sich hedonistisch Bedürfnisse im Hier und Jetzt zu erfüllen, ganz ohne Gedanken an Transzendenz und Erlösung. Was anfangs noch wie eine geschichtsphilosophische Meditation daherkommt, mündet in eine etwas argumentfreie Großthese: Das
System der ökonomischen Theologie habe nicht nur die aktuelle Krise verursacht, sondern die Popularität muslimischer Fundamentalisten in Kriegsgebieten gleich noch dazu. Dass staatliche Defizitfinanzierung ein Mittel der Selbstverwirklichung sein soll, mag man Weber dann auch nicht mehr so recht glauben. Catherine Davies
Jacques Doillon: L’an 01
Von wunderbar radikaler Gelassenheit ist Jacques Doillons Spielfilmdebüt L’an 01 aus dem Jahr 1973. Der Film malt sich, nach einem Comic von Gébé, in dokumentarischer Anmutung eine Gesellschaft aus, die den Beschluss zur Generaldemobilmachung fasst. «Alles hört auf.» Alle Räder stehen still, Symbole und Zeichen beginnen zu schweben. Jung und alt tanzt, sitzt, redet, experimentiert, lustwandelt, strickt, macht Musik und hat Sex. Sehr schön ist das, in seiner Sanftheit.
Zwei kurze Einlagen hat der Film: Sie stehen für nicht weniger als die Rezeption des glücklichen Stillstands im Rest der Welt. Im Niger, das hat Jean Rouch gefilmt, kommt ein Telegramm an. «Erst essen wir», sagt ein Mann, «Telegramme haben selten etwas Gutes zu bedeuten.» Er täuscht sich. Das Radio meldet die Revolution. Die zweite Einlage hat Alain Resnais gedreht, sie ist rund vier Minuten lang, spielt in New York und heißt Wall Street. Das ist der böseste Teil von L’an 01. In Reißzooms weg von den Wolkenkratzern in Downtown Manhattan weitet die Kamera dieAugen im Schreck. Dazu die Tickernachrichten von ins Bodenlose stürzenden Kursen. Ein Mann geht durch ein leeres Büro Richtung Fenster. Öffnet die Jalousie, Schnitt. Ein anderer Mann steigt aus dem Fenster, noch einer dann. Blicke von unten nach oben: Menschen, die aus Fenstern fliegen, einer, noch einer, viele. Die Wall Street am Ende. Crash. Ein Kleinlaster fährt vor, hat Zeitungen geladen, New York Post. Unglauben auf Gesichtern, dann Entzücken: «Europa steht still.» Sie haben’s getan, Staunen. Die Schlagzeilen, die Gesichter, Blicke nach oben, Blicke in der Mitherumstehenden Gesichter. Seliges Lächeln. Alain Resnais filmt den Untergang der Weltwirtschaft, wie wir sie kannten, als einziges Glück.
Thomas Bernhard, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel (Suhrkamp Verlag 2009)
Geld schläft nie, auch wenn es um etwas geht, das sich selbst bevorzugt als autonome, weil geldferne Praxis inszeniert: Kunstproduktion. Dass die Geschichte eines ganzen literarischen Œuvres als Geldgeschichte erzählt werden kann, ist wohl niemals so konkret nachzulesen gewesen, wie in dem auch sonst fast schon unwahrscheinlich komponierten Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard, der Ende letzten Jahres im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Ein jahrzehntelanger Dialog über Geldfragen, der wie die Poetik des Autors funktioniert: Differenz, Wiederholung, Zermürbung.
An den ersten Durchbruch erinnert sich Bernhard in einer Notiz: «Ich forderte von Unseld (…), im Jänner 1965, 40 000 (in Worten: vierzigtausend) Mark; weil ich es eilig hatte in zwanzig Minuten. Angeblich hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt (…) vierzig Grad Fieber gehabt. Ich forderte also damals, wie ich heute denke, für jeden Fiebergrad des Verlegers oder für jede halbe Minute des Verlegers, tausend Mark.» Zeit ist Geld, das in diesem Fall direkt in eine Vierkanthof-Ruine in Ohlsdorf floss, die über Jahrzehnte ein teurer Spaß bleiben sollte, zum Beispiel weil Bernhard das Grundstück vis-à-vis erwerben musste, um den Bau einer industriellen Schweinefarm zu verhindern. Bis in die späten 60er Jahre hinein Empörung über niedrige Verkaufszahlen («denn selbst wenn ich ganz allein mit meinem Rucksack durchs Land ginge, verkaufte ich in vier Wochen sicher mehr») auf die Unseld ungerührt mit penibler Auflistung des Darlehensstands reagiert. Auf zwischenzeitliche Phasen monetärer Deeskalation («Der Begriff Geduld ist mir einer der vertrautesten») folgen überfallartige Telegramm-Forderungen («erbitte die dreitausend nach ohlsdorf») und ein beständiges Fremdgehen mit dem Residenz Verlag, der zu Unselds lebenslanger Verbitterung die autobiografischen Schriften Bernhards erstpubliziert. Im Lauf der Jahre entsteht ein kompliziertes Derivat-System aus Ab-, Voraus- und Optionszahlungen, das sich ab Mitte der 70er Jahre aufgrund Bernhards anhaltender Theatererfolge aus dem Soll in ein Haben bewegt, welches der Autor auch durch Vorlieben für Luxushotels und weitere Bauernhof-Immobilien nicht mehr verpulvern kann. Als das Geld im Vergleich zu den Anfangsjahren zu sprudeln beginnt, lässt sich Unseld schon mal dazu hinreißen, den lamentierenden Bernhard mit gleichfalls überfallartigen Ausschüttungen ruhig zu stellen: Ein Koffer voller Bargeld wird in einem Flughafenrestaurant genüsslich aufgeklappt, der Autor vergisst verdutzt, seine weit ausholende Schimpfkanonade zu Ende zu deklamieren. Im Herbst dieser fiskal-literarischen Beziehung verlieren beide das Interesse am Geld; gleichsam erlösend bewahrheitet sich mit erheblicher Verspätung eine Selbstbeschreibung, die Bernhard Unseld im Frühjahr 1969 als Versöhnungsangebot zukommen ließ: «Im Grunde bin ich kein Geldgieriger. Aber das wissen Sie doch.»