100 Worte
100 Worte: Gibt es einen Film aus den Jahren 2009 bis 2021, der die Situation des Kinos in der Gegenwart verdeutlicht?
Der Ciné-Monteur René Frölke. Das erste Jahr des Erscheinens der cargo fällt zusammen mit meinem Herausfallen aus dem Glauben an das Kino. Vorher war ich ein leidenschaftlicher Gänger gewesen, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus: eine transzendente Sache. Die sich im Milieu der Filmherstellenden konturierende Produktionswirklichkeit machte damit Ende. Nun ging ich Enttäuschter hin, um zu testen, ob mir die gezeigten Filme zu dieser etwas zu sagen hätten. Werke von René Frölke seit damals, als Cutter von MATERIAL (R: Thomas Heise) über FÜHRUNG bis UNAS PREGUNTAS (R: Kristina Konrad), haben in Anerkennung des ruinösen Materialstands des Kinos das Versprechen erneuert. Max Linz
Wie schwer das ist, zurück ins Leben zu gehen. Der junge Mann darf die Suchtklinik verlassen, er gilt als clean. Er versucht sich das Leben zu nehmen: ein Stein, ein einsames Gewässer. Er scheitert. Der 31.08. ist sein erster Tag zurück im Leben. Er sieht seine Familie. Seine Freunde. Er bekommt eine Arbeit. Es gibt eine Party. Ein Mädchen. Eine Sommernacht. Die Welt, die da ihre Türen für ihn aufhält, sie will ihn empfangen. Einmal imaginiert er sich in das Alltagsleben der anderen, eine schöne, fantastische Reise. Alles scheint gut, aber es nützt nichts. Am Ende die Einsamkeit, der Tod. (Oslo, 31. August, Joachim Trier) Christian Petzold
Das Massaker von Odessa, 1941, begangen im deutschen Geist von rumänischen Soldaten an zwanzigtausend jüdischen Frauen, Männern, Kindern. Nichts Selbsterlebtes (also «Authentisches»), keine ergreifende Story, keine identitätsstiftenden Figuren, keine naive Rekonstruktion von Geschichte (wie gerade erst wieder im gehirnverklebenden Babylon Berlin), stattdessen glasklare Distanz, Sichtbarmachung der Widersprüche durch Montage, Verhinderung von Einfühlung zugunsten von Erkenntnis. Wie macht man das Grauen sichtbar? Gibt es Bilder, die nicht sofort zu Klischees erstarren? Bei Heiner Müller lese ich: «Die Folter ist leichter zu lernen als die Beschreibung der Folter.» Wer in diesem schweren Fach etwas lernen will, sollte bei Radu Jude in die Schule gehen. (Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen von Radu Jude). Susanne Röckel
IL TRADITORE Wuchernde wahre Geschichten. Die Fiktion ist die Machete in diesem Dschungel. Sie schlägt Schneisen, damit sich der «Verräter» frei bewegen kann, als könnte man den Wald der falschen Abzweigungen zu einem Garten machen, in dem die Schlange nur eine Frage stellt: «Warum?» Die Regie verbirgt die Anstrengung nicht, die diese Reduktion kostet und nicht immer gelingt es, die Fülle der Tatsachen in Schach zu halten, aber es sind gerade die Narben der Form, die sie beglaubigen. Bellocchio ist Europas letzter Modernist, er fährt im Gefängnis mit dem Fahrrad eine Acht und ich würde ihm nur zu gerne folgen. Christoph Hochhäusler
Das Aufschlussreiche, Beglückende an dem wichtigen HOMELAND: IRAQ YEAR ZERO sind die zarten Einblicke in das Alltagsleben einer irakischen Großfamilie, die sich 2003 auf die US-amerikanische Invasion in einer für Babylon typischen, mit Mauern umfassten Villa vorbereitet. Nur mittels technisch unaufwändiger Aufzeichnungsmöglichkeiten konnte so ein intimes wie episches Werk entstehen. Drehzeit 4 Jahre, Videomaterial 120 Stunden, Schnittzeit 17 Monate. Ein Film außerhalb gängiger Produktionsabläufe, der auf internationalen Festivals sein Publikum fand. Wieviele Kinos können sich leisten einen fünfeinhalbstündigen Dokumentarfilm in ihr Wochenprogramm aufzunehmen? Während des ersten Lockdowns stellte der Filmemacher Abbas Fahdel ihn kostenlos ins Internet. Eine schöne solidarische Geste. Nicolas Wackerbarth
Once upon a Time in Hollywood war der letzte Film, den ich auf einer Kinoleinwand, The Works and Days der letzte Film, den ich auf einer Festivalleinwand sah. Während Tarantino «working at the top of his game» die Puppen tanzen lässt, verbeugen sich Winter/Edström vor ihren Protagonist:innen, den sozialen und naturgegebenen Verhältnissen, reihen sich ein als Teilnehmende. Zwischen den beiden Polen der Rezeption Lean Back (kulinarisch/dramatisch) – Lean Forward (episch/analytisch) bewegt sich Kino. Auch wenn die Welt ohne Verzauberung ärmer wäre, nachhaltige Veränderung kann erst das engagierte (Auf-)Zeigen des und der Alltäglichen (Herzog: ‹Buchhalter-Wahrheit›) bewirken: «Engagement as opposed to entertainment.» (Winter) Rainer Komers