klimamedien

Vorsommer

Von Werner Krauß

Was weiß die Nordsee von mir? Ich weiß viel von ihr, sie hat mich immer begleitet, aber hört sie mir eigentlich zu? Schließlich habe ich hier entscheidende Etappen meines Berufs-, Liebes- und Urlaubslebens verbracht. Wenn ich am Spülsaum des Wattenmeeres entlang gehe, folgen mir Generationen von Verwandten und Bekannten, die vor mir hier waren, und womöglich auch diejenigen, die nach mir sein werden. Das wechselhafte Wetter, die Winterstürme und das nordische Sommerlicht sind immer dabei, genauso wie der Spruch, dass es kein schlechtes Wetter gibt, sondern nur die falsche Kleidung. Die Friesen waren schon immer da, die Römer, das Reich, die Nation, die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, genauso wie der Deichbau, die Entwässerung, Sturmfluten biblischen Ausmaßes, und außer dem Regen fielen auch die Bomben. Austernmuscheln kamen und gingen, ebenso wie die Verschmutzung durch Ölklumpen und Dünnsäureverklappung. Heute ist es der ansteigende Meeresspiegel, der sich in die Wahrnehmung beim Strandspaziergang und in die besorgte Konversation einschleicht. Die Nordsee macht unberührt davon auf Ebbe und Flut, Priele suchen sich neue Wege, Watvögel und Wattwürmer durchpflügen das flache Küstenshelf, das sich immer noch nicht so recht entscheiden kann, was aus ihm werden soll. Die Wellen umspielen die Zehen, sie breiten sich in großer Geste über die weite Sandfläche aus, züngeln an den Dünen und Deichen und lassen hin und wieder die Muskeln spielen. Sie sind immer da, genauso wie das Wetter. Wir folgen dem Wetter, und das Wetter erzählt uns unsere Geschichten, die ohne es nicht nur unvollständig, sondern gar nicht wären. Die Jahreszeiten sind ein solider Zeitmesser in unseren Breiten. Sie kommen und gehen, immer gleich und jedes Mal anders, wie in den Filmen von Eric Rohmer und jüngst in den Romanen von Ali Smith, die Frühling, Sommer, Herbst und Winter heißen. Bei beiden wird viel geredet, Menschen gehen Beziehungen ein, und sie tun dies eher beiläufig und zufällig, wie ein Landregen oder ein erster Sommermorgen. Nur selten greift das Wetter direkt ein, wie das grüne Leuchten bei Eric Rohmer, meistens ist es einfach da, auf unaufdringliche Weise mit der Handlung verwoben. Eigentlich ist es genauso Handlung und Akteur wie die Menschen, die als bewegte Materie Dinge tun und lassen, Beziehungen eingehen oder nicht, in immer neuen Konstellationen. Manchmal sind sie, Menschen und Wetter, auch noch da, wenn sie schon tot oder vergangen sind. Du folgst immer dem Wetter, sagt der Sohn zum Vater in Big Sky Country, dem Roman von Callan Wink, in Anspielung auf den Inhalt ihrer regelmäßigen Telefonate. Doch das Wetter erzählt auch von den Menschen. In dem Buch Weather Reports You versammelt die Künstlerin Roni Horn Geschichten von Isländern über einschneidende Wetterereignisse und kommt zu dem Schluss, dass die Leute das Wetter sind. Die nordamerikanischen Tinglit glauben, dass Gletscher hören können, wie die Ethnologin Julie Cruikshank berichtet. Man sollte sich deshalb gut überlegen, was man in ihrer Nähe sagt, da sie sehr launisch sind. Natürlich glauben die Tinglit nicht, dass Gletscher Ohren haben. Aber die Gletscher sind nicht einfach da draußen, sondern sie sind eine alles umfassende Präsenz aus Licht, Klang und Gefühl. Sie sind das Krachen des Eises, gleißendes Weiß und weiße Kälte. Sie sind so präsent, dass sie alles durchdringen, auch das Bewusstsein der sie Wahrnehmenden, so dass Gletscher durch die Menschen hören, durch ihren Klang. Die Gletscher, das Meer und das Wetter sind die Atmosphäre, die uns das Leben ermöglicht. Es ist die Statistik der Atmosphäre, das physikalische Klima, vor dem wir uns zur Zeit fürchten. Darüber vergessen wir manchmal, dass wir das Klima sind, das durch uns ist.