Kontinuierliche Tautologie Denn das Problem ist das Leben selbst: Humberto Maturana (1928-2021)
«Love constitutes the social» hatte Humberto Maturana mit dem Schwung seines kleinen drahtigen Körpers und den damals noch dunklen wuscheligen Haaren zu Beginn seines Vortrags an die Tafel geschrieben. Der Vortrag fand Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre an der FU Berlin statt. Genau weiß ich das nicht mehr. Was ich aber noch weiß, ist, dass Publikum und Atmosphäre soziologisch und nicht biologisch waren.
Woran ich mich ebenfalls noch sehr gut erinnere: wie er mit dem Rücken zum Publikum die Zungenbewegung eines jener Frösche nachmachte, mit denen seine grundlegend neuen Erkenntnisse zum Nervensystem, zum Erkennen, zum Beobachten und zu den Beobachterinnen begannen. Mit der rechten Hand hatte Maturana dabei die Fliege mit dem Finger kreisend in die Luft imaginiert und mit der linken Hand immer wieder den Zungenschlag des Frosches in die gegenläufige Richtung nachgemacht.
Was war da passiert? Maturana hatte – nachdem er an den Nervenzellen der Retina des Frosches beobachtet hatte, dass sie sich nicht asymmetrisch entsprechend den Gegebenheiten im Gesichtsfeld des Frosches ausrichteten, sondern sich immer in Überzahl in eine bestimmte Richtung orientierten – operative Eingriffe am Gehirn des Frosches vorgenommen. Und aus dem beschriebenen Ergebnis gefolgert, dass nicht die Fliege, sondern das Gehirn die Wahrnehmungen und Bewegungen des Frosches koordiniert. Und das war fast auch schon der Grund, warum ich damals an der FU zu Maturana ging.
Ich hatte gerade begonnen, als studentischer Tutor im Grundkurs Neuro- und Verhaltensbiologie zu arbeiten, und sollte nicht nur verstehen, sondern auch erklären können, was es heißt, dass Farben vom Gehirn nicht in ihrer physikalischen Eigenart gesehen, sondern errechnet werden. Dabei war ich auf die Arbeiten Maturanas zur Farbwahrnehmung von Tauben gestoßen, die auf eine für mich bis heute unübertroffene Weise erklären, was Maturana mit dem Begriff der «operationalen Schließung» beschreiben wollte.
Maturana hatte bei seinen Versuchen bemerkt, dass er die Aktivitäten der Taubenaugennervenzellen nie mit jenen der physikalisch-spektralen Komposition der Farben in Einklang bringen bzw. korrelieren konnte. Erst als er die Farben mit den Namen seiner eigenen Farberfahrung versah, stimmten die Farben und Aktivitäten der Taubenaugennerven überein. Wenn also die Aktivität der Retina, der Netzhaut, bei einer chromatischen Erfahrung mit dem Namen der Farbe, die die Beobachterin oder der Beobachter sah, korrelierte, dann arbeitete das Nervensystem als ein geschlossenes System. Wobei das System nur insofern operational geschlossen ist, als es seine eigenen Verfahrensweisen und «Verfahrensbegriffe» nur innerhalb ihrer gegebenen organischen Strukturen erschaffen kann. Ein Organismus kann nicht über seine Strukturen hinaus gehen, eine Biene kann nur, wie der Mensch und die Taube auch, mit ihren Sehstrukturen sehen. Das ist die strukturelle Determiniertheit der Organismen, die die Sensationen und Ereignisse in der Welt nur innerhalb ihrer Systeme und mit den Mitteln dieser Systeme verarbeiten können. Als Organismen aber – und das ist Maturanas kaum verstandene, weitreichende Pointe – sind sie genau auf dieser Basis für die Welt und die Evolution (in der Strukturen natürlich andauernd verändert werden können) offen. Aber wenn das Nervensystem ein geschlossenenes System ist, dann müsse, folgerte Maturana aus seinen Versuchen, auch das Phänomen der Erkenntnis sich aus der Operation des Nervensystems als eines geschlossenen Netzwerkes ergeben und könne nicht dem Erfassen der Eigenschaften einer äußeren, von der Erfahrung unabhängigen Welt entsprechen.
Man hat mit diesen kurzen Verweisen auf Maturanas Versuche an den Sehsystemen von Fröschen und Tauben die Basis seiner kompletten späteren Arbeiten zum Erkennen, zur Autopoiesis lebendiger Systeme, zur Beobachterin und zur Biologie von Liebe, Spiel und Gesellschaft zusammen, mit denen er weit über die Biologie hinaus wirkte. Und dabei ist nicht mal die Beobachterin eine nachträgliche Erfindung meinerseits. Maturana geht schon in seinen frühen Texten zu den Sehsystemen davon aus, dass «sie» wie «er» sehen können – und das macht diese Texte bis heute so angenehm lesbar, unterscheidet sie vom gewaltigen Rest.
Die sehen könnende «sie» kommt natürlich auch in Maturanas Texte, weil er seine einschneidende Studie zu den Sehsystemen zusammen mit Gisela Uribe und Samy Frank geschrieben hat, was genauso relavant ist wie das Erscheinungsjahr 1968. Denn wie Maturana in der Einführung zu seiner großartigen Aufsatzsammlung Biologie der Realität, zuerst 1998 bei Suhrkamp erschienen, schrieb, erklärt der Beobachter vor allem seine Erfahrung: «und erklärt», heißt es da, «in seinem Erklären den Beobachter und den Prozeß des Beobachtens. Was aber der Beobachter erklärt, ist seine oder ihre Erfahrung, nicht eine unabhängige Welt». Und diese eine Erfahrung, die zu erklären ist, entsteht «in seinen oder ihren Unterscheidungen in Sprache».
