Ins Große – Ein ehrgeiziges Jahrzehnt im Avantgarde-Kino Ein Rundgang durch die vergangene Dekade: Über die Filme von Phil Solomon, Lewis Klahr, Jenniver Reeves, Ben Rivers und Ben Russell
Der Experimentalfilm des letzten Jahrzehnts: Womit, fange ich an? Die Kritik hat eine gewisse Tendenz, ihre Gegenstände in Schubladen zu räumen (und dann wieder umzuräumen), sie in Klassen und Kategorien hin- und herzuschieben. Eine Folge dieser Tendenz: Es widerstrebt uns, diese säuberlich beschrifteten Schächtelchen angesichts nicht recht passender Daten aufzugeben, und also behaupten wir eine Ordnung, wo vielleicht keine ist. Dennoch glaube ich, dass es gewisse Trends in der Avantgardeproduktion der letzten zehn Jahre zu beobachten gibt. Manche davon, scheint mir, recht offensichtlich, wie etwa das Schwinden der Opposition zwischen Zelluloid und Digital, oder die zunehmenden Überlappungen zwischen dem Spielfilm-Universum, dem Galerien- und Museumsbetrieb und der Welt des experimentellen Handwerks. Das sind keine neuen Erkenntnisse.
Für ein kleines Kino
Wenn es aber eine bemerkenswerte Verschiebung gegeben hat, dann liegt sie in einer irritierend schwer greifbaren Qualität, die man, so mein Vorschlag, «Skopus» oder «Reichweite» nennen könnte. Im Jahr 1992 hat Tom Gunning einen einflussreichen Essay über sechs Filmemacher veröffentlicht, den er «Für ein kleines Kino» genannt hat, in Anspielung auf Deleuze und Guattaris Buch über Kafka. Die These von Deleuze/Guattari war, dass Kafkas, als eines tschechischen Juden, Verwendung der deutschen Sprache den Effekt hatte, die Sprache sich selbst zu entfremden und ihren Status als Herrensprache zu unterlaufen; in ähnlicher Weise, behauptet Gunning, haben bestimmte Filmemacher der 90er – Nina Fonoroff, Peter Herwitz, Peggy Ahwesh, Lewis Klahr, Phil Solomon und der inzwischen verstorbene Mark Lapore – bewusst eine marginale Position im Verhältnis zum Apparat des Kinos gesucht. Sowohl im Blick auf das kommerzielle Kino als auch auf die großformatigeren phänomenologischen Ambitionen vergangener Dekaden (Brakhage, die Strukturalisten).
Eine der impliziten Behauptungen dieses Konzepts des «Kleinen» ist die, dass handgemachte Filme auf der Ebene der Eins-zu-eins-Kommunikation operieren können und vielleicht sogar sollten. Im Modus der relativ privaten Adressierung also, der den großen Gesten abschwört, die man mit Unterhaltung verbindet, aber auch mit manch anderen Formen der Kunst. Lässt sich eine Arbeit des Kinos am besten mit Kammermusik oder mit einer Sinfonie, einem Sonett oder einem epischen Gedicht, einem Tontopf oder den Erdarbeiten eines Land Artist vergleichen? Wenn es so ist, dass ein wichtiger Teil der Experimentalfilmszene in den 90ern in die Richtung des jeweils ersteren tendierte, wie Gunning (und ich glaube zu Recht) meint, dann können wir, klüger im Rückblick, vielleicht ein paar Gründe dafür finden. Die relative Stabilität der Clinton/Chrétien-Jahre in Nordamerika zählt dazu. In ihnen war eine starke Technologiewirtschaft von der Ausweitung von Ressourcen und Positionen für Filmemacher an den Universitäten begleitet (vor allem für jene, die bereit waren, sich auf die neuen digitalen Medien einzulassen), und das hat, denke ich, zu einem Gefühl der Freiheit geführt, einer Offenheit für dringend benötigte Introspektion nach der Reagan/Bush Senior-Ära. Es gab für viele das Gefühl einer Absicherung ihrer Produktion, ein Vertrauen ins vergleichsweise verlässliche Vorhandensein von Ressourcen und finanzieller Unterstützung, und beides schuf eine Umgebung, in der «Essays», also «Versuche» im ursprünglichen Sinn dieses Worts, möglich waren – Ausprobierstücke, Versuchsballons, in Flaschen gebastelte Filme.
