Blick und Entzug Die neue Online-Streaming-Plattform Shasha zeigt Filme von Regisseurinnen aus Nordafrika und Nahost
Aita ist das arabische Wort für «Ruf» oder «Klage», es ist die Bezeichnung für eine traditionelle Form von Gesang und Musik in Marokko, die in umgangssprachlichem marokkanischen Arabisch gehaltenen Texte sind oft sozialkritisch kodiert. Die Aita-Gruppen können gemischt sein, die Instrumente werden in der Regel von Männern gespielt, Gesang und Tanz, also das, was im Vordergrund steht, sind Sache von Frauen. Eine der berühmtesten Aita-Sängerinnen war Fatna Bhent Loucine, 1935 geboren, 2005 gestorben, eine Legende, über die es einen winzigen Wikipedia-Eintrag in englischer Sprache gibt, etwas länger ist der auf Arabisch, den mir Google Translate halbwegs in Verständliche übersetzt. Noch länger ist der Eintrag in marokkanischem Arabisch, hier aber streckt sogar Google Translate die Waffen und macht mir kein Übersetzungsangebot mehr: Ich habe eine Fremde erreicht, die sich auch mit den avancierten Mitteln algorithmischer Vermittlung nicht mehr aufschließen lässt.
Über all das, über Aita, über Fatna Bhent Loucine, auch darüber, dass es inzwischen auch eine Aita-Band aus acht Männern, Cabaret Al-Shaikhat, die als Crossdresser auftreten, gibt, wusste ich nichts. Auch dass Marokkanisch-Arabisch so eigenständig ist, dass es in der Wikipedia als eigene Sprache geführt und, wie ich beim Weiterlesen erfuhr, auch von mancher Linguistin als solche einsortiert wird, war mir nicht bekannt.
Ich stieß auf all das, weil Izza Genini 1988 einen Film über Aita, vor allem über die Gruppe der Sheikhats um Fatna Bhent Loucine gedreht hat. Izza Genini, 1940 in Marokko geboren, lebt und arbeitet als Regisseurin und Produzentin seit 1960 in Paris. In den 70er Jahren gründete sie gemeinsam mit Louis Malle die Filmgesellschaft «Club 70» und die SOGEAV zur Förderung von Produktion und Vertrieb nordafrikanischer Filme, der von ihr produzierte Film Trances (1981), Regie: Ahmed El Maânouni, wird 2007 zum ersten von Martin Scorseses World Cinema Foundation restaurierten Film. Aita, so der Titel des Films (S. 59, oben), den ich sah, steht in einer Reihe von fast zwanzig Dokumentationen zu marokkanischer Musik, die sie seit 1987 gedreht hat. In Aita sieht man Fatna Bhent Loucine bei Auftritten, zentral ist einer im Rahmen des traditionellen Moussem von Moulay Abdellah Amghar, einer Fest-Versammlung an der westmarokkanischen Küste, bei der unter anderem auch eine Reihe von beduinisch gekleideten Reitern vor Publikum auf einer Arena dahinjagt und am Ende der Bahn kollektiv die Gewehre abfeuert.
