Inszenierungen globaler Rechenschaft Zu Sylvie Lindepergs monumentaler Mikrohistorie der filmischen mise-en-scéne des Nürnberger Prozesses
Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008 gab die Wochenzeitschrift The Economist, das Hauptorgan des globalen Wirtschaftsliberalismus, eine emphatische Wahlempfehlung für Barack Obama ab. Nur eine Wahl Obamas könne gewährleisten, dass das Gefangenenlager von Guantánamo an der Ostspitze Kubas rasch geschlossen werde. Das Lager, in dem die «enemy combattants» des «War on Terror» jenseits der Rechtsräume des amerikanischen Justizsystems und des Völkerstrafrechts sowie seiner internationalen Gerichtsbarkeiten festgehalten wurden, stelle nicht nur einen Schandfleck der amerikanischen Geschichte dar, sondern eine Gefahr für die Legitimität des internationalen Rechtssystems. Der Fortbestand des Lagers unterminiere den Führungsanspruch der liberalen Demokratie.
Zwölf Jahre später ging Obamas Vizepräsident Joe Biden unter anderem mit dem Versprechen in den Wahlkampf, Guantánamo zu schließen. Biden gewann, aber Guantánamo war dabei kein Thema mehr. 2022 wird das Lager in dieser Funktion seit 20 Jahren bestehen. Dass es auch noch sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum erleben wird, ist absehbar, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es bis zum Ableben aller verbliebenen vierzig Insassen weitergeführt wird. Zu hoch ist offenbar der innenpolitische Preis einer Abwicklung des Lagers und der Überführung der Insassen ins nationale oder internationale Rechtssystem.
Als mediale Institution und Medienproduktionsort beschreibt die Filmwissenschaftlerin Rebecca Boguska Guantánamo in ihrer demnächst erscheinenden Frankfurter Dissertation, in der sie anhand der veröffentlichten Fotografien und Filme und der Regularien ihrer Produktion minutiös rekonstruiert, wie das amerikanische Militär und die zuständigen Regierungsstellen die Sichtbarkeit des Lagers und seiner Insassen zu kontrollieren und die Bedeutungspotentiale der Bilder einzuhegen versuchen.
Was eine solche Lesart verdeutlicht, ist nicht zuletzt, wie sehr sich Guantánamo als Gegenstück zu einer anderen, ebenfalls von US-amerikanischer Seite verantworteten medialen Inszenierung von Justiz im internationalen Staatensystem verstehen lässt – zum Nürnberger Prozess von 1945–1946. Besonders augenfällig werden dieser Zusammenhang und der Kontrast bei der Lektüre von Sylvie Lindepergs neuem Buch Nuremberg. La Bataille des Images, einer detaillierten Aufarbeitung der medialen Produktionsgeschichte des Nürnberger Prozesses, die rechts- und politik-historische Zugänge in gewisser Weise auf eine neue Grundlage stellt.
Sylvie Lindeperg ist von Haus aus Historikerin und entwickelt mit ihren Arbeiten eine Forschungslinie fort, die in Frankreich etwa von Michèle Lagny und Marc Ferro begründet wurde. Es ist eine Film- und Medienhistoriografie, die den Film nicht nur als transparente Daten-Quelle für die Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte betrachtet, sondern Geschichte als Formgeschichte von Medien schreibt. Lindepergs Arbeiten bewegen sich an einer Schnittstelle zwischen Geschichts- und Filmwissenschaft, an der sie auf die historische Literatur ebenso kenntnissicher zugreift wie auf die filmhistorische und filmtheoretische – eine Schnittstelle, die es so in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft – in der auch vielfach rezensierte historiografische Werke folgenlos über Film berichten können, als gäbe es keinen Forschungsstand – nicht gibt.