Kühne thematische Statements
Ich möchte behaupten, dass die wichtigsten Beiträge zum Experimentalfilm der Nullerjahre die entgegengesetzte Tendenz zeigen – in Richtung der großen Geste, des kühnen thematischen Statements und, vielleicht genauso wichtig, der unerschrockenen Offenheit für die affektiven Potenziale des Films. Generalisierungen dieser Art gelten selbstverständlich nie absolut und eine Reihe von wichtigen Filmen und Filmemachern der letzten zehn Jahre arbeiten in einem anderen Register. Lynn Marie Kirby, Jim Jennings und Sylvia Schedelbauer fallen einem da ein. Und der vielleicht bedeutendste Vertreter der vergangenen Dekade – David Gatten – schafft Werke von solch epischer Zartheit, dass man sie in diesen Kategorien gar nicht fassen kann. Ihnen gerecht zu werden, verlangte nach einem Essay für sich.
Dies alles vorausgeschickt, glaube ich doch, dass es eine entschiedene Wendung ins Opernhafte gibt in den zurückliegenden Jahren; und wenn ich die vulgärmaterialistische Spekulation fortsetzen sollte, käme ich wohl zum Ergebnis, dass die Filmemacher im gegenwärtigen ökonomischen Kollaps (gestrichene Jobs, Stipendienlage verzweifelt, Filmmaterial wird nicht weiterproduziert, totale Ungewissheit in allen Lebenssphären) vielleicht umso frecher aufs Ganze gehen, jedes Werk so angehen, als sei es das letzte. Wie dem auch sei: Wenn die 80er und 90er Taktiken des «Kleinen» bevorzugten, dann sind wir jetzt mitten in einem kühneren, selbstbewussteren Programm. Einige dieser Arbeiten verhalten sich neuartig zur Geschichte ihres Mediums – dazu gehört die Einsicht in sein näher rückendes Verschwinden, die damit verbundene Befreiung und die Auseinandersetzung mit den neuen Medien und Formen, die den Thron usurpiert haben. Mit hermetischer Reflexivität hat das Ergebnis allerdings überhaupt nichts zu tun. Zwar erkunden viele dieser jüngeren Filme durchaus die radikale Partikularität der menschlichen Erfahrung, unterscheiden sich dabei aber von der kleinformatigen Poesie der «Kleinen» und auch vom identitätspolitischen Sektierertum vieler Filme der 80er und 90er. Stattdessen erlebt man in diesen Filmen, wie die aktuelle Filmemacher-Kohorte die Lektionen der vergangenen Jahrzehnte in sich aufgenommen hat und die Chance ergreift, sich in einen Bereich erfrischend direkter affektiver Adressierung zu wagen. Die Avantgardisten der Nullerjahre kämpfen mit widerspenstigen Emotionen. Sie schwärmen aus. Sie denken groß.
