Boulevard radical Über Alain Resnais und seinen neuen Film Les herbes folles
Die Handtasche ist blau. Die Haare sind rot. Die Tischlampe ist grün. Wie der eine der Mäntel. Rot und Grün – versteht sich – die Ampelmännchen an der Wand. Blau gestrichen wird das Haus im Außenbereich. Rot ist die Brieftasche. Rot ist das Licht auf dem Boden vor dem Kino. Blau ist die Kundentheke im Polizeirevier. Gelb ist der schnittige Wagen. Blau ist das andere Auto. Blau, gelb und rot die Neonröhren neben der Tür. Man muss hier nicht aufhören. Les Herbes Folles ist voller intensiv leuchtender Farben. Zu bedeuten haben sie nichts.
Die Kamera blickt auf die Füße. Sie zeigt Marguerite Muir mit den roten Haaren von hinten. Wir sehen am Rand der Wanne nur, vom Blick der Kamera wie gestreichelt, den Arm. Zuallerletzt das Gesicht in der Draufsicht, wie vom Körper gelöst im milchigen Wasser. Im Uhrenladen, den George Palet aufsucht, machen die Kamera und Tonspur sich einfach davon. Rasche Bewegung zur Uhrenvitrine. Ticktickticktick. Später fliegt die Kamera, während wir einen Dialog, der drinnen stattfindet, hören, über das Haus. Nähert sich zunächst, als wollte sie gleich hinein, steigt nach oben, fliegt über den First, wir sehen den Wald und hören weiter, was wir nicht sehen. Verrückter noch, was sie, die Kamera, bald darauf beim gemeinsamen Essen so treibt. Sie fliegt, ohne zu landen. Sie landet, ohne geflogen zu sein. Ganz wie der Film.
Zu hören ist ein Erzähler, man sieht ihn nie. Manchmal schweigt er recht lange, manchmal verzettelt er sich, manchmal taucht er, fast hat man ihn vergessen, aus dem Nichts wieder auf. «Darf ich Ihnen vorstellen: Das ist Josepha Bellotch.» (Das hat er aber nur von dem Schild abgelesen, das wir in der Einstellung davor sahen.) Er ist ein etwas seltsamer Typ, dieser Erzähler. Man weiß nie, was er weiß, was er nicht weiß – oder ob er überhaupt etwas weiß, ob nicht vielmehr diese ganze verrückte Geschichte spontan in der Rede verfertigt wird, ob nicht die ganze Übung darin besteht, von einer Absurdität in die nächste zu fallen, mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit. Einmal, plötzlich, und wirklich einmal nur, sagt der Erzähler etwa «Ich», stellt eine Beziehung her zu den Figuren. Fast stutzt man auch hier wieder nicht.
Wie im Kreiselkompass der Kreisel
Es gibt, obwohl er nicht ausgetragen wird, zwischen verschiedenen Stimmen eine Art Wettkampf. Denn auch die Stimme von George Palet führt ein Eigenleben abseits der Bildspur. Kaum zu glauben, was der manchmal denkt. Hat er wirklich einmal getötet? Wir werden es niemals erfahren. Außerdem ist es die ganz falsche Frage. An keiner Stelle will die Geschichte über sich selbst hinaus. Es gibt kein anderes Innen und Außen als genau das, was man vorgeführt bekommt. Stimmungen und Stimmen schwirren in diesem Film wie im Kreiselkompass der Kreisel. Er hält dennoch stets wundersam seine ganz eigene, nichts und niemandem verpflichtete Richtung, bricht ab, setzt neu an, schlägt Haken um Haken, all das aber in flüssiger Fortbewegung, als ein kontinuierlicher Eleganzzusammenhang. Die Kamera schleicht durchs Gras. Unkraut sprengt Asphalt. Les herbes folles ist ein Film zwischen kitchen sink (George ist arbeitslos und macht den Haushalt) und heiterem Himmel (das werden Sie sehen!).