Zu Lindepergs Kennzeichen zählen ihre historisch fundierten, feinnervigen Analysen von Filmen, Filmfragmenten und einzelnen Bildern, die immer auch mit Blick auf das vorgetragen werden, was jenseits des Bildrahmens passiert. La Voie des Images von 2013 etwa besteht aus vier Analysen von Filmaufnahmen im Zusammenhang mit Deportationen aus dem Frühjahr 1944 – entstanden im Vercors, in Paris, im Lager Theresienstadt und im niederländischen Transitlager Westerbork –, auf denen immer mehr zu sehen ist und aus denen sich mehr Rückschlüsse auf die Produktionsumstände ziehen lassen, als das die jeweiligen Auftraggeber im Sinn hatten. Die Virulenz filmischer Archive beschäftigt Lindeperg auch unter ethischen und legalen Gesichtspunkten. So hat sie jüngst gemeinsam mit Ania Szczepanska ein Kompendium zu den Konsequenzen der Digitalisierung für die historische und filmwissenschaftliche Forschung herausgebracht, das demnächst auch auf Englisch erscheinen wird.
Sylvie Lindepergs in Deutschland bekanntes Buch ist Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte, das in deutscher Übersetzung 2010 erschienen ist. Schon an diesem Buch lassen sich die Grundzüge von Lindepergs Methode verfolgen, die auch in der neuen Studie über den Nürnberger Prozess zur Anwendung kommt. Lindeperg schreibt Bücher nicht nur über fertige Filme, sondern auch über mögliche, und über die Gründe, weshalb sie nicht zustande gekommen sind. Sie erweitert unsere Kenntnis der fertigen Filme um die der Alternativen, die auf dem Weg zur letzten Fassung verworfen wurden. Es sind Mikrohistorien von Entscheidungsverläufen, die detailliert aufzeigen, wie künstlerische Prozesse von politischen und institutionellen Logiken überformt und geprägt werden, aber auch, wie Überlegungen zu medialen Formen auf politische Abläufe zurückwirken. Es sind Filmgeschichten, die nicht erzählen, wie es gewesen ist, sondern wie es auch hätte sein können, und warum es dann doch so geworden ist, wie es am Ende war. Sylvie Lindepergs Bücher schreiben Geschichte als Film- und Mediengeschichte in the making, als immer noch ergebnisoffener Prozess, als Möglichkeitsraum, dem wir als Leserinnen und Leser beiwohnen.
In dem Buch über Nacht und Nebel geht es um die Erinnerungspolitik des Holocaust in Frankreich und Deutschland: Initiiert als Gedenkprojekt von deportierten résistants, Widerstandskämpfern gegen die Nazi-Besatzung Frankreichs, wurde der Film bei seiner Erstaufführung in Cannes zum Anlass eines diplomatischen Zwischenfalls zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, um danach in zwei verschiedenen Fassungen in Ost- und Westdeutschland zu zirkulieren, derweil er in Frankreich zu einem medialen Mahnmal gegen den Revisionismus von Holocaust-Leugnern wie dem Neonazi und Literaturwissenschaftler Robert Faurisson wurde. Zugleich aber ist das Buch, das geduldig Schicht um Schicht der Produktions- und Fassungsgeschichte freilegt, auch eine Tiefenbohrung im filmischen Kanon, gehört der Film von Alain Resnais mit dem Kommentar von Jean Cayrol und der Musik von Hanns Eisler doch zu jenem Inventar der Filmkunst, deren Pflege und Untersuchung sich die französische Filmwissenschaft zu einem guten Teil verschrieben hat.
Medien der Rechtsprechung
Ein cinéphiler Impuls ist es auch, von dem Sylvie Lindepergs Buch zum Nürnberger Prozess ausgeht. In cinéphilen Kreisen in Frankreich hielt sich lange hartnäckig das Gerücht, dass für die Filmarbeiten im Nürnberger Gerichtssaal 600, in dem von November 1945 bis 1946 die noch lebenden Spitzen des Nazi-Regimes zur Rechenschaft gezogen wurden, John Ford verantwortlich gewesen sei. Das zu verifizieren oder zu widerlegen ist eines der Ziele, das Lindeperg mit ihrer Recherche erreichen will.