Interessanterweise sind einige von Gunnings «kleinen» Cineasten Schlüsselfiguren dieser Bewegung. Lewis Klahr war lange Zeit derjenige, der mit seinen Kader-für-Kader-Cutout-Animationen die Sprache von Harry Smith und Lawrence Jordan in die späte Baby-Boomer-Ära hinein verlängert und erweitert hat, dabei dank seines assoziativen Witzes und einer erstaunlich klaren Form von Surrealismus aller Nostalgie sehr abhold. Obwohl einige Aspekte seiner Arbeiten sich wenig verändert haben, liegt der Fokus von Klahrs Filmen inzwischen doch anderswo: Mehr und mehr interessiert er sich für die formalen Eigenschaften der Signifikation, in filmischer, performativer und symbolischer Hinsicht. Seine Two Minutes to Zero-Trilogie (2003-2004) wendet sich ab von den für ihn typischen Cutout-Bearbeitungen und nähert sich mit der Konzentration auf eine einzige Folge von Comic-Bildern, die er unter der Kamera in Bewegung versetzt, einer Art «Nullpunkt». Auf diese Weise simuliert er Schuss/Gegenschuss-Formationen, Eyeline-Match-Montagen, Schwenks, Dolly-Fahrten und andere Elemente der Filmsyntax. Das ist mehr als nur ein feiner Trick (eine Art kleinformatige Variation von Michael Snows mit stillstehender Kamera erzeugter «Dolly-Fahrt» bei vorüberziehendem Filmset in Presents); er behandelt Zuschauerschaft als ein Reenactment der Aufnahme einer engagierten Betrachtung, als Belebung eines statischen Mediums, das in Wahrheit von Anfang an filmisch war.
Es kommt dazu, dass Klahrs Verwendung von Musik, die immer schon scharfsinnig war, hier zu einer fast alchemistischen Verschmelzung gelangt, indem sie die Zeit-Signaturen der drei Sätze dieser filmischen Sinfonie unterstreicht und implizit der Bewegung und Geschwindigkeit des Comicbuchs unter der Kamera den Takt gibt. (Two Days to Zero inkorporiert vollständige Songs von Interpreten wie Arthur Lee & Love, während Two Hours to Zero eine puffende Glenn-Branca-Variation ist.) Während einige andere Klahr-Filme des letzten Jahrzehnts melancholische Betrachtungen über die verlorene Zeit sind – am ergreifendsten Daylight Moon (A Quartet) (2002-2004) und False Aging (2008) – , weist Two Minutes to Zero in Richtung einer neuen, ausgearbeiteteren Vision. Der Versuch, so könnte man sagen, Affekte mit den Mitteln übergroßer Schnoddrigkeit hervorzurufen. Frühere Klahr-Filme verwendeten Songs als zusätzliche Collage-Elemente. Die jüngsten Arbeiten suchen die ausdrückliche emotionale Kontrolle, die man bei Scorsese oder P. T. Anderson findet, nur mit noch präziserem Formvokabular. Er verschmilzt das Körnige des Films mit den Benday-Dots der Popart-Comic-Ästhetik, er ersetzt private Obsessionen mit den großen Gesten eines Gesamtkunstwerks, vorgetragen in seinem eigenen portablen Bayreuth – und erzeugt so eine tumultuarische, allumfassende Welt.
Die jüngsten Arbeiten von Phil Solomon tun ziemlich genau dasselbe, aber mit völlig anderen Mitteln. Wie sein verstorbener Freund und Wegbegleiter Stan Brakhage ist Solomon ein Filmemacher für Filmemacher, der die fundamentalen chemischen Prozesse und die physikalische Basis des Filmstreifens als Rohmaterial, ja, als eine Art archäologische Ausgrabungsstätte begreift. In den letzten fünf Jahren jedoch hat sich Solomon mit Haut und Haar dem digitalen Videomachen verschrieben. Er hat dabei, ähnlich wie Klahr, dem Medium ein neues Bewusstsein seiner selbst gegeben, indem er darin eine vollständige Welt geschaffen hat, die selbstgenügsam präsent ist und sich zugleich dem staunenden Betrachter bereitwillig öffnet. Solomons vierteilige Serie trägt die Gesamtüberschrift In Memoriam– Mark Lapore. Jedes der Videos besteht aus Bildern, die komplett dem Videospiel Grand Theft Auto entnommen sind. Lapore hatte in seinen Filmen eine sehr eigene Spielart radikaler Ethnografie geschaffen und in seinen langen, starren Einstellungen von Menschen auf der ganzen Welt eher an der Verwirrung der Intention und Selbstwahrnehmung des Filmemachers gearbeitet als an der Kodifizierung «des Anderen» durch einen anthropologischen Blick. Vielleicht als eine Art Metapher dieser radikalen Ethnografie bei Lapore geht es in Solomons Videos immer darum, «das Spiel falsch zu spielen».
