Was von der Berlinale bleibt
Caterpillar (Koji Wakamatsu, JP 2010)
Ein Kriegsheimkehrer, chinesisch-japanischer Krieg, 1940, aber, oh boy, Leutnant Kurokawa bleibt nicht draußen vor der Tür, sondern ist sowas von drinnen im Haus. Da liegt er, ein Torso ohne Beine und Arme, ein defigurierter Mensch, sprachlos, seiner Frau, die unendlich viel lieber eine Witwe wäre, aufgegeben: zum Urinflaschehalten, zum Füttern, zum Beschlafen. An der Wand der Altar mit Kaiser, Zeitungsartikel, Auszeichnung. Höhnend und spottend geht der insistierende Blick der Kamera wieder und wieder da hin. Und was macht die Welt, also: das faschistische Japan, aus diesem Mann: einen Kriegsgott. Je animalischer, desto heiliger. Ausgefahren auf Rädern. Angebetet. Wakamatsu schneidet Gräuel um Gräuel dagegen und macht vor den Atombomben nicht halt. Womöglich der konsequenteste Antikriegsfilm, den es je gab. ek
The Oath (Laura Poitras, USA 2010)
Der ehemalige Dschihadist Abu Jandal ist vor allem dadurch bekannt geworden, dass er eine Weile als «Emir der Gastfreundschaft» von Osama bin Laden gedient hat. Er hat dem Terroristenführer einen Eid geschworen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wandte Abu Jandal sich von Al Quaida ab. Laura Poitras, die mit My Country, My Country einen der besten Dokumentarfilme über die USA im Irak gedreht hat, hat mit Abu Jandal im Jemen gedreht. Seine Geschichte dient dazu, das ganze Jahrzehnt des «war on terror» Revue passieren zu lassen – die wahllosen Verhaftungen, die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, die «enforced interrogations». The Oath ist um einen Moment gebaut: 2001 wird Abu Jandal von dem FBI-Agenten Ali Soufjan befragt, einem Verfassungspatrioten, der auch einen Eid geschworen hat. Es war der Präsident, der die Verfassung dann brach. Davon handelt The Oath, indem Laura Poitras die Geschichte von Abu Jandal erzählt. reb
Fin (Luis Sampieri, ES 2010)
Als Ramia zum verabredeten Treffpunkt kommt, ist Iker zuerst einmal verstimmt: Sie ist ein Mädchen, und zudem muslimisch. Sie darf dann doch mit ins Auto, mit dem Ana, Iker und Ramia sich auf den Weg in die südspanischen Küstenberge machen. Um das, was sie vorhaben, macht Regisseur Luis Sampieri kein großes Geheimnis: Fin heißt der Film, bis zum verabredeten Ende dauert es dann aber noch eine ganze Weile, die nicht für große Diskussionen draufgeht (es geht ja um etwas!), sondern für banale Dinge. Iker wäscht das Auto, die Mädchen liegen in der Sonne, der Zweifel darf nicht mehr hochkommen. Fin hat eine interessante Struktur, weil die gesamte Motivation für den finalen Akt so spezifisch einem anderen Medium zugeordnet ist: Die Verabredung, die Entscheidung, die gegenseitige Bestärkung muss alles im Internet stattgefunden haben, und das, was der Film Fin zeigt, reicht dann schon nicht mehr, um ein Ende zu verhindern, das unter ganz anderen Umständen «erfunden» wurde. Ist Fin am Ende nur eine satirische Allegorie auf das Drehbuchschreiben? Luis Sampieri lässt jedenfalls seine Figuren nicht mehr aus dem Konzept kommen. reb
Crossing the Mountain (Yang Rui, CN 2010)
In der südwestlichen Ecke der Volksrepublik China, an der Grenze zu Burma, lebt das Volk der Wa. Die Menschen hier wissen noch Geschichten zu erzählen von Männern, denen im Wald aufgelauert wurde, um ihren Kopf als Fruchtbarkeitsopfer darzubringen. In dieser Gegend liegen auch Landminen aus einem Konflikt, den Yang Rui nicht erklärt. Wie so vieles nicht. Wissen hilft in dieser Welt nicht weiter, vermutlich gilt das auch im Verhältnis zu den chinesischen Behörden, die einen Todesfall aufklären sollen. Eine Rätselstruktur, die das ethnographische Dokument mit den Spielfilmresten allmählich zusammenfinden lässt. reb
Portrait of the Fighter as a Young Man (Constantin Popescu, RO 2010)
