Marc Augé Über Casablanca. Movies and Memories
The Remembered Film heißt ein schönes Buch von Victor Burgin, in dem es unter anderem um das Nachleben von Filmen im Gedächtnis des Zuschauers geht. Um die Splitter, die sich aus Plotvernähungen herauslösen, ein Eigenleben zu führen beginnen und dabei untergründige Verbindungen mit anderen Filmerinnerungen eingehen – und solchen, die erstmal gar nichts mit Kino zu tun haben. Das Gedächtnis des Zuschauers fragmentiert den Film, leitet ihn neuen Montagen zu; der biografische Sinn überschreibt den des ursprünglichen Erzählzusammenhangs.
Filme sind Gedächtnisspeicher, die unser Gedächtnis in Bewegung setzen. Wenn ein Film erinnernd vergegenwärtigt wird, bezieht sich so gesehen ein subjektives Gedächtnis auf ein technisches. Oft ist das Kino jedenfalls in diesem Sinn beschrieben worden: als ein Medium, das das menschliche Erinnerungsvermögen durch eine apparativ objektivierte Gedächtnisprothese erweitert – und provoziert.
Auf welche Weise Erinnerungen an gesehene Filme unser biografisches Gedächtnis mobilisieren können, ist Thema eines eleganten (und ein klein wenig sentimentalen) Essays des französischen Anthropologen Marc Augé, der hierzulande vor allem wegen des von ihm geprägten Begriffs des «Nicht-Ortes» bekannt sein dürfte. Dass das Kino für Augé nicht zu den provisorischen Transiträumen zählt, sondern ein «anthropologischer Ort» ist, merkt man allein schon daran, wie emphatisch er das wunderbare Pariser Kino Action Christine beschreibt.
Casablanca. Movies and Memories handelt aber nicht davon, dass Kinos eine Geschichte als Orte haben können. Der Essay enthält im Kern eine verschlungene autobiografische Erzählung, die sich im Dialog mit dem berühmten Klassiker von Michael Curtiz entfaltet. Einem Film, der für Augé auf häufig indirekten Wegen eine Schneise in die Psychogeografie des Gedächtnisses schlägt, eine Art «mentaler Landkarte» (Tom Conley) zur Verfügung stellt, die in freien Bewegungen mit idiosynkratischen Erinnerungsbildern bespielt werden kann und dennoch einen Link zur «großen Geschichte» herstellt. Es geht vor allem um eine Kindheit im Schatten des Zweiten Weltkriegs: die traumatische Flucht aus Paris vor den deutschen Besatzern, als Augé vier Jahre alt ist; die Verehrung für einen Onkel, der in Casablanca stationiert war. Augé entstammt einer alten Offiziersfamilie, die, das steht eher zwischen den Zeilen, recht spät auf die Seite der Résistance überwechselte und auch danach sowohl in der Indochina- als auch in der Algerien-Frage eher konservative Positionen vertrat (Augé war 1962 selbst als Soldat in Oran stationiert – aufgrund seiner damaligen Unfähigkeit, sich aus familiären Prägungen zu lösen, wie er schreibt). Es ist der Onkel in Casablanca, der die Familie auf die gute Seite der Geschichte zieht, der zu einem Held wird, weil er gegen die Deutschen kämpft und auf spektakuläre Weise eine U-Boot-Havarie vortäuscht.
Casablanca ist Augés Erinnerungsfilm, nicht nur weil darin in genau der richtigen, nämlich die Gedächtnistätigkeit anregenden Dosis zeitgeschichtliche Partikel verarbeitet sind, sondern auch, weil er ihn im Lauf seines Lebens immer wieder gesehen hat. In der Wiederbegegnung mit Filmen, die «ewig jung» bleiben, während der Zuschauer älter und schließlich alt wird, rücken die Erinnerungserfahrungen, die zu unterschiedlichen Zeiten, an verschiedenen Orten mit ihnen gemacht wurden, selbst in eine lebensgeschichtliche Perspektive. rot
Marc Augé: Casablanca. Movies and Memories (Minnesota University Press 2009)