Das Spiel falsch spielen
Schummrige Seitenstraßen, einsame Theater und Sackgassen sind die primären Schauplätze in Solomons Videos und wir folgen dabei einem undeutlichen Avatar mit hängenden Schultern auf seinem Weg von einem verlassenen Haus am Rande der Stadt (im ersten Stück, Crossroad, noch mit Lapore gemeinsam produziert) durch eine Folge von physischen und spirituellen Plagen und Qualen (Rehearsals for Retirement), bis er eine von Lampen erleuchtete himmlische Seligkeit (Last Days in a Lonely Place) und eine letzte Ruhestätte (Still Raining, Still Dreaming) erreicht. Wie der Klahr-Film nutzt In Memoriamdie spezifischen Qualitäten des Mediums für eine größtmögliche sensorische Vereinnahmung.
Solomons Verwendung der verschwommenen Texturen von Digitalvideo im Kontrast mit den GTA-Texturen erzeugt eine Welt, die irgendwo zwischen einer Bleistiftskizze und einer unterbeleuchteten Farbfeld-Leinwand schwebt, jeder Zug in die Tiefe verstellt, weil immer nur eine 2D-Ebene über der anderen liegt. Dennoch lockt uns In Memoriamin seine von Trauer bestimmte Alternativwirklichkeit, indem er seiner planaren Logik einen klaren Protagonisten hinzufügt, dessen Reise zwar vorbestimmt ist, dessen spezifische Umstände jedoch offen genug bleiben, unsere persönlichen Projektionen auf sich zu ziehen.
Offenstehende Wege
Solomon und Klahr sind beide in neue Phasen ihres Schaffens eingetreten. Sie zeigen dabei eine Bereitschaft, nackte emotionale Fakten – die spürbar gemachten Restbestände menschlicher Affekte – als Ressource, wenn nicht gar als Rohmaterial, und eben nicht als eine peinliche Sache («Sentimentalität») zu betrachten, die aus dem seriösen filmischen Experiment zu tilgen wäre. Lapores Tod hat gewiss etwas mit dieser Wende zu tun, aber mehr noch besteht Lapores Erbe, denke ich, in Solomons Auseinandersetzung mit dessen eigenen riskanten, emotional befrachteten Filmarbeiten, die diese neuen Wege eröffnet haben. Oder eher vielleicht erlaubt haben, die Reise auf Wegen wieder aufzunehmen, die die ganze Zeit offen standen. Zwei entscheidende Filmemacherinnen der 80er, Yvonne Rainer und Su Friedrich, waren Pionierinnen genau in ihrer Fähigkeit, emotional aufgeladenen Inhalt in rigorose Systeme filmischer Komposition zu integrieren. Sie behandelten «das Persönliche» als Rohmaterial für formende und manipulierende Zugriffe, für eine formale Organisation, die seine Bedeutung verstärkt, nicht verwässert. Diese Haltung steht in deutlichem Kontrast zu zeitgleich vorhandenen Tendenzen, entweder emotionale Gehalte wie die Pest zu meiden oder sie als sakrosankt und keiner weiteren Bearbeitung bedürftig zu betrachten. Stattdessen finden wir heute eine größere Bereitschaft, etwas aufs Spiel zu setzen: mit großen Statements, Bravourstücken des Affekts, die zwar durch die spezifischen Eigenschaften des Mediums prozessiert werden, dennoch aber keine Verkleidung brauchen in ihrem Wunsch zu selbstbewussten und doch verletzlichen Absichtserklärungen.
