modernes ereignis

Tulsa

Als der amerikanische Präsident Joe Biden am 1. Juni in Tulsa eine Rede zur Erinnerung an das rassistische Massaker hielt, bei dem vor 100 Jahren bis zu 300 Menschen getötet wurden, da saßen auch drei Zeugen im Publikum: Viola Fletcher, Hughes Van Ellis und Lessie Benningfield Randle, alle über hundert Jahre alt. Sie waren kleine Kinder gewesen, als sie durch die nächtlichen Ereignisse aufgeschreckt wurden. Über das Gewicht ihrer Erinnerungen wird auch in einem Ausschuss des amerikanischen Abgeordnetenhauses befunden, der über Reparationszahlungen entscheiden soll. Das Tulsa Race Massacre hat seinen geschichtspolitischen Ort erst sehr spät erlangt – und die Popkultur hat dazu maßgeblich beigetragen: sowohl in Watchmen wie in Lovecraft Country kreist die Erzählung um die Ereignisse von 1921. Für eine Erinnerungskultur, die sich in verschiedenen Konstellationen über die Implikationen der Tradierung von Traumata über individuelles Gedächtnis hinaus klar zu werden versucht, können die Tulsa Three mit ihrem hohen Alter auch deswegen bedeutsam sein, weil sie einen wichtigen Aspekt in neueren Debatten über Vergleichbarkeit und Singularität von Menschheitsverbrechen verkörpern. Die Versklavung und ihr Fortleben in den segregationistischen Ordnungen in den Vereinigten Staaten in der Zeit der John Crow-Gesetze hat einen ‹Überlieferungsnachteil›, der mit den Konjunkturen und Kontingenzen von Medientechnik und Medienmacht zu tun hat. Gleichwohl: Dass in unserer Gegenwart noch Menschen leben, die sich persönlich an ein Ereignis aus dem Jahr 1921 erinnern können, führt zu einem heutigen YouTube-Video, das diese Erinnerungen in ihrer fragilen Redeform («Ich höre immer noch die Schreie») für die Epoche einer strombasierten Archivik objektiviert. Historische Topoi wie die von einem langen 19. oder einem kurzen 20. Jahrhundert ordnen sich angesichts des Umstands anders, dass es nicht zuletzt der amerikanische Rassismus und die damit einhergehenden Benachteiligungen selbst waren, die neben vielen anderen Verlusten auch noch dazu geführt haben, dass von den Verbrechen an afroamerikanischen Menschen vergleichsweise wenige und erst spät Zeugnisse überliefert wurden. Die Rede von Joe Biden entwarf mit ihrem alternativhistorischen Strang auch eine Vision, wie sich das amerikanische Leben von Tulsa-Greenwood aus hätte entwickeln können, wäre der Ort im Gegensatz zu den historischen Tatsachen zu einem Beispiel für eine in jeder Hinsicht prosperierende Nachbarschaft geworden. Es wäre dort vielleicht auch Gelegenheit gewesen, die 80-, 90-, 100-Jährigen von 1921 oder 1925 zu dem zu befragen, was sie in ihrem Gedächtnis mit sich trugen. Das spät gewürdigte Zeugnis von Viola Fletcher, Hughes Van Ellis und Lessie Benningfield Randle verweist auch auf all das, was wir aus dem Zeitalter der Versklavung nicht wissen, weil der Geist, aus dem sie kam, ihre gesetzliche Abschaffung weit überdauert.