Die Geschichte von Francine R. Boris Golzio
Wie Boris Golzio an seine Geschichte kam: ein völlig unerwarteter Anruf. Am Telefon: Francine R., die sich als Cousine seiner Großeltern vorstellt und nun, da ihr Mann gestorben ist, Kontakt zu ihrer alten Heimat aufnehmen will. Sie sprechen, sie treffen sich einmal, ein zweites Mal im Museum der Résistance in Lyon. Es vergehen zwei Jahre, sie ist krank, er sucht sie im Krankenhaus auf, mit einem Diktaphon im Gepäck. Sie erzählt aus ihrem Leben, davon, wie sie als Zuträgerin der Résistance 1944 verhaftet wurde, da war sie zweiundzwanzig, wie sie nach Ravensbrück und in andere Konzentrationslager deportiert wurde. Sie erzählt, was ihr widerfuhr, was sie erlitt, wie sie überlebte. Die Tonaufnahmen werden transkribiert und als Oral-History-Zeugnisse Gedenkstätten zur Verfügung gestellt. 2003 stirbt Francine R. Die Graphic Novel, in der Boris Golzio die Geschichte nun in Form eines Comic erzählt, ist im Original 2018 erschienen. Macht mehr als fünfzehn Jahre Latenz.
Golzio hat der Geschichte, die ihn durch biografischen Zufall traf, weil sie ihn nicht mehr losließ, hinterherrecherchiert. Er hat die Lager, die heute Gedenkstätten sind, und Archive besucht, er hat mit Historiker*innen und Zeitzeug*innen gesprochen, er hat Näheres über die Biografien von Menschen, die Francine in den Lagern begegnen, in Erfahrung zu bringen versucht. Und aus alldem hat er eine Comic-Erzählung gemacht. Im Wortlaut bleibt sie, so nahe es nur geht, am mündlichen Bericht, den er im Jahr 2000 auf seinem Diktaphon aufnahm. Nichts ist erfunden, nur manches für die Erzählung leicht gerafft oder umformuliert. Es bleibt dennoch nicht bei der unvermischten Ich-Perspektive.
Was schon daran liegt, dass der Autor nicht über die subjektive bildliche Anschauung und Erinnerung seiner Heldin verfügt. Er muss in den Bildern, in die er sie als Ich-Erzählerin stellt, objektivieren. Darum die Recherche - die Details der Lager, die Details auch der Reichswerke Hermann Göring in Braunschweig, in denen Francine R. als Zwangsarbeiterin tätig war, müssen stimmen. Und weil es auch in den drei Jahren zwischen der Veröffentlichung des Buchs in Frankreich und der in Deutschland neue historische Erkenntnisse gab, hat Golzio manche der Bilder, vor allem aus den Lagern, noch einmal umgearbeitet.
Zu den Erinnerungstexten mit Worten Francines, schwarz auf weiß, treten Texttafeln, weiß auf schwarz, die Informationen liefern, teils die Erinnerung leicht korrigieren (wobei fast alles sich als wahr herausgestellt hat), teils auch Ergebnisse der Recherchen Golzios liefern: etwa zur prägnanten Figur des algerienstämmigen Franzosen Hacène B., dem Francine in den Reichswerken begegnet, von dessen Überleben sie nicht, aber Golzio durch seine Nachforschung erfuhr. Die Bilder selbst sind einerseits in den Details (der Gebäude, Räume, auch der Maschinen) ausgesprochen genau, der Comic ermöglicht aber Formen der Darstellung, die über den Anspruch des Fotorealismus hinausgehen.
So sieht man zum Beispiel in sehr vielen Szenen Gewaltakte (Prügel, Demütigungen), die Francine R.s Originalton nicht erwähnt: Golzio rückt die allgegenwärtige Verrohung zugleich konkret und verallgemeinernd ins Bild. Zwei Grundsatzentscheidungen der Form gehen in eine ähnliche Richtung: Zum einen ist der Comic durchweg in einem sepianahen, aber graueren Braunton gehalten, der Autor identifiziert ihn in einem Interview als Bister, so heißt eine Tinte, die klassischerweise durch Eindampfen von verbranntem Holz hergestellt wurde. Erst ganz zum Schluss, nach der Befreiung, gibt es Primärfarbentupfer im Bild.
Das andere sind die Figuren: Sie sind menschlich, vor allem aber die Gesichter sind leicht kubistisch verrutscht, die Augen meist Punkte (oder gar nicht vorhanden), die Münder ein Strich (oder nichts), die Nasen ragen auch in Frontalansicht seltsam zur Seite. Die sich immer wieder einstellende Assoziation zu Art Spiegelmans Mäusen ist sicher kein Zufall. Bewundernswert ist, wie Golzio einen Kreuzungspunkt von Genauigkeit und Abstraktion, von Subjektivität und Objektivität trifft, der einen ans Grauen nahe heranrückt, ohne den Abstand, in Zeit und Form und Erfahrung und Vorstellungsmöglichkeit, jemals zu leugnen.
Boris Golzio: Die Geschichte von Francine R. Widerstand und Deportation (Avant-Verlag 2021)