Dieses scheinbare Paradox – die starke, mit Meisterschaft vorgetragene Erklärung von Verletzlichkeit – lässt sich am deutlichsten vielleicht an den jüngeren Arbeiten von Jennifer Reeves erläutern. Obwohl sie nie als Künstlerin eines «kleinen Kinos» kategorisiert wurde, passen Reeves frühe Arbeiten genau in diese Rubrik. Sie sind sehr persönlich, handgemacht und entschieden marginal in ihrer Haltung gegenüber der Welt insgesamt. Einige der frühen Arbeiten besitzen einen Punk-Spirit, währende andere Reeves’ eigene Erlebnisse mit Gewalt und Psychiatrie thematisieren, und zwar im Rückblick, vom Standpunkt feministischer Analyse. Ihr jüngster Film, When It Was Blue, ist in vielfacher Hinsicht eine Erweiterung und Transformation dieser Anliegen, vor allem aber eine Verschiebung von Reeves’ Projekt in den explizit opernhaften Modus. When It Was Blue ist eine einstündige, vierteilige Film-Performance in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Skúli Sverrisson und besteht aus rund um den Globus aufgenommenen Naturbildern.
Einzigartig an Reeves’ Film ist, dass er aus Bildern im Umfang von zwei Filmrollen besteht, die ständig aufeinander projiziert werden. Darunter Zerkratztes, Handgefärbtes, manipulierte Fotografien sowie ganz «straighte» Filmaufnahmen. Man erlebt das als Bombardement, als Reizüberflutung, also ungefähr das, was Freud «ozeanisches Gefühl» nannte. Obwohl Blue erklärtermaßen eine umweltpolitische Agenda hat und die rapide Plünderung des Planeten beklagt, verweisen die aufgewühlten Oberflächen und die zitternde Handkameraarbeit auf Reeves’ eigenes Gefühl der Überwältigung durch die Außmaße all dessen, was sie umgibt. When It Was Blue ist fraglos einer der Schlüsselfilme des vergangenen Jahrzehnts. Es gelingt ihm, wie den Werken von Solomon und Klahr, eine eigene Filmwelt zu evozieren, obgleich Reeves sie offensichtlich aus großen Stücken und Streifen der uns vertrauten konstruiert. Es gelingt ihr aber zugleich, eine Art stereoskopischer Vision der Wirklichkeit mitzuteilen, einen Mythos der Passion und der Beklemmung, der den epischen Kosmologien von Brakhage, Jack Chambers und David Larcher durchaus ähnelt. Und ganz wie bei diesen oft missverstandenen Filmemacher gehorcht Reeves’ Vision dem doppelten Impuls, das Universum zugleich zu umarmen und zu reorganisieren.
Man könnte auch sagen: When It Was Blue ist darin, wie er in verschiedene Richtungen zugleich zielt, beispielhaft für eine Art Apotheose des experimentellen Films im letzten Jahrzehnt. Reeves setzte eine einzigartige Filmwelt zusammen, in der sich ästhetische Selbstbeschränkung und ein nach außen gerichteter, ja, globaler Skopus nicht widersprechen. Obgleich das Mark-Lapore-Projekt einen entschieden «kleinen» Kern hat, als geradezu schmerzhaft demütiges Projekt eines entwaffneten ethnografischen Blicks, kann man sein Erbe in einigen der anderen Schlüsselfilme der Nullerjahre erkennen. Reeves’ experimentelle Ethno-Doku-Gedichte folgen dem starken Trend in Richtung kühneren Einsatzes emotionaler Kräfte und zugleich haben sie doch die Lektionen von Lapores komplexer humanistischer Annäherung an das gefilmte Subjekt verinnerlicht. Zwei aufregende, im letzten Jahrzehnt neu in Erscheinung getretene Filmemacher zeugen gleichfalls von dieser Verbindung: Ben Russell aus Chicago und Ben Rivers aus Brighton.
