Alles auf Anfang Zu Patricio Guzmáns La Batalla de Chile
Ich würde sagen, dass es fast unmöglich ist, in Chile jemanden zu treffen, der nicht eine Vorstellung von der Zukunft hat», lässt Gabriel García Márquez den Icherzähler seines Reportageromans Das Abenteur des Miguel Littín auf der Innenseite einer Gitanes-Schachtel notieren. Miguel Littín, der Regisseur von El chacal de Nahueltoro (1969) und La tierra prometida (1971), hält sich zum Zeitpunkt dieser Äußerung illegal in seiner Heimat Chile auf, um die Innenansicht einer Militärjunta zu filmen, die ihn dreizehn Jahre zuvor des Landes verwiesen hatte. An diesen klandestinen Zigarettenschachtelsatz fühlt sich erinnert, wem das Hauptwerk eines anderen großen Filmemachers chilenischer Herkunft zum ersten Mal begegnet: Patricio Guzmáns La Batalla de Chile sondiert, was hätte werden können. Dem US-Label Icarus Films ist es zu verdanken, dass der Film nun erstmals in einer recht soliden DVD-Fassung vorliegt – auch wenn die Abtastung Wünsche an die Bildqualität offen lässt.
Kaum eine Rezension von La Batalla de Chile kommt ohne weihevolle Attribute aus: epochal, legendär, monumental. Das hat seine Gründe. Patricio Guzmáns Dokumentarfilm wirft einen in sich gedoppelten, zu gleichen Teilen intensiven wie panoramatischen Blick auf Salvador Allendes demokratisch legitimierte Präsidentschaft ab 1970, welche im Zeichen des beispiellosen Experiments stand, die Republik Chile auf dem Weg verfassungsgemäßer Reformen in den Sozialismus zu führen. Am 11. September 1973 bereiteten Putschisten um General Augusto Pinochet dem chilenischen Sonderweg ein jähes Ende, Allende kam beim Bombardement des Präsidentenpalasts La Moneda ums Leben. Es folgten sechzehn bleierne Jahre in der Gewalt einer neoliberalen Militärdiktatur; sechzehn Jahre, in denen tausende Regimegegner systematisch gefoltert, zum «Verschwinden» gebracht oder ins Exil gezwungen wurden, während das Gemeinwesen einer rabiaten Privatisierungspolitik zum Opfer fiel.
Guzmán beendete die Arbeit am ersten von drei Teilen, auf die er La Batalla de Chile in Anbetracht von 25 Stunden selbst gedrehten Filmmaterials anlegte, erst 1975 im Exil, zu einem Zeitpunkt, da die Schlacht bereits verloren war. Dennoch ist das Ergebnis weit mehr als das letzte Geleit einer unwiederbringlichen Ära: Für die Dauer von viereinhalb Stunden lässt Patricio Guzmán die Toten wiederauferstehen.
Antibürgerliche Schwenkbewegungen
Den Eintritt in die Schlacht um Chile markiert eine Wahlumfrage. Von diesem Instrument scheint der Film zunächst keinen anderen Gebrauch zu machen als das Fernsehen auch. Im Licht jener vorgeblichen Objektivität, die von den Meinungen der Befragten nur so viel zurückbehält, wie sich statistisch auswerten lässt, erscheinen die unterschiedlichen Positionen als austauschbar; der Wähler regrediert vom sozialen Akteur zum Stimmvieh. Auf den ersten Blick mag der Eindruck entstehen, Guzmáns Vorgehen sei ein ähnliches. Mit vorgehaltenem Mikrofon entlockt er der chilenischen Bevölkerung einsilbige Präferenzen für die bevorstehende Präsidentschaftswahl. Jedoch: es ist dies keine Wahl wie jede andere. Wir schreiben das Jahr 1970, Allendes Kandidatur für die Unidad Popular (UP) spaltet das Land in Gegner und Befürworter. Man muss Stellung beziehen.
Erst bei genauerem Hinsehen wird ersichtlich, dass die gesellschaftliche Polarisierung auch die von Jorge Müller Silva geführte Kamera affiziert. Und zwar in Form einer Politik der Großaufnahme, die den unterschiedslos kadrierten Gesichtern erst als Gleiche begegnet, um sie im nächsten Moment auf entgegengesetzte Fluchtpunkte zulaufen zu lassen: Während rückwärtige Zooms die Äußerungen einzelner UP-Anhänger an die sie umgebende Menge zurückbinden und darin als deren authentischen Ausdruck vorstellen, dezentrieren rasche Schwenks den souveränen Gesichtsausdruck der Vertreter des bürgerlichen Lagers in Richtung äußerlicher Wohlstandsindikatoren. «Welches Auto fährt dieser Mann?», fragen diese Schwenks, und: «Welche Zeitung liest er?»