Auf Fatna Bhent Loucine, auf Izza Genini, auf Aita, auf all das und noch viel mehr wiederum kam ich nur, weil ich im März ein Abo der neuen Streaming-Plattform Shasha abgeschlossen habe; Girish Shambu hatte auf Facebook darauf verwiesen. Shasha existiert erst seit Februar, monatlich wechselt das Programm von je zwanzig Filmen. Die Filme haben alle einen Bezug zum SWANA-Raum (also South West Asia and North Africa), sie sind kurz und lang und auch mittellang, sie sind neu, sie sind alt, sie sind in der Mehrzahl dokumentarisch, sie sind weltweit abrufbar (theoretisch, denn technisch hakt es noch, manche Filme brechen, bei mir jedenfalls, plötzlich ab, manche lassen sich gar nicht erst starten), sie sind englisch untertitelt und es führen ausschließlich Frauen Regie. Hinter dem Streaming-Projekt steht ein Kollektiv von befreundeten Kuratorinnen, vor allem aber Róisín Tapponi, in London basierte irakischstämmige Irin, die seit einigen Jahren vielfältige Grassroots-Aktivitäten zum Empowerment von Frauen aus der SWANA-Region entfaltet. Sie kommt von der Vergleichenden Literaturwissenschaft, ist als Kuratorin, Archivarin, Kritikerin-Autorin (für Frieze) und manches mehr unterwegs. Seit mehreren Jahren vernetzt sie unter dem Dach des Habibi Collective Filmemacherinnen, Kuratorinnen und so weiter, sie hat ein Online-Kunst-Journal mit dem Titel Art Work Magazine gegründet, und jetzt eben, das alles auf Basis von Spenden und Selbstausbeutung, ohne Finanziers im Hintergrund, Shasha.
Keine der Regisseurinnen der zwanzig Filme, die dort im Mai streamten, war mir bekannt. Nicht Habiba Djahnine, die in Letters to My Sister von 2006 an ihre Schwester Nabila erinnert, eine feministische Aktivistin in der kabylischen Stadt Tizi-Ouzou, dort 1995 ermordet. Djahnine, die Regisseurin, fährt zehn Jahre später durch bergige Landschaft in den Ort, poetisch und schön ist der Text, mit dem sie die Tote adressiert. Sie spricht mit einstigen Weggefährtinnen, mit Frauen, die ihr viel zu verdanken haben, sie preisen und ihren Mut, eine Kraft des Guten, die von anderen Kräften zum Schweigen gebracht worden ist.
Auch Lamia Joreige kannte ich nicht, die in A Journey die Geschichte ihrer Familie einsammelt, von ihrer Großmutter Tati Rose, 1910 in Jerusalem geboren, nach ihrer Heirat schon 1930 nach Beirut gezogen. Der Rest der Familie, darunter ihre Schwester, wurde 1948 im Zuge der Nakba aus Jaffa vertrieben, gelangte ebenfalls in den Libanon. Der Film verbindet historische Fotos mit Videomaterial, in dem die Großmutter erzählt. Eine Schrifttafel ganz zu Beginn erläutert, der Film sei einen Monat vor Beginn des Libanon-Kriegs fertiggestellt worden, der in seiner Bedeutung für den Nahost-Konflikt auch die Bedeutung der Familiengeschichte, in der sich die Geschichte der Region spielt, verschiebt.
In fast jedem der arabischen Filme spielt der israelisch-palästinensische Konflikt eine Rolle. Zentral, und schwer zu ertragen, in gleich zwei Filmen von Arab Lotfi, Feministin, Marxistin, Filmemacherin und Filmkritikerin, 1953 im Südlibanon geboren, seit den 80ern in Ägypten arbeitend, lebend. Die beiden Filme, Jamila’s Mirror (1993) und Over Their Dead Bodies (2007), sind Frauen im bewaffneten Kampf gegen Israel gewidmet, Terroristinnen, die sich, heute ebenfalls im Libanon lebend, an die von ihnen als Teenagerinnen verübten Attentate erinnern. Die Perspektive ist in allen der arabischen Filme, nicht überraschend, aber in der dogmatischen Geschlossenheit doch sehr irritierend, die der globalen propalästinensischen Linken: Israel ist völlig unhinterfragt der kolonialistische Staat, Palästina steht im Befreiungskampf, in dem alle Mittel gerechtfertigt sind.
