Der Himmel über Gardelegen
Vor ein paar Tagen hatte ich in der Stadt Gardelegen zu tun. Ein Ort zwischen Wolfsburg und Stendal, ehemals Mitglied der Hanse, mit einem schön erhaltenen mittelalterlichen Ortskern und, wie ich las, Schauplatz eines der trostlos brutalsten Verbrechen im Rahmen der Todesmärsche unmittelbar gegen Ende des Zweiten Weltkrieges.
Am Abend des 13. April 1945 – die heranrückende US-Army befand sich schon in Hörweite, hinter der nächsten Hügelkette – war ein seit Tagen in der Gegend herumirrender und dort auf dem Weg nach Bergen-Belsen steckengebliebener Treck ausgemergelter Häftlinge aus den KZs Neuengamme und Mittelbau-Dora auf einem Feld vor den Toren der Stadt in eine gemauerte Scheune getrieben worden. Das darin gelagerte Stroh wurde in Benzin getränkt und mit Fackeln in Brand gesteckt; ein paar Handgranaten hinterhergeworfen, die Tore geschlossen. Auf jede Person, die dem Inferno entkommen wollte, wurde mit Maschinengewehren und Panzerfäusten und was sonst zur Verfügung stand geschossen, bis sich Leichenberge vor dem von innen aufgebrochenen Portal auftürmten. Das Massaker dauerte bis in den frühen Morgen, 1016 Menschen wurden auf diese Weise ermordet, erstickten, verbluteten, verbrannten.
Um die Spuren zu verwischen, begannen die Deutschen (und sogenannte «Funktionshäftlinge») damit, die Toten in ausgehobene Gruben zu werfen. Aber die Amerikaner waren schon zu nahe, die Beteiligten wechselten in ihre Zivilkleidung und machten sich aus dem Staub. Der Hauptverantwortliche lebte bis zu seinem natürlichen Tod 1994 unter falschem Namen unerkannt im Rheinland, ein respektierter Abteilungsleiter der Kölner Messe. Ein in der DDR hochdekorierter angeblicher Überlebender und Widerstandskämpfer, bei jeder Gedenkfeier hochtrabende Reden haltend, stellte sich posthum als einer der Kapos heraus, der mithalf, die anderen in die Scheune zu treiben und auf sie zu schießen.
Ich las davon in der Nacht vor meiner Reise, die Bilder, die ich im Netz fand, gehören zu den grausamsten, die ich in diesen und ähnlichen Zusammenhängen gesehen hatte und sie verfolgten mich tief in meine Träume.
Trotzdem bog ich am nächsten Tag kurz vor Gardelegen auf eine kleine Landstraße ein, die zum Ort des Massakers führte, seit den 1950er Jahren umgestaltet zu einer Gedenkstätte. Ein Teil der vorderen Scheunenwand mit einem Tor war noch erhalten und von innen mit einer Stützmauer abgesichert. Der gemauerte Boden der Scheune: mit Gras überwachsen. Eine naturalistische Bronzeskulptur mit einem heroisch aufgereckten Häftling, die ich zu falsch fand, um ein Bild von ihr machen zu wollen. Nebenan ein riesiges Gräberfeld mit weißen Kreuzen.
Ich machte ein paar Fotos, aber so genau wusste ich nicht, wonach ich auf der Suche war. Ich traf einen freundlichen Mann, der mich in das gerade neu eröffnete, aber wegen Corona noch geschlossene Dokumentationzentrum einließ.
Es war windig, sonnig und kalt, die Jahreszeit war dieselbe wie damals, ähnliche Wolken müssen über den Himmel gezogen sein. Ich wollte irgendetwas spüren oder erkennen, aber es gelang mir nicht. Ich hätte ein paar Blumen mitbringen sollen, aber geholfen hätte auch das nicht.