Damit das Aufzeigen solcher Details, die Guzmán und sein dreiköpfiges Team überall, im Parlament, in den Universitäten und Parteizentralen, in den Fabriken und auf der Straße – immer wieder auf der Straße – ausfindig machen, nicht zu bloßem Ressentiment verkommt, sind sie in eine nach und nach sich entfaltende Argumentation eingebettet. Es ist dieser Kontext, aus dem den beiläufig fixierten Aperçus eine politische Beweisfunktion zuwächst. Hinzu kommt ein mit Sorgfalt ausgearbeitetes Narrativ, das die vielen Schauplätze und Akteure so verschränkt, dass jedes Ereignis als Reaktion auf ein vorheriges lesbar wird. Was diese Vereinfachung nach bewährtem Muster von den Verfahren konservativer Historiografen unterscheidet, ist ein zweifaches Beharren: Einmal auf der entscheidenden Rolle des «poder popular», der Macht des Volkes, das nicht als amorphe Masse figuriert, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlich nuancierter Stellungnahmen entsteht, zum anderen auf all jene Momente des Leerlaufs und der Ungewissheit, die das in Anschlag gebrachte Erzählmodell eigentlich außen vor lassen müsste. Unterhalb der stringenten, zur Historie verhärteten Darstellung, die auf das verheerende Telos des chilenischen 11. September zusteuert, in den uneinholbaren und irreduziblen Kontingenzen, denen das Medium Film vermöge seiner fotografischen Basis zugeneigt ist, nistet ein Widerstand gegen den realgeschichtlichen Strom der Ereignisse. Guzmán, der zu spät Gekommene, lehnt sich gegen die unerträgliche Faktizität des Vergangenen auf, deren akribische Registratur er selbst verantwortet. Wenn überhaupt, dann ist das Tragische von La Batalla de Chile in dieser Geste zu suchen.
Spaltungsversuche
Die im Kleinen angezeigte Spannung zwischen Realgeschichte und Möglichkeitsraum wiederholt sich im Großen der alle drei Teile übergreifenden Anlage des Films. Die ersten beiden Segmente behandeln in erster Linie den Machtkampf zwischen Allende und der Opposition aus Christlichsozialen und Nationalisten, die ihre einfache Mehrheit im Parlament dazu nutzten, von der UP initiierte Gesetzesvorhaben zu blockieren. Zudem stützten sich Allendes Gegenspieler auf ein außerparlamentarisches Netz von Verbündeten, das von mittelständischen Kaufleuten über christliche Gewerkschafter bis zur CIA reichte. Gemeinsam setzten sie Allendes Massenbasis zu; sie legten den öffentlichen Verkehr und den Gütertransport durch Streiks lahm, horteten Waren des täglichen Bedarfs, um sie am Schwarzmarkt zu überteuerten Preisen feilzubieten, und traktierten die Bewegung mit konstanten Spaltungsversuchen. Als die verfassungskonformen Mittel und Wege, Allende zu entmachten, ausgeschöpft waren, blieb nur noch die Hoffnung auf einen Staatsstreich.
Der erste Teil von La Batalla de Chile endet mit einem erfolglosen Putschversuch. Der Coup läuft ins Leere, trifft aber den dabeistehenden argentinischen Kameramann Leonardo Henrichsen tödlich. Eine dunklere Vorahnung als diese letzte Einstellung, die den Aufprall des Projektils als sachte Erschütterung des Kaders registriert, bevor das Bild seinen Halt verliert und zu Boden taumelt, ist kaum denkbar. Bis zu Pinochets Machtübernahme, die im Ausgang des zweiten Teils steht, sind es nur noch drei Monate.
Errettung einer anderen Wirklichkeit
Der dritte Teil des Films löst sich nicht nur von der chronologischen Aufbereitung des Geschehens, sondern lässt auch das an Gegensatzpaaren orientierte Erzählmodell – Aktion hier, Reaktion da – hinter sich. Stattdessen zeigt er, ausgiebig und mit einer distanzlosen Begeisterung, wie sie sich Guzmán bei aller Solidarität an keiner anderen Stelle erlaubt, Formen spontaner Selbstorganisation unter Fabrik– und Landarbeitern. Auch wenn diese Männer und Frauen die UPals «ihre» Partei ansahen, eignete ihrer Bewegung eine autonome Dynamik, der die Reformen des «Compañero Allende» weder schnell noch weit genug gingen.
Was in Chile versucht wurde – neben der eigenständigen Produktion und Distribution von Gütern, neben der Zusammenarbeit einzelner Sektoren der Industrie in so genannten «Industriegürteln» usw. auch und vor allem die Überwindung entfremdeter Arbeit durch eine partizipative Reorganisation des Produktionsprozesses –, ist der Anfang einer anderen Gesellschaft. Dass es Guzmán gelang, die Wirklichkeit dieses Anfangs auf Film zu bannen und also zu erretten, zeichnet La Batalla de Chile gegenüber vielen anderen Versuchen aus, der chilenischen Erfahrung im Medium des Films beizukommen. Von Pedro Chaskel und Héctor Ríos’ polemischer Bildkaskade Venceremos (1970) oder dem im Auftrag des US-amerikanischen Tricontinental Film Center gedrehten Cuando despiertael pueblo (1973), der sich in militanter Selbstkritik übt – «An unarmed song will never command!» –, blieb, nachdem sie die Geschichte eingeholt hatte, wenig mehr als die leere Agitiertheit. Was der geduldige, für leisere Töne zuständige Patricio Guzmán dagegen geschaffen hat, kann ihm keine Militärjunta der Welt mehr nehmen. Das bittere Ende des chilenischen Experiments, man verliert es am Ende dieses Films bisweilen aus den Augen.
The Battle of Chile (3 DVDs, RC 1, erschienen bei Icarus Films)