Vier Personen: Marguerite Muir, ihr wird die Tasche gestohlen. George Palet, er findet das Portemonnaie. So sind sie verstrickt. Marguerites Zahnarztkollegin, Josepha Bellotch. Sie gerät sehr spät erst ins Spiel. George Palets Frau, Verkäuferin von Klavieren. Diese vier bekommen es miteinander zu tun. George verfolgt Marguerite als Seelenverwandte. Er hat ihren Pilotenführerschein im gefundenen Portemonnaie gesehen, und weil er das Fliegen liebt und die Flugzeuge, ist er infiziert. Sein Haus lernen wir kennen, seine Frau natürlich, die Kinder auch bei jenem Essen, bei dem die Kamera die tolldreistesten Dinge tut. Ah, diese Dinge, die sie immerzu tut. Also zum Beispiel: George plötzlich am Grill. Wie kam er da hin? Wo war der Schnitt? Wie erklärt sich, was hier geschieht? Gar nicht. Da war kein Schnitt. Da wird nichts erklärt. Und anders als die Sprache in der Vorlage von Christian Gailly, stolpert der Film selbst auch nicht.
Modernistischer Formexperimentator
Das hat beim mittleren und späten Alain Resnais freilich Methode. Berühmt wurde er, ein niemals eigene Drehbücher verfilmender Über-Auteur, als modernistischer Formexperimentator. Filme nach Vorlagen von Raymond Queneau (der Plastikgesang Le chant du styrène, 1958), Marguerite Duras (die Erinnerungsinstallation Hiroshima mon amour, 1959), Alain Robbe-Grillet (die verwunschene Wandelgangkonstruktion L'Année dernière à Marienbad, 1961); dann noch aller Linearität und Geschlossenheit spottende Werke wie die Erinnerungs- und Narrationsdekonstruktion Je t’aime, je t’aime (1968) oder die Pädagogenkongress-cum-Größenwahndrama-cum-Mysterienspiel-Fantasie La vie est un roman (1983): ein Mann der Konvention schien Alain Resnais jahrzehntelang nicht.
In den Achtzigern nimmt seine Karriere eine merkwürdige Wende. Was an seinen Filmen zuvor unendlich gelenkig war, beginnt, so der oberflächliche Eindruck, zu versteifen. Resnais verfilmt zusehends Stoffe, die seiner Formkunst diametral entgegengesetzt scheinen. Vergessene oder nicht ernstgenommene Theaterstücke, dann mit Pas sur la bouche (2003) sogar eine wirklich verstaubte Operette. Mélo, von 1986, das scheint ein entscheidener Einschnitt, die erste heftige Irritation für die Liebhaber des Avantgardisten Resnais. Sehen wir darum etwas genauer hin. Zugrunde liegt das nicht ganz schlechte, aber auch nicht herausragende gleichnamige Bühnenstück eines weithin vergessenen Autors namens Henri Bernstein. Eine melodramatische Dreiecksgeschichte, deren Verfilmung Resnais mit einer offenen Setzung beginnt. Man sieht in bzw. vor der ersten Einstellung einen gemalten Bühnenvorhang. Er muss sich erst «öffnen», bevor die Kamera freien Blick erhält auf die Bühne im so eigens markierten Rahmen. Sie landet in der ersten Szene des Stücks. Da hält sie erst einmal wie festgezurrt inne und beobachtet, wie der Knoten des Dramas behäbig geschürzt wird.
Zur Mitexistenz erlöst
André Dussolier spielt die Figur, die das ihm am Tisch gegenübersitzende Ehepaar, dargestellt von Sabine Azéma und Pierre Arditi, auseinandersprengen wird. Kurze Bemerkung in der Klammer: Diese drei Schauspieler, Azéma überdies als Lebensgefährtin des Regisseurs, sind seit Jahrzehnten das Darsteller-Axiom der Resnais-Welt, in fast allen Filmen seit den Achtzigern spielen sie mit. Klammer zu, zurück zu Mélo. Dussolier setzt an zu einem Monolog. Vorne rechts mit dem Rücken zur Kamera sitzen am Tisch Azéma und Arditi; ein Drittel des Bilds ist freigehalten für den im Hintergrund frontal zum Zuschauer sitzenden Dussolier, der am Anfang seines nun beginnenden Monologs immer wieder ganz direkt in die Kamera zu blicken scheint.