Die Frage der medialen Form des Rechts und der Rechtsprechung über die Kriegsverbrechen der Nazis und den Genozid an den europäischen Juden steht in dem neuen Buch im Zentrum. Sie beschäftigt Lindeperg indes schon länger. Tatsächlich weist ihre Arbeit vielfältige Bezüge und Parallelen zu den Untersuchungen von Cornelia Vismann (cargo 11) oder Thomas Vesting zu den Medien des Rechts auf. Dass Recht nicht einfach in einem Reich der Normen stattfindet, sondern immer auch von den Medien der Rechtsprechung und Rechtspflege her gedacht werden muss, ist eine Annahme, die Lindeperg mit Vismann und Vesting teilt.
2015 hat sie gemeinsam mit der Historikerin Annette Wieviorka, einer Spezialistin für die Geschichte der Shoah, einen umfangreichen Band zum Eichmann-Prozess herausgegeben. Die Beiträge behandeln den Prozess als eines der ersten globalen Medienereignisse und zeigen auf, wie die mediale Rahmung des Prozesses durch ein amerikanisches Fernsehteam dazu beitrug, die Shoah in den Fokus der Erinnerung an die genozidalen Politiken der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu stellen.
Auch in diesem Buch weist Lindeperg schon zurück auf den ersten Nürnberger Prozess. Dieser war Vorläufer und in gewisser Hinsicht auch Vorbild des Eichmann-Prozesses, unterschied sich von diesem aber zugleich in einer wichtigen Hinsicht. Wie Lindeperg nun in ihrem gerade in Frankreich erschienenen Buch herausarbeitet, war der Nürnberger Prozess minutiös als Medienereignis geplant – wurde es aber nur bedingt. Der Eichmann-Prozess hingegen avancierte durch die ursprünglich in dieser Form nicht vorgesehene Aufzeichnung und Ausstrahlung fast beiläufig zu jenem Medienereignis, welches das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft veränderte und zugleich dem kollektiven Gedächtnis des Holocaust eine neue Form gab. Als «halben Fehlschlag» charakterisiert Lindeperg den amerikanischen Plan, den Nürnberger Prozess zum Medienereignis zu machen, im letzten Satz ihres Buchs, und hält zugleich fest, dass er auch ein Versprechen enthielt, als «Utopie eines Projekts, das eine Vielzahl von Möglichkeiten zu eröffnen schien, bevor es am Widerstand der Realität zerbrach.»
John Ford, die Schulberg-Brüder und George Stevens
Wie aber sah dieses halb gescheiterte Projekt aus, und woran genau scheiterte es? Und welche Rolle spielte dabei John Ford?
Diese Fragen beantwortet Lindeperg mit einer Produktionsgeschichte, in der unterschiedliche Konzeptionen von Recht, Öffentlichkeit, Medien und Film aufeinander treffen und in Konflikt geraten. Zu dieser Geschichte gehört John Ford in der Tat, aber nur zu Beginn und nur am Rande. Die Hauptrollen spielen vielmehr zwei andere: in der Vorbereitung des Prozesses der Jurist William J. Donovan, ein hoch dekorierter Veteran des ersten Weltkriegs, der ab 1942 im Auftrag von Präsident Roosevelt das Office of Strategic Services (OSS) aufbaute, den Vorläufer des CIA, für den unter anderem der Philosoph Herbert Marcuse arbeitete; und über den gesamten Prozessverlauf Robert H. Jackson, ein ehemaliger Justizminister und Richter am Supreme Court, der als Chefankläger in Nürnberg auch die Prozessvorbereitung leitete und über das Format entschied (weitgehend auch über die Modalitäten der Durchführung). Weitere Hauptrollen kommen zwei Figuren zu, die aus der Filmgeschichte bekannt sind: der Schriftsteller und Drehbuchautor Budd Schulberg, der einer Produzentenfamilie entstammte, und seinem jüngeren Bruder Stuart Schulberg, ebenfalls Drehbuchautor und Produzent.