Wobei man sich den Ort dieser Erfahrungen so profan wie möglich vorstellen kann. Maturana lehnt nicht nur jeden transzendentalen Einfluss auf oder transzendentalen Ort über seinem Denken ab, er verweigert sich auch jeder Abwertung der sogenannten Alltagserfahrungen. Wir lebten in einer Kultur, schreibt er am Anfang zur Biologie der Realität, die die Aufgaben des täglichen Lebens abwerte, nicht nur weil sie als Aktivitäten von Menschen der niedrigen Gesellschaftsklasse betrachtet würden, sondern weil sie als Aktivitäten aufgefasst würden, für die weniger Intelligenz und Scharfsinn benötigt werde als für technische Aufgaben. Solchen Ansichten widerspricht Maturana entschieden, wie er sich generell jeder Hierarchisierung von Intelligenz als Merkmal vermeintlich höherer oder vermeintlich niederer Aufgaben widersetzt. Was vielmehr erklärt werden müsse, sei das tägliche Leben als Quelle all unserer Erfahrungen, ganz gleich wie technisch und spezialisiert sie auch immer sein mögen.
Indem Maturana die Erfahrung, also das, «was wir als Ereignis unterscheiden im Lebensprozeß, das, was uns, in uns oder um uns geschieht», als Ausgangspunkt seiner Theorie der Erkenntnis wählt, bestimmt er ihren Horizont zugleich als rein biologisch. Maturana hat seine Arbeiten immer als Beiträge zu einer Geschichte des biologischen Denkens begriffen, nie als Beiträge zu einer Geschichte des mathematischen, physikalischen, philosophischen oder gar soziologischen Denkens. Damit ist er sehr weit gekommen. Wenn auch nicht unbedingt unter Biologen. Was unter anderem damit zusammenhängt, dass er jede Reduktion gesellschaftlicher Phänomene auf physiologische und molekulargenetische Faktoren oder Ursachen ablehnte.
Das Leben begriff Maturana als kontinuierliche Tautologie, als sich immer wieder aus sich selbst erschaffenden Prozess. Das ist das, was sein berühmtester Begriff, die Autopoiesis, beschreibt. Mit auto (selbst) und poiesis (machen) als Grundbewegung des Lebendigen war aber nicht nur ein Schöpfer aus dem Spiel. Für Maturana hieß das ganz im Sinne Darwins auch, dass man das Leben nicht aus seinem Ursprung erklären kann. Der Ursprung ist viel zu lange her, als dass man ihn noch nachvollziehen könnte. Aber darum geht es im Grunde auch nicht. Denn das Problem ist das Leben selbst, das sich nicht nur immer wieder aus sich selbst heraus hervorbringt (wenn die Organismen einmal in den Prozess der Reproduktion eingetreten sind). Die Autopoiesis, die Erschaffung der Lebewesen aus sich selbst, erfolgt in Raum und Zeit. Bei schlechtem wie gutem Wetter. Weil sich die tautologischen Reproduktionen trotz geschlossener Nervensysteme nicht wie fensterlose Monaden verhalten, verändern sie sich im Wechselspiel, in ihren Relationen zur Umwelt, zu der auch die Beziehungen zu Artgenossen und anderen Lebewesen gehören.
Nach Maturana leben alle lebenden Systeme in zwei sich nicht überschneidenden Existenzbereichen. In einem, in dem sich unsere Körperlichkeit realisiert, und in einem anderen, in dem sich unsere Beziehungen realisieren. Und in dieser Unterscheidung wurde Maturana so kompliziert wie radikal, wenn es um den Menschen geht. Für ihn existierten wir Menschen im Bereich unserer Beziehungen, nicht im Bereich unserer Körperlichkeit, «auch wenn wir uns in unseren Beziehungen durch unsere Körperlichkeiten realisieren», wie er schrieb. Deshalb kann nur die Liebe das Soziale konstituieren und nicht eine Negation wie der Hass oder der Totschlag. Die Beziehungen zwischen den Menschen, als deren Basis er neben der Liebe noch das Spielen ansah, blieben für Maturana Fragen der Biologie, weil er nicht nur jeden Reduktionismus ablehnte, der unser Handeln auf natürliche Triebkräfte zurückführte, gegen die wir machtlos seien. Er verweigerte sich auch jeder transzendenten Sackgasse, ganz gleich ob sie als böser Rachegott oder als tröstender Entlaster konzipiert worden war.
«Ich kam zur Ethik und zur Biologie durch mein Verstehen unseres Operierens als lebende Systeme, nicht durch politische oder philosophische Anliegen», schrieb er in einer autobiografischen Notiz und fügte hinzu: «Wir bringen die Welt hervor, die wir leben.»
Und das heißt nicht weniger, als dass wir alle Verantwortung übernehmen müssen für unsere Handlungen – im Hinblick auf die Konsequenzen unserer Handlungen für andere menschliche Wesen und für die Zerstörung der Welt, die unser Leben ermöglicht hat. Das ist, aus der Entdeckung des Nervensystems als geschlossenem Netzwerk hervorgegangen, der bis heute radikalste biologische Welt- und Seinsentwurf für Menschen.
Humberto Romesín Maturana, der am 14. September 1928 in Santiago de Chile geboren wurde, ist dort am 6. Mai dieses Jahres gestorben.