Nach gut hundert Sekunden setzt sich die Kamera sehr langsam in Bewegung, fährt nach rechts, hinter dem Rücken von Azéma/Arditi. Nach rund hundertvierzig Sekunden endet die Rechtsbewegung und geht über in eine Vorwärtsbewegung auf Dusollier zu. Nach rund weiteren vierzig Sekunden endet auch sie. Im Bild nun der Kopf und obere Rumpf des Darstellers. Der Hintergrund im Bild links von ihm ist tiefschwarz. Rechts befindet sich, die Sprossen sind im Dunkeln noch erkennbar, ein Blumengitter an der Hauswand. Minuten dauert nun dieser Monolog, fast ganz flächig ins Bild gesetzt als eine Art Gemälde mit Mund- und Kopfbewegungen (und Tonspur). Die Dialogpartner werden zwar noch mit dem Blick adressiert, aus dem Bild bleiben sie, durch keinen Gegenschuss zur Mitexistenz erlöst, bis zum Ende des Monologs (Minuten später) komplett gelöscht.
Auch wenn man sicher Vorläufer findet im Werk, und wenngleich es keine abrupte «Wende» im strengen Sinn gibt – dies ist möglicherweise die Urszene des späten Resnais. Was diese Szene wie Mélo insgesamt und viele der nun folgenden Projekte ausmacht, ist die fast totale Abstraktion der Form beim gleichzeitigen Anschein unaufgeregtester Konventionalität. Oder auch: Die Gleichzeitigkeit von völliger filmischer Konzentration und unverkennbarer Trivialität eines Stoffs. Und das in einem medialen Zwischenraum: Film auf der Bühne, Film als Operette, die Straße als Bühne, theatrale Räume – und in jedem dieser Fälle: Film als Befreiung der Figur, der Handlung, des Dialogs, und eben auch und gerade des filmischen Raums von der Wirklichkeit.Artifiziell waren Alain Resnais’ Filme immer, jeder einzelne von ihnen ein elaborierter Widerspruch gegen jede Art von Realismus, und zwar ganz ausdrücklich noch gegen dessen avancierteste «Nouvelle Vague»-Versionen im Anschluss an André Bazin. Nun aber beginnt sich dieser Widerspruch in geradezu provokativ der Avantgarde abgewandte Stoffe und Stücke zu kleiden. Das vermutlich Einzigartige des Werks von Alain Resnais liegt darin, dass seine Hinwendung zu Boulevard, zu leichten Musen, Gesang einerseits beim breiten Publikum auf Begeisterung stößt (On connaît la chanson, 1997, geschrieben von Agnès Jaoui und Pierre Bacri, ist ein Millionenerfolg), dass diese Wendung aber nicht zu bloßen Retro-Bewegung gerät, sondern dass die Avantgardeimpulse gerade nicht verschwinden – wenngleich die Kritik vielfach mit Verständnislosigkeit und Kopfschütteln reagiert. Das Avantgardistische ist nun in der Tat nicht mehr an der filmischen Oberfläche ausgestellt, wird dafür sozusagen zum Innenfutter dieser aufwendig und mit äußerster Sorgfalt gemachten, hochedlen Konfektionen.