Fluchtweg in Surinam
Russell produzierte eine Serie von sechs Filmen unter dem Obertitel Trypps, darunter die Found-Footage-Abstraktion eines Richard-Pryor-Konzerts, Aufnahmen der Reaktion eines Publikums auf eine Hardcore-Punk-Show, ein Neonschild in Dubai und weitere kleinformatige Performancestücke mit reinem Licht. Danach ging der Filmemacher nach Surinam, um dort seinen Langfilm Let Each One Go Where He May zu drehen. Um mit dem Grundlegenden zu beginnen: Let Each One besteht aus dreizehn jeweils zehnminütigen Plansequenzen, von denen Russell und sein Kameramann Chris Facett zehn mit einer 16 mm-Steadicam aufnahmen. Die anderen drei sind statisch. Der Film dreht sich um zwei saramakkanische Brüder, Monie und Benjen Pansa, und ihre Reise von den Außenbezirken Paramarimbos – auf einem Weg, den ihre Vorfahren vor dreihundert Jahren als Sklaven auf der Flucht vor ihren niederländischen Herren schon zogen. Der Titel des Films stammt aus einer Episode in der mündlichen surinamischen Überlieferung, in der die Götter erscheinen und die Sklaven befreien. Russells Übernahme der Götterverfügung als Titel des Films, so ungezwungen er klingt, so aufgeladen er ist mit politisierter Poesie, wird weniger und weniger aufdringlich, je mehr Zeit man in Gesellschaft des Films verbringt. In jeder der langen Einstellungen, die die Brüder in unterschiedlichen Arbeits- und Auftritts-Situationen zeigen (darunter illegale Bergarbeit, Aufräumarbeiten im Wald und ein ritueller Tanz), verbirgt Let Each One so viel, wie er offenbart, weil das echt Bazin’sche Mittel des ungeschnittenen Realismus’ die Aufmerksamkeit gerade zurück auf die Kamera, die Sets und die Choreografie sowie den Beitrag der Pansa-Brüder selbst zum ganzen Prozess lenkt.
Ähnlich wie Reeves arbeitet Russell auf der ganz großen Leinwand, was die Laufzeit, die Logistik und, am wichtigsten, die Ambition seines Projekts angeht. Wie der von Reeves ist auch Let Each One ein Film, der eine riesige Fläche kartieren möchte, sowohl geografisch als auch in Begriffen des subjektiven Bewusstseins. Wir bewegen uns mit Russell und den Pansas als entkörpertes Kamera-Auge und registrieren gleichzeitig die Mühe und die Herrlichkeit ihrer Reise. Und beides adressiert als somatischer Auslösereiz sehr unmittelbar unsere eigenen Zuschauerkörper. Aber sogar abgesehen von dieser offensichtlich phänomenologischen Fragestellung gilt Russells genauso großes Interesse unserem Identifikationspotenzial, unseren nebeneinander bestehenden Wünschen, einerseits mehr über die Brüder zu wissen und andererseits einfach mit ihnen zu exisiteren, im ethischen kinematischen Raum eines Lebens in Gleichzeitigkeit. Let Each One Go Where He May ist ein weiterer Film, der diese neue «große» selbstsichere Positionierung der Avantgarde exemplifiziert; Russells Film lief in diesem Jahr im Wettbewerb von Rotterdam und gewann dort den Preis der FIPRESCI.
Man könnte den Fehler machen, die Filme von Ben Rivers im Vergleich dazu als kleine, private Angelegenheiten ganz im Sinn der von Gunning so treffend beschriebenen Tendenz zu begreifen. In Wahrheit jedoch dürfte es sich bei Rivers’ 16 mm-Porträtarbeiten um eines der ambitioniertesten, zukunftsweisendsten Projekte auf der gesamten Experimentalszenerie überhaupt handeln. Rivers erregte vor rund fünf Jahren erstmals Aufmerksamkeit mit einer Serie kleiner Filme, eher juwelenartige Angelegenheiten, die zum Beispiel die verdunkelten Interieurs verlassener Häuser erkundeten oder die Nebelschwaden am Rand von Schafsweidewiesen einfingen. Seine neueren mittellangen Filme aber sind schlicht verblüffend in ihrem sorgfältigen Schnitt, ihrer Aufmerksamkeit für die Eigenarten von Raum und individuellem Gegenstand. Sie alle wirken so konsequent aus- und zu Ende gedacht, wie man es meist (unbewusst, vielleicht) doch eher vom Langfilm erwartet.