Budd Schulberg hatte 1941 seinen Roman What Makes Sammy Run veröffentlicht, eine Satire über den Aufsteiger Sammy Glick, der es in Hollywood zu Ruhm und Ansehen bringt und zugleich die Abgründe des Systems verkörpert. Mit dem Roman hatte sich Schulberg zumindest vorübergehend zur persona non grata in Hollywood gemacht, und so kam es ihm ganz gelegen, dass er sich dem Field Photographic Branch des OSS anschließen konnte, der immerhin noch bis Kriegsende unter der Leitung von John Ford stand.
Besorgt über die technische Qualität der Filmpropaganda der Nazis hatte sich Ford schon 1939 zusammen mit einem Team von Filmtechnikern in den Dienst der US-Armee gestellt und wurde 1942 mit dieser Gruppe von Donovan in den OSS integriert. Mit Filmen über den Krieg im Pazifik, unter anderem The Battle of Midway (1942), gewann Ford in den Kriegsjahren zwei Oscars.
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie koordinierten sich Ford und der OSS mit dem Army Pictorial Service, der Filmeinheit der Armee unter Leitung von George Stevens, für die Regiegrößen wie Frank Capra, William Wyler, George Cukor und Anatole Litvak arbeiteten. Das Verhältnis der beiden Einheiten ist «alles andere als idyllisch», wie Lindeperg schreibt, und ihre Wege sollten sich schließlich auch in Nürnberg wieder kreuzen.
Während Stevens und seine Einheit die Öffnung der Konzentrationslager in Dachau, Mauthausen und Buchenwald dokumentieren, verfolgt Budd Schulberg für Field Photo einen anderen Auftrag. Die Amerikaner legen sich in Absprache mit ihren Alliierten frühzeitig darauf fest, dass die Spitzen des Naziregimes, soweit sie sich dem Zugriff der Siegermächte nicht durch Selbstmord (wie Hitler und Goebbels) oder Flucht (wie Bormann) entzogen, nicht summarisch hingerichtet, sondern vor Gericht gestellt werden sollen. Ziel war eine internationale Gerichtsbarkeit neuer Art, die auch Regierungen und Staatsoberhäupter zur Rechenschaft zieht. Seine Zuständigkeit gründet dieser neuartige Gerichtshof auf Verträge von 1928, die den Angriffskrieg völkerrechtlich ächten. In Abstimmung mit den Alliierten Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion formulieren die Amerikaner vier Anklagepunkte: Verschwörung, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden. Strittig ist vor allem der erste Punkt, weil es den Straftatbestand der «conspiracy» nur im Common Law gibt, wie es in Großbritannien und den USA praktiziert wird. Aber die Amerikaner haben das Heft in der Hand, und Robert Jackson setzt sich ein erstes Mal durch.
Der Film spielt in dieser Phase der Prozessvorbereitung eine zentrale Rolle – und zwar als designiertes Beweismittel. Noch ist die Aktenlage dürftig, weil die Papierarchive des Nazi-Regimes noch nicht in die Hände der Alliierten gefallen sind und die Anklage davon ausgeht, dass die Beweisführung sich vor allem auf Filmaufnahmen aus Nazi-Propaganda-Filmen, aus den Filmarchiven des Regimes und auf die Dokumentationen der Alliierten wird stützen müssen. Hier kommt nun Budd Schulberg mit seiner Equipe ins Spiel. Sein Auftrag ist es, im Zuge des Vorrückens der Alliierten Filmmaterial zu sammeln, um dieses dann zu Kompilationen mit Beweischarakter zusammenzustellen.