Im schönsten der Mai-Filme auf Shasha, Zeinab on the Scooter (2019) von Dima el Horr, spielt die Politik im Vordergrund keine Rolle. Die Filmemacherin porträtiert Zeinab, eine junge Frau, die in Beirut lebt und die ihr aufgefallen war, weil sie als Frau mit Kopftuch auf dem Moped in den überfüllten Straßen eines muslimisch dominierten Stadtteils unterwegs war. Sie war, meint sie selbst, zu dem Zeitpunkt die einzige muslimische Frau, die das wagte. Sie hat das Moped angeschafft für den Job, sie arbeitet bei einer Firma, die Mikrokredite gegen Bürgschaft vergibt. Für nicht-libanesische Staatsbürger fast die einzige Chance, an Geld zu kommen; einen syrischen Flüchtling lernt man kurz kennen, und einen Palästinenser. Zeinab ist Schiitin, lebt bei ihrer Mutter, ist fromm, aber emanzipiert, äußert sich frank und frei im Gespräch mit der Regisseurin, sie ist selbstbewusst geschminkt, bis dann Ibrahim auftaucht, ihr Freund, der sich über die Schminke und darüber, dass das Kopftuch eine Stelle an ihrem Hals freilässt, beschwert.
Der Film fasziniert mich, obwohl oder weil er nicht an mich adressiert ist. Weil er nichts weiter erklärt, weil mir die Codes, Regeln dieser Welt so fremd sind, dass ich oft nicht einschätzen kann, wie normal oder außergewöhnlich das ist, was ich jeweils sehe. Im Fernseher erklärt ein Prediger den Krieg im Jemen, es wird nicht erläutert, wer das ist, zufällig sehe ich später beim Versuch, noch einmal möglichst viel über den Israel-Palästina-Konflikt in Erfahrung zu bringen, auf einer Website ein Bild und bin nun ziemlich sicher: Der bärtige Mann im Fernseher ist der Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah.
Es sind marginale Filme, die Shasha der Weltöffentlichkeit präsentiert, auch Iranian Journey gehört dazu, eine Dokumentation aus dem Jahr 2000 über die erste Frau, die im Iran einen Langstreckenbus fährt. Sie ist nicht mehr jung, die irakische Filmemacherin Maysoon Pachachi begleitet sie auf einer Fahrt von Teheran bis weit in den iranischen Süden. Auf eher unbeholfene, aber je für sich wieder interessante Weise sammelt sie dabei Bilder und Stimmen aus den Orten, die der Bus auf seiner Fahrt durchquert. Das landet irgendwo zwischen Doku, Bildungsfilm und Tourismus, aber ohne viel Exotismus im Blick auf das Fremde.
Ein solcher Film, wie fast alle auf Shasha, hat keine Chance (und sucht sie auch nicht, da es um anderes geht) auf eine Karriere auf den internationalen Großfestivals, aber auch im Netz sind sie sonst kaum aufzutreiben, selbst bei den Torrent-Trackern nicht, die sonst alles haben. Sie fallen durch die kommerziellen Raster, das sowieso, aber da sie auch ästhetisch kein Neuland erschließen, sich nicht auteuristisch aufwerten lassen, bleiben als Publikum nur jene, die sich für die Region, ihre Geschichte, für Schicksale, Menschen, den Aktivismus, für die Welten interessieren, von denen jede dieser Regisseurinnen in ihrem Film etwas festhält. Sie laden dazu ein, etwas über die meist muslimischen Gesellschaften zu erfahren, in die sie Einblicke geben. Ich sehe sie und weiß, dass mein Wissen zum Urteil nicht hinreicht. Ich lerne, und urteile nicht.
Selber geografischer Raum, anderer Schauplatz. Kaum war der jüngste Palästina-Israel-Konflikt losgebrochen, stellte das feministische Filmmagazin Another Gaze, desse Print-Ausgabe einmal jährlich erscheint, eine kuratierte Auswahl mit Filmen palästinensischer Filmemacherinnen online. Den eigenen Online-Vorführraum hatte sich Another Gaze unter dem Namen Another Screen erst unlängst zugelegt. Ebenfalls ohne Finanzier, mit dringenden Aufrufen zum Funding durch die Zuschauerinnen. Regulär war im Mai eine Reihe zu Marguerite Duras und dem Fernsehen zu sehen, die palästinensischen Filmemacherinnen kamen aus aktuellem Anlass dazu.
