Beide Augen schließen sich Nach #metoo: Wie sich mein Blick aufs Kino verschoben hat
In den wenigen Wochen, in denen man im Sommer 2020 in Berlin ins Kino gehen konnte, sah ich das Spielfilmdebüt von Michael Mann, Thief, aus dem Jahr 1981. Ich war mit einer Freundin unterwegs, und die Freude war groß, als wir im Foyer des Arsenals auf Bekannte trafen. Wie sehr wir diese zufälligen Begegnungen und die Gespräche über Filme vermissten! Dementsprechend gut gelaunt ließen meine Begleiterin und ich uns vom Geschehen auf der Leinwand in den Bann schlagen: Großartig, wie Michael Mann Dunkelheit, Regen und das Licht einzelner Scheinwerfer oder Laternen kombiniert, wie er Stoßstangen, ein Tresorschloss oder Metallspäne im Close-up aufblitzen und den Soundtrack von Tangerine Dream pulsieren lässt. Kein Wunder, dass sich Nicolas Winding Refn, als er Drive drehte, bei Thief bediente.
Die Faszination dauerte an, bis der Protagonist, der Dieb Frank (James Caan), in einer Szene mit einer jungen Frau verabredet ist. Er kommt viel zu spät, sie will ihn nicht sehen und geht aus der Bar nach draußen, er folgt ihr, hält sie fest, zwingt sie, sich ins Auto zu setzen, sie entkommt, er holt sie ein, ob er sie ohrfeigt, habe ich vergessen, wieder nimmt er sie in den Klammergriff, zwingt sie noch einmal, Platz zu nehmen, diesmal bleibt sie im Auto, sie fahren zu einem Diner, sie ist noch immer widerwillig, nennt ihn «Arschloch», im weiteren Verlauf der Szene gibt sie den Widerstand auf und lässt sich auf seine Avancen ein, obwohl er zuvor keine Gelegenheit auslässt, sie mies zu behandeln.
Die Begeisterung ist schockgefroren. Ich versuche es noch eine Weile mit der These, Michael Mann viviseziere das Verhalten des Protagonisten, indem er dessen Chauvinismus überzeichne. Doch dazu ist das Verhältnis des Films zur Hauptfigur zu anschmiegsam, hat die weibliche Figur zu wenig Spielraum, ist sie zu sehr als Wunscherfüllung konzipiert: Egal, was der Held mit ihr anstellt und wie schlecht er sie behandelt, sie wird ihm Bewunderung und Liebe schenken. Als wir das Kino verlassen, stimmen meine Begleiterin und ich in die Begeisterung unserer Bekannten nicht ein, und ich frage mich, wie ich auf Thief reagiert hätte, hätte ich den Film 15 Jahre früher gesehen. Vermutlich wohlwollender. Blind für den Chauvinismus und die Objektivierung wäre ich nicht gewesen, beides hätte mich gestört, doch auch der Genuss an der Kombination von Stahl, Licht, Spänen, Regen, Nacht und dem Pulsieren der Musik hätte Geltung beansprucht. Mein Schauwerte liebendes Auge hätte sich mit meinem feministischen Auge heftiger gestritten. 2020 schließen sich beide Augen in einer Mischung aus Ennui und Ungeduld.
Es ist zu viel passiert, als dass ich die Misogynie abspalten und das ästhetische Raffinement feiern oder mich mit der These von der hochgradigen Fiktionalität des Genre-Kinos trösten wollte. #metoo hat eine Desillusionierung besiegelt, die daraus resultiert, dass es die meisten Ausprägungen des Kinos mit Frauen nicht besonders gut meinen und feministische Cinephile oder cinephile Feministinnen dadurch in eine Zwickmühle geraten. Zwar spürte und artikulierte ich diese Zweifel schon vor #metoo, doch einen Resonanzraum fanden sie eher in Nischen, in den Texten in der taz, in Gesprächen mit Kolleginnen. Schon im Gespräch mit Kollegen bemerkte ich Grenzen. Ob es die Wettbewerbe der A-Festivals, die Bestenlisten, die Kanonisierungen oder die Budgethöhen waren: Wohin ich schaute, ich hatte nicht den Eindruck, dass sich an überkommenen Asymmetrien im Filmbetrieb wirklich etwas änderte, sei es auf der Leinwand, am Filmset oder in der Rezeption. Wo immer ich mich aufhielt, um das Schaffen von Regisseur*innen kennenzulernen oder mein Wissen darüber zu vertiefen, traf ich auf Filmkritikerinnen, Festivalarbeiterinnen und Filmemacherinnen. Die Kollegen hatten andere Termine. Ein Beispiel, das mir als besonders frappierend in Erinnerung geblieben ist, ist die Initiative Women in Motion, die 2015 in Cannes lanciert wurde. In der Suite eines Hotels an der Croisette sprachen Regisseurinnen über ihre Laufbahn, ihre Arbeit, ihre ästhetischen Entscheidungen und über die Hindernisse, die sie überwinden mussten. Im Publikum saßen vor allem Frauen, nachdem der Sponsor, ein Kosmetikproduzent, ihnen am Einlass Haarpflegeprodukte überreicht hatte. Selbst Agnès Varda, die in jenem Jahr eine Goldene Palme für ihr Lebenswerk erhielt und deren Le bonheur (1965), lebten wir in einer gerechten Welt, ein Spitzenplatz in jedem Nouvelle Vague-Kanon gebührte, selbst Agnès Varda wurde in die Suite mit ihren circa 40 Sitzplätzen abgeschoben, statt in der großen Salle Débussy eine Masterclass zu geben. In der taz notierte ich damals: «Wäre es nicht mal an der Zeit für ein Selbstreflexionsprogramm namens ‹Men in Motion›, in dem Regisseure sich damit auseinandersetzen, warum sie so oft unter sich bleiben? Zeit für Workshops zum Thema Privilegien, wie man sie abbauen kann und was man gewinnt, wenn man das tut?»