In einigen Fällen kommt er zu spät. So verbrennen die Nazis einen guten Teil ihrer in Bergwerken gelagerten Filmarchive aus Kriegszusammenhängen, bevor die vorrückenden Truppen eintreffen. Was diese enthielten, ist nicht mehr zu eruieren, aber es ist gut möglich, dass sie die Diskussionen zwischen Lanzmann und Spielberg (und später zwischen Lanzmann und Didi-Huberman) über den Status – und das Fehlen – von Bildern der Gaskammern erübrigt hätten, weil sie solche Bilder enthielten.
In anderen Fällen aber wird Schulberg fündig, vor allem in Berlin. Unter Einbezug des Materials von Stevens Einheit aus den befreiten Konzentrationslagern und von Aufnahmen der Sowjets von Nazi-Gräueltaten in Russland und Osteuropa stellt Field Photo schließlich zwei Filme zusammen: The Nazi Concentration Camps, der die Anklagepunkte der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beweisen, und The Nazi Plan, der den Tatbestand der Verschwörung belegen soll.
Schrift gegen Bild
Minutiös rekonstruiert Lindeperg, wie der Gerichtssaal 600 im Nürnberger Justizgebäude – das unter anderem deshalb als Schauplatz des Prozesses ausgewählt wurde, weil es in den Bombardierungen der Parteitagsstadt verschont geblieben war – zugleich zur Bühne und zum Kino umgebaut wird. An der Stirnseite wird eine große Leinwand angebracht. Die Angeklagten sitzen vorne links, und die Richter ihnen gegenüber vorne rechts. Die vier Anklageteams sitzen an langen Tischen, die auf die Leinwand ausgerichtet sind, und das Podium der Anklage steht vor den Tischen rechts mit Blick auf die Leinwand. Im hinteren Teil des Raums stehen Plätze für die Presse und ausgewählte Gäste zur Verfügung. Unter der Leinwand hinten links sitzen die Übersetzer, denn Nürnberg ist nicht nur der Geburtsort der internationalen Strafgerichtsbarkeit, sondern auch der Simultanübersetzung.
Dabei kommen erstmals Übersetzungsmaschinen zum Einsatz, die IBM entwickelt hat und gratis zur Verfügung stellt. Einerseits in der Hoffnung, sie danach an die Vereinten Nationen verkaufen zu können – was gelingt –, und andererseits, um von der intensiven Kollaboration der amerikanischen Firma mit den Nazis abzulenken.
Dieses räumliche Dispositiv, das Kino, Theater und Gerichtssaal miteinander verschränkt, wird um eine Beleuchtung ergänzt, die es zulässt, zu jeder Tageszeit Filmaufnahmen zu machen. An vier Stellen im Raum gibt es zudem diskret angebrachte Boxen für Tonfilm-Kameras, von denen aus das Prozessgeschehen gefilmt werden kann.
Dieses Dispositiv will William Donovan nutzen für einen Prozess in filmischer Form: Nicht nur soll die Beweisführung sich auf Filmprojektionen abstützen, der Prozess soll möglichst vollständig aufgezeichnet und die Vorgänge laufend einem breiten Publikum kommuniziert werden: der Kriegsverbrecherprozess als pädagogisches Medienereignis mit globaler Reichweite. Zuständig dafür soll Field Photo sein, die Filmeinheit des OSS. Doch dazu kommt es nicht, aus Gründen, die Lindeperg auf der Grundlage ihrer Archivarbeit im Detail verhandelt.
Zum einen wird Donovan die Zuständigkeit für den Prozess entzogen, und der OSS wird aufgelöst und in die CIA überführt. Donovan hatte sich mit seinem unsteten Lebenswandel und dem teilweise anarchischen, die Protokolle von Militär und Justiz großzügig missachtenden Arbeitsstil des OSS viele Feinde geschaffen, darunter namentlich Edgar J. Hoover, den Chef des FBI.
Ferner werden die Alliierten der Textarchive des Nazi-Regimes habhaft. Robert Jackson beschließt, die ganze Anklage auf diese Dokumente aufzubauen und den Filmen nur noch ein nachrangige Rolle in der Beweisführung beizumessen: Schrift setzt sich gegen Bild durch.