Ein historischer Film über den antikommunistischen Partisanenkampf im Rumänien der 40er und 50er Jahre. Schweigsame, attraktiv-verrohte Naturburschen, die in den Südkarpaten gegen Armee und Securitate kämpfen. Constantin Popescu zeigt das in einer flachen Dramaturgie, in einer Abfolge immergleicher Kampfhandlungen, gefilmt als blockartige Handkamera-Tableaus. Psychologie spielt keine Rolle; über die politischen Motive der Widerständler, die realgeschichtlich heterogen waren, schweigt sich der Film gezielt aus, auch darüber, dass seine Hauptfigur, Ion Gavrila-Ogoranu, ein Mann der Rechten, ein Antisemit war. Heldenverehrung? Vom Schlussbild aus betrachtet: ja. Interessant ist Portrait ofthe Fighter as aYoung Man dennoch: als Film über politische Unfreiheit und einen gesellschaftlichen Raum, der zwischen folternden Staatsangehörigen und reaktionären Freischärlern totalitär aufgehoben wird. Nicht zuletzt deshalb: ein unangenehmer Film. rot
If I Want to Whistle, I Whistle (Florin Serban, RO 2009)
Wie ein gehetztes Tier schleicht (tigert?) Silviu übers Gelände. Vor, zurück, zum Zaun, hierhin und dorthin. Die Kamera lauert, heftet sich wie bei den Dardennes an die Schulter, nimmt wieder Abstand, beobachtet, selbst unruhig, aber nicht gewillt, sich ganz zu identifizieren mit Silviu, dem Gehetzten. Vielleicht hetzt sie selbst sogar mit. (Später, am Ende, wird sie auf Abstand gehen und den Helden in freier Natur wieder gefangennehmen.) Überpräzis beobachtet der Kamerablick, wie der Druck auf Silviu wächst, weil er drinnen ist, im Jugendgefängnis, und nicht eingreifen kann in das, was draußen geschieht. Fabelhaft die Tonspur. Etwas zu viel Druck dann im Plot. Silviu aber die eine von zwei großen Faszinationsfiguren im Wettbewerb, neben seinem verstörenden Widerpart, den rennenden Räuber Rettenberger. Ins Leere laufen sie beide. ek
Der Tag des Spatzen (Philip Scheffner, D 2010)
Das Große neben dem Kleinen. Der Spatz oder der Afghanistan-Krieg. Eifel und Hindukusch. Die Pointe von Philip Scheffners Film Der Tag des Spatzen liegt aber nicht im einen (Spatz/klein/Eifel) oder im anderen (Krieg/groß/Hindukusch), sondern im «und» und im «oder» und im «neben», kurz: der Konjunktion, der Präposition. Es ist ein Film über die Konjunktion und die Präposition. Spatz/Krieg: und, gegen, mit, ohne, neben, über, hinter. Auf einer Zeitungsseite begegnen sie sich zuerst: schiere Juxtaposition. Dann liegen Kasernen in der Natur. Ornithologisch beobachtet die Kamera die Soldaten hinter dem Zaun. Mit dem Fernglas am Auge spricht Scheffner mit einem zwischenzeitlich verhafteten Freund über den Krieg und die Mittel und/oder den Willen, die und/oder den man hat, etwas dagegen zu tun. Am Anfang knallt ein Spatz gegen eine Scheibe. Brutal, dumpf. Dann baden Spatzen in goldenen Lichtspritzern. Das Dumpfe neben dem Schönen. Gegen. In. Neben. Und. Oder. ek
Yuki & Nina (Nobuhiro Suwa, Hippolyte Girardot, JP 2009)
Wie man in einen Wald hineingeht, kommt man nicht mit Notwendigkeit wieder heraus. Ein waldartiges, dunkel-lichtes Reich der Wünsche, des Verwünschens: So sieht eine Kindheit aus in Nobuhiro Suwas und Hippolyte Girardots Yuki & Nina. Der schönste Film, den ich auf der Berlinale sah. (Im Generation-Programm. In Cannes – Quinzaine –, auch auf der Viennale war er 2009 schon gelaufen. Eine späte, schöne Begegnung.) Wie unbeschwert Suwa, bislang oft ein bei aller Großartigkeit anstrengender Regisseur, auf einmal ist. Ein unbeschwerter Ernst aber ist das, keine falsche Versöhnung dabei. Die Wut der Tochter auf die Eltern, die sich trennen, wird nie beiseite gerückt. Aber Bilder finden Girardot/Suwa, und Blicke, die eine Kinderwelt aufschließen. Und in der bewegt sich, ohne Eindringling zu sein, dann der Film. ek
Putty Hill. In der Welt sein
Matt Porterfield macht Filme über die Ränder von Baltimore und des Fiktionalen
Cory ist tot, sein Zimmer ist leer. Es müsste dringend einmal aufgeräumt werden, aber niemand wird das mehr tun. Seine Sachen werden wohl weggeworfen, was bleibt also aus dem Leben eines jungen Mannes, der mit 24 Jahren in Baltimore an Drogen gestorben ist? Was bleibt, ist der Film Putty Hill (2010) von Matt Porterfield. Er setzt mit dem Bild des leeren Zimmers ein, und er endet damit, dass zwei Mädchen spätnachts in dieses Zimmer einsteigen und sich im Dunkeln darin umsehen. Sie rauchen, reden ein wenig, nehmen ein paar Kleinigkeiten an sich, und gehen wieder. Zwischen diesen beiden Szenen zeigt Porterfield Corys Welt. Er zeigt sie im Zeichen einer Trauer, die manche seiner Freunde und Verwandten gar nicht richtig zu verspüren scheinen. Ist es okay, wenn man bei einem Begräbnis nicht weint?, fragt ein Mädchen.