Die Ernüchterung speist sich aus der anhaltenden Marginalisierung von Filmemacherinnen ebenso wie aus dem Fortdauern stereotyper Plotkonstellationen, aus der Abwesenheit komplexer und widersprüchlicher weiblicher Figuren und aus der kaum veränderten Organisation des ästhetischen Genusses. Laura Mulveys Theorie vom male gaze, dem sich das Kino darbietet, ist Jahrzehnte alt; sie wurde in der Zwischenzeit von anderen Theorien aufgegriffen, transformiert, erweitert, verfeinert, in Frage gestellt und de-essenzialisiert. Aus dem akademischen Diskurs über Filme ist sie nicht wegzudenken, aus dem Œuvre Céline Sciammas, Constanze Ruhms oder Tatjana Turanskyjs auch nicht. Aber wurde sie wirklich breit rezipiert, auf eine Weise, die Folgen gehabt hätte? Haben die imaginären Räume, die das Kino öffnet, jemals den male gaze hinter sich gelassen? Girish Shambu, Autor eines Manifests für eine neue Cinephilie, schreibt, wie omnipräsent zum Beispiel die Darstellungen toxischer Maskulinität seien und wie selten sich jemand daran reibe: «The old cinephilia is endlessly fascinated by representations of male bad behavior: obsessive, dominating, abusive, violent. Film criticism has aided and abetted this proclivity, putting at its service an admiring language to endorse, encourage, and enshrine it. ‹Dark›, ‹twisted›, ‹provocative›, ‹edgy› are words used much more frequently to characterize cinema made by (and about) men than women. The new cinephilia is both wary and weary of this overrepresentation, which it counters by proposing a cinephilia of refusal. The new cinephile feels no desire to continue subjecting herself to the cinema of male pathology.» («For a New Cinephilia», Film Quarterly, Spring 2019)
Der von Shambu vorgeschlagenen Cinephilie der Verweigerung kann ich heute viel abgewinnen. Ich habe keine Lust mehr, mich Dario Argentos merkwürdigem Frauenbild auszusetzen, auch wenn mir dadurch die spezifische Schönheit des Giallos verborgen bleibt. Angesichts der Vergewaltigungsszenen in Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust (1980) möchte ich mir nicht länger Unerschrockenheit verordnen, und Todd Phillips’ Joker (2019) geht mir so auf die Nerven wie Godards Frauen- und Männerbild, das er von der List seiner Dekonstruktionen so verlässlich ausnimmt wie seinen Antisemitismus. Das heißt nicht, dass ich keine Filme Godards mehr schaute, es heißt vor allem, dass ich mit der automatisierten Ehrerbietung, die ihm entgegengebracht wird, nichts anfangen kann. Meine intuitiven Reaktionen und meine Affekte nehme ich heute ernster, anstatt sie im Versuch der Pseudo-Objektivität zu verdrängen. Nicht, dass die Taktik, der ich früher zuneigte, keine Vorteile gehabt hätte. Den vielen Asymmetrien begegnete ich lange, indem ich so tat, als gäbe es sie nicht. Dieses selbstbewusste Ausblenden real existierender Schieflagen funktionierte, insofern es verhinderte, dass ich mich zu sehr auf die Fragen der Repräsentation und auf den Sexismus konzentrierte. Hätte ich das getan, ich hätte riskiert, den Kopf für nichts anderes mehr frei zu haben. Eine solche Reduzierung wollte ich mir niemals antun, genauso wenig, wie ich das Kino unter einen ideologischen Generalverdacht stellen wollte. Zugleich ist ein Ausblenden, so taktisch es auch gefasst ist, immer ein Ausblenden, und manchmal ist der Status Quo zu mächtig, als dass er sich leugnen ließe.