Spätestens dann, wenn für Momente, für einzelne Szenen dieses Innenfutter nach außen geschlagen wird, lässt sich die Experimentierfreude mitten in scheinbarer Konvention nicht mehr übersehen. So gibt es später in Mélo auf einem melodramatischen Höhepunkt eine irrwitzige Kamerabewegung, die nicht den kürzesten, sondern den längsten Weg zwischen zwei Figuren sucht und sich zu einer Expedition über den Boden und die Einrichtungsgegenstände des Zimmers verselbständigt. Etwas anders geartet im wohl konsequentesten und strengsten dieser Spätstücke, Pas sur labouche, mit seinen oft atemberaubend komponierten Figurenkompositionen. Mit schöner Konsequenz inszeniert Resnais den Abgang einer Figur in diesem Film immer wieder als Trickfilm-Fadeout, eine insistente Markierung von Künstlichkeit. Oder in Coeurs (2006), wenn am zentralen Schauplatz, dem Büro, in dem die Hauptfiguren arbeiten, in einer Einstellung plötzlich die Kamera in eine davor und danach niemals eingenommene Perspektive wechselt, dabei mit größter Selbstverständlichkeit die eigentlich im Weg stehende Wand aus dem Bild nimmt (an anderer Stelle fehlt einer Wohnung die Decke) und so die Raumillusion, ohne dies irgendwie zu unterstreichen, mit leichter Hand auflöst. Ausgelutschte Postmoderne-Geste, könnte man denken. Aber das typisch und grandios Resnais-Hafte daran ist eben nicht die Auflösungsbewegung selbst, sondern die Leichthändigkeit, mit der sie vollzogen wird. Er tut es, als könnte er es auch lassen – und führt genau das mit Nonchalance vor.
In Les herbes folles nun kommt es zur vollendeten Synthese von Experimentalismus und Boulevard, von leichthändigen Avantgardegesten und trivialen Versatzstücken. Christian Gailly ist ein Autor, der – viel radikaler noch als der Dramatiker Alan Ayckbourn, von dem die Vorlagen zu Smoking/No Smoking und Coeurs stammen – Trivialmuster experimentell einsetzt. Heraus kommt ein Film, der seine boulevardesken Seiten so wenig verleugnet wie die Vorgänger, dies aber nun, anders als diese, indem er unablässig und fortgesetzt das avantgardistische Innenfutter nach außen schlägt. Deshalb besteht er fast ausschließlich aus Bewegungen, die zugleich radikal experimentell und radikal oberflächlich sind. Und deshalb sind auch die Oberflächen, die Farben, die Texturen des Raums, die Bewegungen der Kamera so wichtig. Wichtig, aber nicht, weil sie lesbar wären, sondern weil sie erratisch sind und ohne tiefere Bedeutung. Bedeutung wird, anders gesagt, nur an der Oberfläche produziert, als Struktur, als Umschlag, als Abweg und Wiederholung. Als unbegründbare Insistenz, als Eigensinn, Idiosynkrasie – in der reinen und souveränen Lust am Spiel.
Nichts, was herkömmlich einen Film zusammenhält, behält in Les herbes folles seine Funktion. Die Handlung irrt, stolpert, purzelt und bricht. Das Ende ist nicht das Ende. Mühelos dringt ein anderer Film in den Film ein, ohne dass man ein Bild von ihm sieht. Die Ton- und die Bildspur sind einander mal ganz nah, dann entfernen sie sich voneinander, dass man denkt, gleich reißt die Verbindung. Der Erzähler und das Erzählen und das Erzählte halten sich, verlieren sich, reiben sich, überholen sich gegenseitig und produzieren so eine Energie, die mit schlichter Handlungslogik nichts mehr zu tun hat. Die Kamera schweift, fliegt: entfesselt, haltlos, zu allem entschlossen, zu keiner Auskunft über ihre Beweggründe bereit. Und am Ende (nach dem Ende nach dem Ende), wenn man längst glaubt, dass einen gar nichts mehr überrascht, folgt als Summe nicht nur dieses freiesten aller Filme, sondern als Summe fast des Kinos von Alain Resnais: das hinreißendste, formvollendetste Non Sequitur, das sich nur denken lässt.