Und schließlich kommt es unter den Alliierten zum Streit über die Frage, ob überhaupt im Gerichtssaal gefilmt und fotografiert werden darf. In Frankreich ist es zugelassen, und in der Sowjetunion werden politische Prozesse seit den 1930er Jahren von vornherein für die Filmkamera inszeniert.
Der Schauprozess-Film ist ein eigenständiges, wenn auch von der Filmgeschichtsschreibung wenig gewürdigtes Genre der sowjetischen Filmproduktion der 1930er und 1940er Jahre. Die Sowjetunion hat mit Roman Karmen einen Spezialisten dieser Gattung nach Nürnberg entsandt, dessen Auftrag darin besteht, die sowjetischen Ankläger in ein heroisches Licht zu rücken und den Nazis die Rolle zuzuweisen, die in den stalinistischen Schauprozessen den Angeklagten zukam – natürlich mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Verbrechen der Nazis nicht bloß imaginiert waren. In Großbritannien hingegen sind Fotografien und Filmaufnahmen im Gerichtssaal seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts (und einigen Skandalprozessen) gänzlich verboten, und auch wenn mit William J. Donovan ein Amerikaner die treibende Kraft hinter der filmischen Formatierung des Prozesses war, so ist die amerikanische Haltung seit den medialen Exzessen im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den mutmaßlichen Entführer der Tochter des Flugpioniers Charles Lindbergh im Jahr 1932 zumindest ambivalent.
Halbes Scheitern, Prozessfilmarbeiten
Zudem sorgen sich die Briten (und teilweise auch die Amerikaner), dass die Angeklagten ihre Auftritte vor laufenden Kameras nutzen könnten, um ihre Anhänger gegen den Prozess und die Siegermächte aufzubringen. Vor allem bei Göring haben sie Bedenken, die sich im Laufe des Prozesses durchaus als berechtigt erweisen sollten: Nachdem sein Eröffnungsplädoyer von allen Seiten gelobt, ja als epochale Rede eingestuft wurde, verliert Robert Jackson als Chefankläger angesichts der Süffisanz der Nummer zwei des Nazi-Regimes die Fassung, und Göring steht, zumindest vorübergehend, als Triumphator da.
Was aber die Filmarbeit angeht, ringt Robert Jackson dem vorsitzenden Richter, dem britischen Lord Justice Geoffrey Lawrence, vor Prozessbeginn einen Kompromiss ab. Die Filmaufnahmen werden vom Signal Corps der Armee übernommen und zeitlich stark limitiert, dafür wird eine vollständige Tonaufzeichnung erstellt, und es darf zu bestimmten Zeiten und in Schlüsselmomenten fotografiert werden.
In dieser Beschneidung der Rolle des Films, der «Schlacht der Bilder», sieht Lindeperg den «demi-échec» des Prozesses begründet, sein halbes Scheitern. Zwar werden die Schlüsselmomente des Prozesses aufgezeichnet, aber mit eingeschränkten Mitteln und teilweise aus ungünstigen Blickwinkeln. So fehlt es am Ende des Prozesses an dem Material, das erforderlich gewesen wäre, um Kompilationsfilme zu produzieren, die den angedachten pädagogischen Zweck hätten erfüllen können.
Ohnehin gelingt es den Alliierten nicht, sich auf den angestrebten gemeinsamen Film zur Dokumentation des Prozesses zu einigen. Die Sowjetunion lässt den zwischendurch mehr oder wenige in Ungnade gefallenen Roman Karmen seinen Prozessfilm fertig drehen und schneiden, und in den Kinos der Sowjetunion ist so eine Fassung des Prozesses zu sehen, in der die sowjetische Anklage federführend ist und die angeklagten Nazis mit filmischen Mitteln in ihrer Statur angemessen zurückgestutzt werden.