Und genau das ist mit #metoo deutlich geworden. Seit die Verbrechen Harvey Weinsteins publik wurden, führt kein Weg daran vorbei, den Status Quo zur Kenntnis zu nehmen. Und der ist ja nicht nur in den Filmen ein Problem, er ist es auch in ihrer Produktion. Es lässt sich nicht länger leugnen, wie verbreitet sexualisierte Gewalt in der Filmindustrie ist und wie riskant Frauen und Männer leben, wenn sie es als Schauspieler*innen oder Set Designer, als Location Scouts oder Regieassistent*innen mit Leuten zu tun bekommen, die ihre Macht ausnutzen. Man weiß auch, auf wie viele Kompliz*innen sich Weinstein verließ, und die Einsicht, dass all dies nicht länger irgendwie hingenommen werden kann, sondern ein riesiges Problem darstellt, hat sich durchgesetzt. Als Roman Polanski 2009 auf der Grundlage eines internationalen Haftbefehls in Zürich festgenommen wurde, war das noch anders. Damals solidarisierten sich viele Filmemacher*innen, Schauspieler*innen und Festivalverantwortliche per Petition, von A wie Woody Allen über M wie Jeanne Moreau bis Z wie Terry Zwigoff. Sie forderten die sofortige Freilassung des Regisseurs, der 1977 ein 13 Jahre altes Mädchen zum Sex zwang und sich dem Prozess entzog, indem er die USAverließ. Zwischen jemandem wie Jafar Panahi, der in Teheran seiner kritischen Filme wegen mit Berufsverbot und Hausarrest belegt wurde, und jemandem, der sich einer Sexualstraftat schuldig gemacht hat, schien in der Logik der Petition kein Unterschied zu bestehen. Heute würde sie vermutlich weniger Unterzeichner*innen finden.
Dennoch erhält Polanski weiter Unterstützung (wie durch den Chicagoer Kritiker Jonathan Rosenbaum – siehe «Roman Polanski and The Catastrophe of Public Discourse», jonathanrosenbaum.net) und Ehrungen wie bei der Verleihung der Césars am 28. Februar 2020 in Paris. Virginie Despentes schrieb daraufhin einen wütenden Text in Libération, in dem sie die These aufstellte, Polanski sei nicht trotz, sondern wegen der Vorwürfe gegen ihn geehrt worden: «So werden an diesem Abend alle im Saal zu einem einzigen Zweck zusammengerufen: zur Bestätigung der absoluten Macht der Mächtigen. Und ihr, die Mächtigen, liebt den Vergewaltiger, sofern dieser euch ähnelt, sofern auch er mächtig ist. Dabei bewundert ihr nicht sein Talent, obwohl er Vergewaltiger ist, sondern weil er Vergewaltiger ist, anerkennt ihr sein Können und preist seinen Stil. […] Ihr wisst ganz genau, was ihr tut, wenn ihr Polanski verteidigt: Noch in eurer Kriminalität sollen wir zu euch aufblicken.» Wer Polanski auszeichnet, so Despentes, der demonstriert all jenen, die gegen sexualisierte Gewalt und deren Akzeptanz streiten, dass sie sicherer lebten, hielten sie den Mund, weil sie auf mächtige Gegner stoßen. Auf das, was an Despentes’ Text schrill und vermessen ist, hat unter anderem Elena Meilicke in einer filigranen Analyse hingewiesen («Skandal und Filmstoff», textezurkunst.de). Je abwägender und feiner die Argumentation, umso ferner rückt jedoch der Gegenstand: Der ist ja gerade die Wut beziehungsweise die Notwendigkeit der Wut, sobald eine Situation so eklatant falsch ist wie die César-Verleihung im Jahr 2020.
Die Schauspielerin Adèle Haenel, die selbst als Teenager mit den Übergriffen eines Regisseurs konfrontiert war, ließ ihrer Wut freien Lauf. Im Gespräch mit der New York Times sagte sie wenige Tage vor der Preisverleihung: «Distinguishing Polanski is spitting in the face of all victims. It means raping women isn’t that bad.» Am 28. Februar 2020 verließ sie gemeinsam mit anderen erhobenen Hauptes den Saal, so dass der Ablauf der Gala gestört war. Sie übernahm in diesem Augenblick eine Rolle, für die die Autorin Sara Ahmed den Begriff des feminist killjoy geprägt hat (bezeichnet ist damit ein Handeln in Umständen, die so verkorkst sind, dass sie nur die Rolle der Spielverderberin übriglassen – siehe feministkilljoys.com). Adèle Haenel war die Spielverderberin, der das comme il faut des sozialen Miteinanders und die vorgebliche Harmonie umso gleichgültiger waren, je weniger sie den darin enthaltenen Sexismus decken wollte. Die Geste zeitigte Wirkung, da die für die César-Vergabe zuständige Académie des Arts et Techniques du Cinéma Roman Polanski im November 2020 aus ihren Reihen ausschloss, wenn sie diesen Schritt in offiziellen Verlautbarungen auch als Teil eines Umstrukturierungsprozesses ausgab.
Bis ein anderer, nicht-sexistischer Status Quo die Gesten und Handlungen der Spielverderber*innen obsolet macht, wird noch viel von Haenels Courage nötig sein. Und solange Filme objektivierenden Logiken folgen und sich für den male gaze organisieren, ist eine Killjoy-Cinephilie keine schlechte Idee.