In mehr als einer Hinsicht erfüllt sein schwarzweißer ethnopoetischer Breitleinwandfilm Ah, Liberty! die Ambitionen der Grierson-Gruppe noch mehr als die Meisterwerke, die die britische Bewegung selbst hervorgebracht hat. Er erinnert an John Griersons Night Mail oder Humphrey Jennings’ Listen to Britain. Perfekte Tongedichte, die trotz ihres Impressionismus’ eine gründliche (wenngleich objektiv «unvollständige») Kenntnis des jeweiligen Gegenstands möglich machen. Im Fall von Ah, Liberty! beobachten wir arme britische Kinder in ländlicher Umgebung. Wir wissen wenig Genaues über sie. Das Voiceover am Beginn des Films verspricht ironisch einen konventionellen, liberalen, aktivistischen Dokumentarfilm à la Buñuels Las Hurdes. Was wir dann aber von Rivers bekommen, ist eher etwas wie ein Flaherty-Film in Spielfilmlänge oder ein ethnografischer Beitrag von Michel Brault, nur ohne die ganzen erklärenden Passagen: Es beginnt mit einem verschwommenen Establishing Shot der wolkengekrönten Berge, dann folgen eine Kamerafahrt über einen Drahtzaun und ausgedehnte Beobachtungen der Jungen, die in roten Wagen oder umgebastelten türlosen Autos durch die Gegend fahren.
Sein gleichzeitig entstandener Film Origin of the Species ist ganz einfach nur das Porträt eines Mannes («der außerordentliche S.»), der in der Wildnis lebt, seine eigenen Bahnen zieht und die Welt beschreibt, wie er sie sieht. Aber Rivers lässt seinem Gegenstand breiten Raum, sich über die Natur, die Evolution, den Ort des Menschen im Universum und die Zukunft des Planeten zu äußern. Ob S. ein Autodidakt ist oder ein aus der Kultur gefallener gebildeter Mann, erfahren wir weder von ihm noch von Rivers. Der Film selbst aber ist ein Akt der Großzügigkeit, und Rivers gelingt es, für sein Interesse an der Person eine Form von absoluter Präzision zu finden. Origin of the Species ist von Bild zu Bild, von Einstellung zu Einstellung exquisit, was hier aber konzeptuell notwendig ist, da Rivers einen Film geschaffen hat, dessen Gestalt von geradezu naturhafter Richtigkeit scheint, wie die Form eines Felsens oder das Bett eines Bachs. Wenn die sechzehn Minuten des Films vorüber sind, hat man den deutlichen Eindruck gewonnen, ein Leben und seine Eigenart von jeder nur denkbaren Seite kennengelernt zu haben.
Obgleich alle der von mir diskutierten Filme die Tendenz hin zu größerer Ambition, direkterer emotionaler Ansprache und weiter gefassten, ja sogar kosmischen Themen aufweisen, ist Ben Rivers wahrscheinlich der Filmemacher, der ans Ende dieses Essays gehört. Über seine Filme könnte man sagen, dass sie «unser aller Geschichte» erzählen, indem sie sich durch die unerwarteten Nebenwege und Seitenstraßen der Gesellschaft bewegen, und so das Versprechen erfüllen, das sowohl der Avantgarde- als auch der Dokumentarfilm seit mehr als einem Jahrhundert gegeben haben. Godards Weekend war «ein Film, der durch den Kosmos treibt». In The Text of Light schenkte uns Brakhage «das Universum» im Kristallaschenbecher eines Millionärs. Die mutigsten Avantgarde-Filmkünstler der Gegenwart blicken in eine Hütte an einem Bach, in einen Comic, in die Seitenstraßen eines Videospiels – oder sie gehen hinaus in die weite, endlose Welt und geben uns im einen wie anderen Fall das unheimliche Gefühl, dass dabei nichts ausgelassen wird oder vergessen.
Übersetzung: ek