Die Anmutung der Seite ist eine andere als bei Shasha, slicker designt, präziser eingeordnet (auch hier auf Englisch und Arabisch), auch die Auswahl ist anders, Überschneidungen zu Shasha gibt es nicht. Was man hier sieht, ist alles deutlich im Kontext meist westlicher Kunsträume entstanden, von einschlägigen Institutionen gefördert, ambitioniert ans avancierte Galerie- und Biennalenpublikum adressiert, nicht die wilde Mischung der Produktionskontexte der Shasha-Filme. Es ist nicht nur von Vorteil, dass sich, was ich hier sehe, den üblichen Kunsterfahrungen leichter assimilieren lässt. Die kuratorischen Texte lesen sich wie kuratorische Texte: «Canada Park is an experimental video poem exploring the politics of dis/appearance of Palestine as narrativized, mapped and imaged in Google Streetview and early 20th century colonial landscape photography of the ‹Holy Land›.» Und die Filme, in diesem Fall von Razan al-Salah, sehen dann oft genug auch so aus: Die avancierte Formsprache gehorcht mit ihrer Produktion von Offenheit und Ambivalenz den International-Art-Language-Vorgaben oft genug aufs Wort.
Denke ich, und sehe mir die Auswahl der Filme von Rosalind Nashashibi an, einer Künstlerin, die im Westen aufgewachsen ist, in London lebt, ihr Vater war Palästinenser, einer Künstlerin, die ich kennen würde, wäre ich mehr als nur ein flüchtiger Kunstraum- und Biennalen-Besucher: Sie war für den Turner Prize nominiert, bespielte für Schottland die Venedig-Biennale. Drei kürzere Filme (nicht länger als 20 Minuten) sind auf Another Screen zu sehen, alle grandios, auch weil die Form der Beobachtung hier den Gegenstand nicht überlagert, sondern ihn, wie es sich gehört, präzisiert. Die Filme sind ohne Untertitel, das Arabisch, das man hört, wird nicht übersetzt – womit Nashashibi, die nicht Arabisch spricht, ihre eigene Fremdheit markiert, aber, da das Gesprochene stets im Hintergrund bleibt, auch nicht überakzentuiert.
Electrical Gaza (2015) bietet Eindrücke von einem Besuch der Regisseurin im Gaza-Streifen. Sie rückt dabei nicht sich selbst, aber ihre Entourage, den Übersetzer und den «Fixer» ins Bild. Sonst sieht man vor allem Bilder eines Alltags, Männer dominieren, und Kinder. Der Film behauptet kein Wissen, der Schnitt ist pointiert, der Musik- und Sound-Einsatz raffiniert, ohne dass sich der Umgang mit dem Material je gewaltsam anfühlt. Vor allem aber nimmt Nashashibi mehrfach eine Verdopplung vor: Einzelne Szenen sieht man erst im Realfilm, dann in einer verfremdeten Version, als Animation. (S. 59, unten) Realszene und Animation stimmen aber nicht ganz überein. Die Animation verschiebt die Atmosphäre in ein Irreales: eine profane Entrückung, als quasi-mythischen Ort hat die Regisseurin Gaza, wie sie im Interview sagt, selbst erlebt. Sie erfindet in der Animation selbst Dinge hinzu, wenngleich nur im Detail. Da ist, zum Beispiel, ein Hund wo keiner war. Diese Verfremdung, so leicht sie ist, fällt auf das Reale zurück: als eine temporäre Aufhebung, die dann tatsächlich den Blick öffnet, die Bilder aus der Behauptungsform in eine Schwebeform überführt und so einem politischen Konfliktfeld, das einen brutalen Positionierungsdruck ausübt, nicht eskapistisch, sondern tatsächlich auf genuin ästhetische Weise entzieht.