Den Kompilationsfilm auf amerikanischer Seite realisiert schließlich Budd Schulbergs Bruder Stuart, der aus der Filmeinheit des OSS übernommen wurde. Aus den Beweisfilmen und den Aufnahmen aus dem Gerichtsaal montierte Schulberg einen siebzigminütigen Kompilationsfilm, der die vier Anklagepunkte mit Archivmaterial und Aufnahmen aus dem Gerichtssaal illustrierte und den Prozessverlauf dokumentierte. Im Kino wurde der Film allerdings kaum gezeigt. Die Armee gab nur eine Fassung fürs Fernsehen frei (die derzeit im Übrigen bei Amazon Prime zu sehen ist).
Das lag weniger an der enttäuschenden Qualität des Materials aus dem Gerichtssaal als an der veränderten geopolitischen Situation. Mitten im Prozess hielt Churchill jene Rede, in der er die Metapher des «eisernen Vorhangs» ins politische Vokabular einführte, und bei Urteilsverkündung dominierte schon die Logik des Kalten Krieges: Die Westdeutschen waren nun wichtige Alliierte der Amerikaner, und an die Kriegsverbrechen und die Verstrickung der deutschen Zivilbevölkerung sollten weder das amerikanische Kinopublikum noch die Deutschen zu sehr erinnert werden.
Sylvie Lindepergs Nuremberg. La Bataille des Image ist ein großes Buch: Ertrag einer beeindruckenden Recherche, luzide und urteilssicher geschrieben und ungeachtet der Materialfülle und des ernsten Themas ein page turner, ein Geschichtswerk, das bei allem Anspruch Lesegenuss bereitet, ja unterhält (unter anderem mit Schilderungen der geschmacklosen Architektur des Schlosses Faber-Castell, einer von den Amerikanern requirierten Fabrikantenvilla, in der die Presse untergebracht war, oder mit Seitenblicken auf die amourösen Verstrickungen der Prozessberichterstatterin Erika Mann). Und eben auch ein kühnes Buch. Wenn Lindeperg am Ende von der «Utopie des Projekts» eines filmisch formatierten Prozesses schreibt, dann auch deshalb, weil ihr William J. Donovans Vertrauen in eine aufklärende, ja Gerechtigkeit stiftende Kraft des Films nicht völlig fremd ist. Jedenfalls gelten ihre Sympathien, so weit sich das aus ihrer ökonomisch-kontrollierten, aber an manchen Stellen doch auch leidenschaftlichen Prosa schließen lässt, eher dem irisch-amerikanischen Verächter des bürokratischen Protokolls und etwas weniger dem rhetorisch brillanten, aber vor der Kamera spröden Juristen Jackson.
Die Cinephilie lässt sich, wie viele Formen der Liebe, als systematische Überschätzung ihres Objekts lesen. Aber sie ist zugleich auch ein produktives Begehren, eines, das seinen Gegenstand auf den Raum seiner Möglichkeiten hin erschließt. Und so bedeutet Sylvie Lindeperg zu lesen nicht nur, Geschichte als Filmgeschichte zu lesen, sondern eben immer auch, um es mit einem Wort von Musil zu sagen, Geschichte mit Möglichkeitssinn zu lesen.
Dazu gehört, dass eine Welt vorstellbar bleibt, in der auch der globale Hegemon sich an die Regeln der Rechtsordnung hält, die er in Nürnberg zu etablieren hoffte. Noch immer erklären die USA den internationalen Gerichtshof in Den Haag für amerikanische Bürger für unzuständig, und noch immer reißen sie selbst eine Lücke in diese Ordnung, Guantánamo.
Sylvie Lindeperg: Nuremberg. La Bataille des Images (Payot, 2021) | Sylvie Lindeperg, Ania Szczepanska: Who Owns the Images? (meson press 2021 – open access) | Sylvie Lindeperg, Anne Wieviorka (Hg.): Le Moment Eichmann (Albin Michel 2016) | Sylvie Lindeperg: La Voie des Images. Quatre histoires de tournages au printemps-été 1944 (Verdier 2013)