Putty Hill ist ein Viertel in Baltimore, das an den Rändern in die Natur übergeht. Der Film beginnt im Wald, wo eine Gruppe junger Leute Paintball spielt, ein paramilitärisches Spiel mit Gummigeschossen. Später spazieren vier Mädchen in einer langen Szene durch den Wald, bis sie auf einer Straße zwischen den Bäumen auf Männer treffen, die einen Bankräuber jagen. Diese Einstellung ist typisch für den Realismus von Matt Porterfield, denn sie lässt eine Menge implizit, sowohl topographisch (wo in Bezug auf das urbane Zentrum von Baltimore sind wir?) wie auch politisch (sollte nicht eigentlich die Polizei den Bankräuber jagen?), sie ist aber zugleich Teil eines filmischen Zusammenhangs, der tatsächlich auf die Darstellung einer Welt zielt.
Dieser Totalbegriff ist im Grunde mit jeder Einstellung spezifisch schon eingeholt, aber Porterfield radikalisiert diesen Zusammenhang, denn bei ihm ist, was in jedem Bild als Welt da ist, häufig als Information abwesend. Er setzt einerseits eine gründliche Kenntnis der lokalen Gegebenheiten voraus, er macht sich aber nicht die Mühe, diese so zu vermitteln, dass daraus identifizierbare Plotelemente werden. Seine Filme heben sich von der Wirklichkeit gerade nur so viel ab, dass das Fragment einer Fiktion daraus entsteht.
In Hamilton (2006), der in einer ganz ähnlichen Stadtrandwelt spielt wie Putty Hill (mit Eigenheimen, billigen Pools, Rasenmähern, Wald), lebt eine weiße Frau mit ihrer siebzehnjährigen Tochter, deren Baby und zwei afroamerikanischen Mädchen zusammen. Die fünf sind eine Familie, zu der noch der Sohn der Frau gehört, der der Vater des Babys ist. Das Zusammengehören dieser Familie wird nicht weiter erklärt, es bleibt ebenso im offenen Impliziten wie so viele andere Details. Dieses offene Implizite ist die Welt von Hamilton selbst, und es ist die Weise, in der Porterfield sich darauf bezieht, die seine Filme so außergewöhnlich macht (mir fällt als Assoziation nur La cienaga von Lucrezia Martel ein). Im Abspann von Hamilton erscheint ein Insert mit einem Zitat von Rilke (in deutsch!). Ein Satz daraus lässt sich als Motiv über Porterfields Arbeit setzen: «Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge». Das verstehe ich so, dass es in diesen Filmen nicht zuerst um die Übersetzung der Dinge in Elemente einer Erzählung geht, sondern dass diese das bleiben, was sie vor dem Einschalten der Kamera sind: Elemente von Beziehungen, aus denen ein Film wie Putty Hill etwas übersetzt. Porterfield macht klar, dass Film eine Übersetzung einer Übersetzung ist – eine zweite Festlegung des unausdrücklichen, allmählich sich klärenden Weltverhältnisses, aus dem heraus schließlich ein Film entsteht. Hamilton hält diese Festlegung so offen, wie nur irgendwie möglich, in Putty Hill schließt sich die Form schon ein wenig, manche Indie-Konventionen schleichen sich ein (eine lange Szene bei einem Tätowierer mit einer tollen R&B-Nummer im Hintergrund ist fast «too cool for school»). Das ändert aber nichts daran, dass Matt Porterfield mit nur zwei Filmen ins Weltkino eingetreten ist. reb